O. Nicholson (Hrsg.): The Oxford Dictionary of Late Antiquity

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Titel
The Oxford Dictionary of Late Antiquity. Volume 1: A–I; Volume II: J-Z


Herausgeber
Nicholson, Oliver
Erschienen
Anzahl Seiten
Bd. 1: LXXXIII, 800 S.; Bd. 2: XI, S. 801-1637
Preis
£ 195,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Raphael Brendel, München

Das hier zu rezensierende Lexikon möchte „easily accessible information“, geordnet in alphabetischer Reihenfolge, zu „history, religion, literature, and physical remains“ für die Zeit von der Mitte des 3. bis zum 8. Jahrhundert in Europa, Nordafrika, West- und Zentralasien bieten (S. VI) und hebt damit die Spätantike als eine besondere Epoche heraus. Die Struktur des Oxford Dictionary of Late Antiquity (ODLA) ist klassisch: Nach den vorangestellten allgemeinen Informationen (S. VI–VIII Vorwort, S. IX–X Danksagung, S. XI Inhaltsverzeichnis, S. XIII Herausgeber, S. XV–XXXV Kurzbiographien der Autoren, S. XXXVII–XL Autorenkürzel, S. XLI–XLII allgemeine Abkürzungen, S. XLIII–LXXX bibliographische Abkürzungen und S. LXXXI–LXXXIII Hinweise für den Leser) folgen die einzelnen Artikel, verfasst von knapp 500 Autoren. Die beiden opulenten Bände sind durchgehend paginiert. Der erste Band enthält die Stichworte von A bis I (S. 1–800), der zweite nach erneutem Abdruck zentraler Vorbemerkungen (S. VII–VIII allgemeine Abkürzungen, S. IX–XI Hinweise für den Leser) den Rest des Alphabets (S. 801–1616) sowie Herrscher- und Bischofslisten (S. 1619–1637). Die Lemmata sind von einer beeindruckenden Breite, sie erfassen Personen, Ethnien, Orte und Sachbegriffe aus den verschiedensten Themenbereichen von der Geschichte über die Religion und die Philosophie bis zur Archäologie, wobei vor allem in zeitlicher wie in geographischer Hinsicht auch von der Altertumswissenschaft bislang kaum beachtete Bereiche abgedeckt werden. Die Autoren blicken so etwa auch in die Zeit des frühen Islams sowie nach Indien und China.

Nachfolgende Ausführungen sind das Ergebnis einer Prüfung von fast hundert Artikeln, vorwiegend zu Geschichte und Historiographie des nachkonstantinischen 4. Jahrhunderts, aber auch zu lose damit verknüpften Themen. Das Ergebnis fällt, um dies vorauszuschicken, für die einzelnen Artikel sehr unterschiedlich und insgesamt eher negativ aus. Manche Artikel bieten einen veralteten oder unvollständigen Forschungsstand: Die Charakterisierung des Anonymus de rebus bellicis als Autor „writing between AD 337 and 378“ (S. 80) übergeht jegliche Ansätze für Datierung in die Zeit des Theodosius I. oder ins 5. Jahrhundert; der letztgenannte Ansatz wurde eingehend in der (nicht genannten) Dissertation Brandts vertreten.1 Bei Eunapios (S. 562) wird Sozomenos als Nutzer von dessen Werk genannt, obwohl das längst bezweifelt wird; zudem lesen sich die Ausführungen über den Stil seines (fragmentarisch erhaltenen) Geschichtswerkes wie die Angriffe seiner spätantiken Kritiker, und im Literaturverzeichnis sucht man die neueren Editionen der Sophistenviten ebenso vergeblich wie die Namen fast aller zentralen Forscher (Baldini, Banchich, Buck, Paschoud). Im insgesamt nicht schlechten Artikel zu Gallienus (S. 639) ist ein Aufsatz von 1943 zitiert, nicht aber die Dissertation Geigers; ebenso fehlt im Artikel zu Valerian (S. 1548f.) die Arbeit von Glas.2 Im insgesamt gelungenen Artikel zu Jordanes wird die Romana als „little studied“ abgetan (S. 835), ohne die damit verbundene Diskussion um die Rekonstruktion des Geschichtswerkes des Symmachus zu berücksichtigen. Dass Zonaras bereits für Trajan auf Xiphilinos zurückgriff (S. 1611), ist zumindest umstritten, mittlerweile aber auch (durch zu spät erschienene Studien) widerlegt.

Sehr bedenklich sind die Angaben zu den Quellen des Orosius (S. 1110). Zum einen fehlen wichtige Werke (Vergil, Rufinus), schwerwiegender aber sind einige der postulierten Hauptquellen: Eine direkte Konsultation des Livius ist unwahrscheinlich, zumindest aber umstritten, ebenso bei Florus. Unhaltbar ist aber die Behauptung, die Historia Augusta sei eine seiner Hauptquellen gewesen. Den Tiefpunkt stellt der Artikel zur Origo Constantini Imperatoris (S. 1109) dar: Das Werk sei „generally dated c. AD 390“ und „has a pro-Christian perspective“. Selbst eine oberflächliche Lektüre der zitierten Forschungsliteratur hätte ergeben, dass auch oft eine Frühdatierung kurz nach 337 vertreten wird und die dezidiert christlichen Passagen praktisch einstimmig als spätere Interpolationen gelten.

Die anfallenden Literaturnachträge wären selbst dann, wenn sie nur wirklich wesentliche Spezialbeiträge umfassen würden, zu umfangreich, um im Einzelnen aufgelistet zu werden, daher nur einige grundsätzliche Beobachtungen. Drei Tendenzen sind festzustellen: Erstens wird Forschungsliteratur deutlich eher berücksichtigt, wenn sie in englischer Sprache gehalten ist; englischsprachige Übersetzungen antiker Texte sind oft vollständig verzeichnet, während selbst aktuelle und hochwertige Übersetzungen in andere Sprachen nur selten erfasst sind. Zweitens ist es stark von den einzelnen Beiträgern abhängig, wie vollständig die Literatur erfasst ist; so bieten etwa die Literaturlisten der von Richard Burgess und Peter Van Nuffelen verfassten Artikel keinen Anlass zu Kritik. Drittens spielt auch die Thematik eine Rolle: Artikel zu großen und wichtigen Themen bzw. Personen wie etwa Kaiser Julian wurden wohl bis zuletzt aktuell gehalten (S. 840 ist ein 2017 erschienenes Buch erfasst), doch gibt es auch hier Ausnahmen (S. 1484 fehlen fast alle neueren Biographien von Theodosius I.); bei Artikelthemen von mittelmäßiger Bedeutung ist Aktualität und Qualität der Literatur vom Bearbeiter abhängig. Themen von geringer Bedeutung (etwa viele Usurpatoren) müssen sich mit dem Eintrag in der PLRE und vielleicht noch dem Verweis auf ein breiter gefasstes Standardwerk begnügen, selbst wenn aktuellere Spezialbeiträge mit weiterführenden Forschungsergebnissen vorliegen. Selbst Kienasts unverzichtbare Kaisertabelle fehlt meist – obwohl sie im Abkürzungsverzeichnis einen eigenen Eintrag bekommen hat (S. LXII).3 Durch die unzureichenden Literaturangaben werden zahlreiche wichtige Themen nicht abgebildet; so etwa die Frage nach den religiösen und politischen Motiven von Usurpatoren wie Magnentius und Procopius.

Immer wieder sind, oft durch die Knappheit der Artikel, Verkürzungen, Auslassungen, schiefe Aussagen oder ungünstige Gewichtungen entstanden: Es ist richtig, dass Orosius den Wind und den Sieg am Frigidus der Frömmigkeit des Theodosius zuschreibt (S. 560), doch welchen Sinn hat die Angabe, wenn Rufinus als Quelle des Orosius das ebenfalls schreibt? Bei den Quellen der Historia Augusta (S. 727) fehlt Aurelius Victor. Malalas wird in den konstantinischen Exzerpten nicht selten, aber auch nicht unbedingt „frequently quoted“ (S. 825). Maximinus Daia wurde nicht zweimal bei der Beförderung zum Augustus übergangen (S. 993): Severus folgte seinem Augustus Constantius nach und entsprechend wurde bei der Einsetzung des Licinius eher Konstantin als Maximinus übergangen. Der Artikel zu Oreibasios (S. 1106) ist, was sich auch in der Literaturauswahl niederschlägt, auf medizingeschichtliche Aspekte fokussiert und endet mit der Regierung Julians, ohne auf die späteren Geschehnisse einzugehen. Im Artikel zu den Panegyrici latini (S. 1134) vermisst man eine Diskussion der mit diesen Reden verbundenen religiösen Problematik. Die Historia Romana des Paulus Diaconus ist nicht nur „a continuation of Eutropius“ (S. 1152), sondern ergänzt dessen Werk auch aus anderen Quellen. Das Geschichtswerk des jüngeren Symmachus wird nicht bei Cassiodor (S. 1437), sondern nur bei Jordanes und dem Anecdoton Holderi zitiert.

Eine problematische Konzeption haben die Artikel zu Constantius II. (S. 405f.) und Julian (S. 839f.). Der zu Constantius ist unterteilt in „Sources“, „Political and religious affairs“ und „Coinage and image“. Während der dritte Teil eher zu ausführlich ist, behandelt der zweite vor allem die Usurpationen und die Kirchenpolitik, während die weltliche Gesetzgebung nicht einmal in einfachsten Grundzügen skizziert ist. Auch das zu Julian Gebotene ist unausgewogen, da etwa einerseits die (weitgehend entschiedene) Debatte um sein Geburtsjahr genannt wird, hingegen die Stiermünzen kurzerhand ohne weitere Diskussion als eines der „pagan symbols“ auf den Münzen abgehandelt werden (S. 839). Auch die ganzen Probleme um die Usurpation Julians bleiben ungenannt, andererseits wird die Behauptung des Ammianus, Constantius habe Julian kurz vor seinem Tod als Herrscher anerkannt, als Fakt referiert. Die Charakteristik Julians als Kaiser mit „concerns beyond religion, including the continuing functioning of city councils“ (S. 839) ist banal: Ein solches Interesse hatte jeder Kaiser. Die Literaturliste bietet viel zum Schriftsteller und Religionspolitiker, aber nichts zum Gesetzgeber Julian.

Positiv ist dagegen die weitgehende Vollständigkeit der erfassten Stichwörter zur Spätantike hervorzuheben, zu denen nur wenige Ergänzungen sinnvoll erscheinen. So hätte man noch Basilina (Mutter Julians), Decentius (Bruder des Magnentius) und Iulianus (Onkel Julians) berücksichtigen können. Aus dem literarischen Bereich fehlen die Eutropiusübersetzer (Paianios, Kapiton) und Eutychianus Cappadox (Magnus von Carrhae ist erfasst); da Cassiodors Historia Tripartita einen eigenen Artikel erhält (S. 728), hätte das auch für Pseudo-Victors Origo gentis Romanae und De viris illustribus gelten können. Unerfreulich ist das Fehlen von Artikeln zur Summaria antiqua des Codex Theodosianus (auch im Artikel zum Codex bleibt sie unerwähnt) und dem Zygostates, dem in der Spätantike systematisch institutionalisierten Gutachter für Solidi (nichts dazu im Artikel „coinage legislation“, S. 369f.). Umgekehrt stellt man sich die Frage, warum neben der Historia Augusta deren sechs angebliche Autoren eigene Artikel bekommen mussten, die auf durchschnittlich drei Zeilen die zugeschriebenen Viten aufzählen, und zudem ein Artikel „Thirty tyrants“ (S. 1496) notwendig war. Ebenso gilt das für den Artikel „Anonymus Valesianus“ (S. 81), da beide unter diesem Namen laufenden Schriften eigene Artikel haben (S. 335 und 1109).

Die Durchsicht des Rezensenten, von der hier nur die wichtigsten Ergebnisse mitgeteilt werden konnten, ergab somit, dass die beiden Bände dieses Spätantikelexikons einige gute, viele mittelmäßige und einige schlechte Artikel beinhalten. Die vorgenommene Prüfung ist vielleicht nicht unbedingt repräsentativ, doch ist die Anzahl und Schwere der Problemfälle zu hoch, als dass man noch von den üblichen kleineren Fehlern sprechen könnte, von denen kein größeres Nachschlagewerk frei ist. Der Rezensent kann daher kein positives Gesamturteil zu diesem Lexikon fällen.4

Anmerkungen:
1 Hartwin Brandt, Zeitkritik in der Spätantike, München 1988.
2 Michael Geiger, Gallienus, Frankfurt am Main 2013; Toni Glas, Valerian, Paderborn 2014.
3 Es erübrigt sich, im Einzelnen Literatur aufzuzählen, da zahlreiche relevante Titel über die neueste Auflage der Kaisertabelle (2017) und die Ergänzungen durch den Rezensenten im Jahrbuch für Numismatik und Geldgeschichte 67 (2017), S. 472–481 erfasst werden können.
4 Positiver urteilen über das Lexikon Mischa Meier, in: Sehepunkte 19 (2019), 1, 15.01.2019 (http://sehepunkte.de/2019/01/31461.html); Ulrich Lambrecht, in: Plekos 21 (2019), S. 189–196
(http://www.plekos.uni-muenchen.de/2019/r-odla.pdf).

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