D. Edgerton: The Rise and Fall of the British Nation

Cover
Titel
The Rise and Fall of the British Nation. A Twentieth-Century History


Autor(en)
Edgerton, David
Erschienen
London 2018: Allen Lane
Anzahl Seiten
XXIX, 681 S.
Preis
£ 30.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Almuth Ebke, Historisches Institut, Universität Mannheim

Seit bald 30 Jahren prägt der britische Historiker David Edgerton die britische Zeitgeschichtsschreibung mit einer Reihe von grundlegenden Werken, deren Ziel es ist, mit lieb gewonnenen, doch überkommenen Ansichten über das Vereinigte Königreich aufzuräumen. In seinem jüngsten Buch trifft dies die Vorstellung der britischen Nation. In The rise and fall of the British nation wird diese nicht als „natural state of affairs“ (S. xx) betrachtet, sondern als etwas, das sowohl erschaffen wurde, als auch Konjunkturen unterlag. Der Aufstieg der britischen Nation zur Leitkategorie im frühen 20. Jahrhundert, ihre Hochphase von circa 1945 bis 1970 sowie ihr Fall seit den 1980er-Jahren zeichnet Edgerton im Rahmen einer breit angelegten Synthese britischer Geschichte des 20. Jahrhunderts nach. Dazu baut Edgerton seine bisherigen Forschungen zur britischen Industrie-, Technik- und Managementgeschichte aus und erweitert sie um soziale, militärische, politische und wirtschaftliche Aspekte. Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: Der erste Teil behandelt die Zeit von 1900 bis 1950, der zweite die Zeit von 1950 bis in das Jahr 2000. Gängige politische Zäsuren wie die des Ersten und Zweiten Weltkriegs werden auf diese Weise bewusst transzendiert.

Im ersten Teil des Buches setzt Edgerton dazu an zu erklären, wie die britische Nation nach 1945 aus den globalen Strukturen des britischen Empire und der auf Freihandel ausgerichteten Wirtschaft entstehen konnte. Bis 1950 habe sich die britische Nation zum leitenden Prinzip in der Organisation von Wirtschaft, Industrie und Politik entwickelt, vergangener Kosmopolitismus und Imperialismus seien zurückgewiesen, industrieller Protektionismus praktiziert und landwirtschaftliche Selbstversorgung propagiert worden. Auch das Sozialsystem und das politische Denken seien auf die britische Nation ausgerichtet worden. Der Dekolonisationsprozess habe zu der Entwicklung eines Nationalismus geführt, der die Vorstellung einer imperial begründeten Staatsangehörigkeit zurückgewiesen habe. Dieses nationale Moment in der britischen Geschichte sei zusammengefallen mit einer Ausweitung staatlicher Kompetenzen, die dazu führten, dass der britische Staat durch die Einführung der Wehrpflicht, die Entwicklung eines nationalen Landwirtschaftssektors sowie einer teils verstaatlichten, jedoch generell durch die Regierung geschützten Industrie zunehmend aussehen sollte wie seine kontinentalen Nachbarn.

Edgertons Studie ist deutlich revisionistisch angelegt: Nahezu jedes seiner 20 Kapitel ist auf die sorgsame Widerlegung einer hergebrachten – wenn auch nicht immer aktuellen – Forschungsmeinung ausgelegt. So finden sich Kapitel, die die Vorstellung eines absoluten wirtschaftlichen Niedergangs des Landes entkräften und den Erfolg der Fertigungsindustrien bis 1970 betonen. Andere dekonstruieren die Ideologie des „techno-nationalism“ und „invention chauvinism“, also der Vorstellung, dass das Vereinigte Königreich an Erfindungskraft anderen Nationen überlegen sei, oder widerlegen den aus dem Zweiten Weltkrieg stammenden Mythos des „standing alone“. Erwähnung findet in diesem Kontext auch Edgertons bereits früher publizierte These zum „warfare state“, in der die Höhe der Verteidigungsausgaben bis zum Ende des Kalten Krieges negativ mit den im Vergleich niedrigeren Ausgaben für den National Health Service (NHS) kontrastiert wurden. Gerade die Labour Party wird von Edgerton als die Partei identifiziert, die in besonderem Maße durch nationale Politik bekannt geworden sei, beispielsweise durch die Verstaatlichung von Industrien und Infrastruktur sowie der Errichtung des britischen welfare state, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs das bestehende wohlfahrtsstaatliche System für die Arbeiterklasse als universale Wohlfahrt für die gesamte Nation ausgeweitet habe. Gerade letzteres Beispiel belege, dass die britische Arbeiterpartei ideologisch die Nation der Klasse übergeordnet habe.

Edgertons Darstellung ist weniger innovativ darin, dass er die Hochphase des britischen Nationsdenkens in der Mitte des 20. Jahrhunderts verortet – hierfür hatte nicht zuletzt Christopher Harvie bereits im Jahr 2000 argumentiert.1 Die Stärke seines Ansatzes liegt in der Grundthese, dass die Geschichte von Wirtschaft, Industrie, Sozialsystem und politischem Denken auf struktureller und ideeller Ebene im Verlauf des 20. Jahrhunderts unterschiedlichen Ordnungsprinzipen folgte: vom Globalen des frühen 20. Jahrhunderts zum Nationalen der mittleren Dekaden, bevor das letzte Drittel erneut vom Globalen geprägt war. Auf diese Weise setzt Edgerton dazu an, nicht nur methodischen Nationalismus zu überwinden, sondern auch bestehende Leerstellen zu füllen, allen voran der Geschichte der britischen Wirtschaftseliten. Edgerton setzt sich damit spielerisch über die Narrative von „Decline“ und Konsens hinweg, die in den vergangenen Jahren oft die großen Linien der britischen Geschichte vorgegeben hatten, und nimmt zugleich einen wichtigen Schritt zur Europäisierung der Geschichte des Vereinigten Königreichs vor. Ohne es selbst zu erwähnen, liefert Edgerton durch die Analyse des Nationalen zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren auch einen Beitrag zur Historisierung der Boomphase.2

Liegt die Stärke der Arbeit in der Zusammenschau von Wirtschaft, Industrie und politischem Denken, zeigen sich gerade hier auch ihre zentralen Schwächen. Edgerton bewegt sich deutlich sicherer auf dem Parkett der Wirtschafts-, Industrie- und Sozialpolitik als in der Diskussion politischer Ideologien, die jedoch – folgt man seinem Ansatz – gerade im Mittelpunkt seiner Analyse stehen müssten. Schwäche zeigt sein Argument vor allem dann, wenn es um die Auflösung der Prägekraft der britischen Nation ab den 1970er-Jahren geht. Vor allem im Bereich der Volkswirtschaft seien ab diesem Zeitpunkt jene Barrieren wieder gefallen, die das Vereinigte Königreich von anderen Nationen getrennt hätten. Die britische Volkswirtschaft habe sich so wieder dem Zustand zu Beginn des 20. Jahrhunderts angenähert, in der eine global orientierte Wirtschaft und die Ideologie des Freihandels vorgeherrscht habe. Ein besonders schlechtes Zeugnis stellt Edgerton in diesem Kontext den Regierungen Margaret Thatchers, Tony Blairs und Gordon Browns aus. Indem der Bedeutungsverlust der britischen Nation als Richtschnur für Politik, Wirtschaft und Industrie vor allem als eine wirtschaftliche Liberalisierung seit den 1980er-Jahren beschrieben wird, sitzt der Autor jedoch gängigen Narrativen von „Globalisierung“ und „Neoliberalisierung“ auf. Damit unterschätzt Edgerton allerdings gleichzeitig die Prägekraft nationaler Institutionen und Praktiken.

Durch diese Engführung geraten zudem Entwicklungen aus dem Blickfeld, die die Diskussion des Nationalen seit den 1970er-Jahren grundlegend geprägt haben. Die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Prozessen von Migration sowie die größere politische Schlagkraft von schottischem und walisischem Nationalismus werden von Edgerton zwar erwähnt, treten aber gegenüber der Schilderung von Wirtschaft und Industrie in den Hintergrund. Angesichts der seit den späten 1980er-Jahren andauernden akademischen und öffentlichen Diskussionen um die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft der britischen Nation erscheint es nicht vollends überzeugend, von ihrem Fall zu sprechen, sondern eher von einem Prozess der Neuaushandlung. Möglicherweise hätte an dieser Stelle eine genauere Definition des Begriffs von Nation geholfen: Denn dafür, dass die britische Nation das Leitmotiv darstellt, bleibt sie in der Analyse doch relativ unscharf: Sie wird mal als Synonym für britischen Nationalismus, mal als Diskurs, mal als Sozialordnung verwendet, und bleibt damit auch nach der Lektüre des Buches schwer fassbar.

Diese Einschränkungen sollen jedoch nicht die Leistungen des Buches schmälern. Edgerton liefert mit seiner Gesamtdarstellung der britischen Geschichte des 20. Jahrhunderts einen wichtigen Forschungsbeitrag, der ein wenig behandeltes Thema aufgreift und die Diskussion um die weitere Verortung der Geschichte des Vereinigten Königreichs prägen wird.

Anmerkungen:
1 Christopher Harvie, The moment of British nationalism, 1939–1970, in: The Political Quarterly 71 (2000), S. 328–340.
2 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 2., erg. Aufl. Göttingen 2010 (1. Aufl. 2008).