U. Rublack: Der Astronom und die Hexe

Cover
Titel
Der Astronom und die Hexe. Johannes Kepler und seine Zeit


Autor(en)
Rublack, Ulinka
Erschienen
Stuttgart 2018: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
409 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Bendlage, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Wer heute Eltingen (Leonberg) besucht, trifft auf ein Denkmal, das an die bekannteste Bewohnerin der Gemeinde erinnert: Katharina Kepler, Mutter des berühmten Astrologen Johannes Keppler (1571–1630), die in Gestalt einer jungen Schnitterin verewigt wurde. Dass sich diese einfache Frau in die Geschichte der Gemeinde einschreiben konnte, hat sie jedoch nicht (nur) ihrem Sohn zu verdanken, auch sie selbst hat Spuren hinterlassen. Ulinka Rublack ist diesen Spuren von Katharina Kepler und ihrer Familie nachgegangen. Herausgekommen ist ein (nun auch in gelungener deutscher Übersetzung vorliegendes) ebenso beeindruckendes wie spannendes Buch über eine Familie, die sich Anfang des 17. Jahrhunderts plötzlich in einem lebensbedrohenden Konflikt in einer Zeit – kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg – wiederfindet, in der aufgeklärte Naturwissenschaften, Aberglauben, wirtschaftliche Krisen und Hexenverfolgungen aufeinanderprallten und in der das soziale Gefüge eines Dorfes oder einer Stadt schweren Turbulenzen ausgesetzt war. Aus dem in den Leonberger Akten dokumentierten Prozess gegen Katharina Kepler entwirft die in Cambridge lehrende deutsche Historikerin das detailreiche Bild einer Epoche und ihrer Akteure, die die Zumutungen und Herausforderungen einer Gesellschaft im Umbruch zu bewältigen hatten und deren Auswirkungen Nachbarschaften und Familien entzweiten.

Der Erzählweg, den Rublack beschreitet, ist nicht geradlinig auf das Gerichtsverfahren gerichtet, sondern führt über vielfältige Nebenstrecken und Schleifen zum Mittelpunkt der Erzählung, dem Hexerei-Vorwurf gegen Katharina. Die Autorin beginnt zunächst mit der Beschreibung der politischen und gesellschaftlichen Situation in Württemberg während der Hexenverfolgungen und damit, was Hexenfurcht und Aberglaube in einer Familie anrichten konnten. Die Biographie Katharina Keplers steht für die vieler Frauen, deren Handlungsräume durch Ehe, Geburt, Krankheit und Existenzsorgen bestimmt oder aber auch begrenzt wurden. Katharinas Ehe mit einem Mann, der sich der Familie immer wieder entzog und sie im Grunde schon zu seinen Lebzeiten zur „Witwe“ machte, war schwer und entbehrungsreich, und doch gelang es ihr, allein für den Lebensunterhalt ihrer vier Kinder aufzukommen und schließlich ein auskömmliches Leben zu führen. Ihre Welt wurde jedoch im Jahre 1615 durch Anschuldigungen, sie habe mit einem selbstgebrauten Trunk etlichen Menschen Schaden zugefügt, in den Grundfesten erschüttert. Diese Bezichtigung sollte die Familie über sechs Jahre hinweg in Atem halten. Die Vorwürfe und Gerüchte hatten auch in ihrem Fall, wie so häufig, ihren Ursprung in einflussreichen Gruppen ihres sozialen Umfeldes (und einem neuen und übereifrigen Vogt), die Unglücksfälle, Erkrankungen und allgemeine Krisen zu erklären suchten, indem sie Hexen dafür verantwortlich machten.

Als den zu dieser Zeit schon berühmten Sohn Johann Kepler die Vorwürfe im fernen Prag erreichten, unterbrach er seine wissenschaftlichen Arbeiten und kehrte zur Verteidigung der Mutter nach Hause zurück. Das war für ihn nicht ohne Risiko, denn in der Frühen Neuzeit war eine wissenschaftliche Laufbahn, auch das beschreibt Rublack eindrücklich, ohne Mäzenatentum und gelehrte Netzwerke nur schwer möglich, denn „wenn er andere beeindrucken und die eigene Karriere fördern wollte, waren sein Geschick als gewinnender Höfling und seine praktischen Kenntnisse mindestens genauso wichtig wie sein Ruf als ein Gelehrter, der in der Lage war, Gottes Universum zu ergründen“ (S. 139). Auch seine Welt geriet mit den Anschuldigungen gegen seine Mutter ins Wanken, eine Welt, die schon allein aufgrund der konfessionellen Spannungen – Kepler war evangelisch – ständig gefährdet war. Der Blick auf die innerfamiliären Konflikte der Keplers, das ambivalente Verhalten des jüngsten Sohnes – er hatte die Mutter selbst einmal im Zorn als Hexe bezeichnet und sah seinen wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg durch das Verfahren gefährdet –, werfen einen Blick auf die große Bedeutung von Familie und Nachbarschaft und ihre besonderen Regeln für das Zusammenleben. Dieses verlangte besonders von alleinstehenden Frauen ein hohes Maß an Regelkonformität (S. 169). Die Verteidigung seiner Mutter ging Johannes Kepler wie ein wissenschaftliches Projekt an. Sein wichtigstes Instrument war die Sprache, weshalb er durchsetzte, dass das Verfahren schriftlich geführt wurde. Er machte sich mit den wichtigsten Schriften und Argumenten des zeitgenössischen Hexendiskurses vertraut und suchte den Kontakt zu einflussreichen Akteuren (Christoph Besold, Matthias Bernegger, Martin Delirio und Wilhelm Schickard). Kepler zeigte einmal mehr, dass auch im Verfahren seiner Mutter nicht der unbedingte Verfolgungswille der Landesherren, sondern häufig die fragwürdige oder ungeschickte Handhabung durch lokale Richter für die fatale Dynamik von Hexenprozessen verantwortlich war.

Das Besondere an der Studie von Rublack ist, dass es ihr auf überzeugende Weise gelingt, Brücken zwischen den unterschiedlichen (Lebens-)Welten der Familienmitglieder und ihren persönlichen Beziehungen zu schlagen, die zuweilen mehr trennte als verband (S. 180). Die Gründe für die Beschuldigungen sah der Sohn in der sozialen Situation seiner Mutter, einer alleinstehenden, alten Frau, die sich mit Kräuterkunde auskannte und in den Häusern ein- und ausging. Das Verhalten der Mutter befremdete den berühmten Sohn, der in einer gänzlich anderen Welt lebte, und es machte sie darüber hinaus verletzlich für Hexerei-Anklagen. Kepler entkräftete die zum Teil abstrusen Anschuldigungen mit der gleichen Präzision und Beobachtungsgabe, mit der er auch wissenschaftliche Irrtümer widerlegte. Er argumentierte jedoch auch in den traditionellen Geschlechterstereotypen der Zeit, wenn er in seinen Verteidigungsschriften auf die weibliche Unvernunft und Geschwätzigkeit seiner Mutter hinwies, sich dabei auch nicht scheute, den Grund für die Boshaftigkeit der Anklägerin in ihrer Kinderlosigkeit zu suchen und sie damit gleichfalls in die Nähe einer Hexe zu rücken. Überhaupt hielt der berühmte Sohn deutlichen Abstand zur Welt der Frauen (S. 191). Der erste Prozess mit umfangreichen Zeugenbefragungen veranschaulicht einmal mehr, was es für ein Opfer bedeutete, wenn langsam aber stetig die für Hexenanklagen häufig tödliche Gemengelage aus Gerede und Gerüchten in konkrete Anschuldigungen und Gerichtsverfahren mündete, auch weil Beleidigungen und Unglücke über Generationen hinweg erinnert wurden (S. 234f.).

Keplers Denken und seine Vorstellungen von Geschlecht, Harmonie und der Evidenz von Beobachtung waren ihm die wichtigsten Bezugspunkte für die Verteidigung seiner Mutter. Die harmonische Herrschaft und die Frage der Gerechtigkeit waren für ihn letztendlich die Leitfrage für die Legitimität einer Regierung. Das Verfahren seiner Mutter wurde damit auch zum Bedeutungsträger für das Land Württemberg stilisiert. Anders gewendet: Will man das Wirken Keplers in seiner Ganzheit verstehen, so Rublack, muss man auch auf die Beziehungen zu seiner Familie schauen (S. 293f.). Erst am Schluss erfährt der Leser schließlich, wie es Katharina Kepler erging. Nach 14 Monaten Haft wurde sie wieder auf freien Fuß gesetzt und von den Anschuldigungen freigesprochen. Sie überlebte ihren Freispruch jedoch nur wenige Monate (S. 325). Dass weder auf dem Denkmal noch in aktuellen Broschüren der Gemeinde ein Hinweis auf den Prozess und dessen Weiterungen zu finden ist, wirft ein interessantes Licht auf die bis heute andauernde ambivalente Rezeption Katharinas. Das Denkmal, das 1938 im Auftrag der Nationalsozialisten entstand und die Wehrhaftigkeit und Stärke der Keplerin als junge Frau in Szene setzt, an der sich die neue Bewegung ein Beispiel nehmen sollte, führte, so die Autorin, eine Tradition fort, in der alternde Frauen keinen Platz und häufig auch keine Stimme hatten: und noch heute finden sich Publikationen, in denen sie als „hexenartig“ dämonisiert werde (S. 356).

Die Autorin verbindet in ihrem Buch fundiertes Fachwissen mit anglo-amerikanischer Erzähltradition und macht ein komplexes wissenschaftliches Thema für ein allgemeines Publikum zugänglich. Sie erschließt frühneuzeitliche Lebenswelten, die weit über den Rahmen einer mikrohistorischen Studie zum Leben in der Stadt Leonberg im 17. Jahrhundert hinausweisen. Diese hat inzwischen sogar zu einer Oper inspiriert.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension