U. Torell u.a. (Hrsg.): Köket

Cover
Titel
Köket. Rum för drömmar, ideal och vardagsliv under det långa 1900-talet


Herausgeber
Torell, Ulrika; Lee, Jenny; Qvarsell, Roger
Reihe
Nordiska museets handlingar 143
Erschienen
Anzahl Seiten
351 S.
Preis
SEK 242.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Derksen, Historisches Institut, Universität Leiden

Ein junges Ehepaar sitzt lesend am Küchentisch, das Fenster zieren Topfpflanzen und luftige Vorhänge. Auf den ersten Blick ist die 1955 bei Stockholm aufgenommene Titelfotografie eine Zurschaustellung häuslicher Idylle, wie sie für die Nachkriegszeit typisch scheint. Ein Detail aber stört: Die Aussicht durch das Fenster fällt nicht, wie vielleicht zu erwarten, auf grüne Wiesen oder Vorgärten von Einfamilienhäusern, sondern auf die halbfertige Fassade eines hochhausartigen Wohngebäudes. Die zeitlose Gemütlichkeit der Küche kollidiert mit der Dynamik gesellschaftlicher Modernisierung. Doch natürlich macht die Moderne vor dem Fenster nicht halt, ist die Küche selbst eine Bühne für gesellschaftlichen Wandel, neue Technologien und Imaginationen vom „guten Leben“. Damit führt die Fotografie unmittelbar in das Kernthema des vorliegenden Werkes ein: Was ist eigentlich eine Küche? Wie haben sich Gestaltung und Benutzung dieses augenscheinlich banalen Raumes vor dem Hintergrund einer wachsenden Konsumgesellschaft gewandelt und welche Vorstellungen und Ideale haben Bewohner, Küchenhersteller, Architekten und Politiker auf ihn projiziert?

Der von Ulrika Torell, Jenny Lee und Roger Qvarsell herausgegebene Sammelband „Die Küche – Raum für Träume, Ideale und Alltagsleben während des langen 20. Jahrhunderts“ ist Ergebnis einer Seminarreihe des Nordischen Museums in Stockholm und versucht sich an Antworten auf diese Fragen. In insgesamt 13 Kapiteln verfolgen die Autorinnen und Autoren mit Hintergrund in der Konsum- und Kulturgeschichte sowie der Architektur und Ethnologie die Evolution der schwedischen Küche: von einem einfunktionalen Ort zur Zubereitung von Mahlzeiten im späten 19. Jahrhundert, über die Rationalisierungs- und Technologisierungsprozesse des Wohlfahrtsstaates, bis hin zur spätmodernen Vorzeigeküche. Den Museumssammlungen verdanken die einzelnen Beiträge neben der reichen Bebilderung auch frische Zugänge zu historischen Küchenobjekten sowie wenig erschlossenen Quellen wie Ratgeberliteratur, Werbekatalogen oder Radioprogrammen für die schwedische Hausfrau. Diese Vielfalt ist eine der größten Stärken des Bandes, schafft sie durch die enge Verbindung von Privatheit und Gesellschaft, Tradition und Moderne doch einen ebenso facettenreichen wie dichten Blick auf die Küche, die damit gleichsam für eine schwedische Sozialgeschichte „von unten“ steht.

In einem einleitenden Beitrag gehen die Herausgeber theoretischen und analytischen Perspektiven auf die Küche nach. Daran anknüpfend zeigt Jenny Lee die historische Entwicklung der schwedischen Küche vor dem Hintergrund nationaler Diskurse, Vorstellungen von Räumlichkeit sowie internationalen Einflüssen auf. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sei die Küche mehr und mehr zum „Problemraum“ geworden, der bürgerliche Ideale von Häuslichkeit und Sauberkeit gefährdete. Antworten auf diese Probleme in der Form sozialer Reform- und Rationalisierungsbestrebungen seien in Schweden vergleichsweise stark von staatlicher Einmischung und Standardisierung geprägt gewesen. Erst seit den 1970er-Jahren finde eine stärkere internationale Vereinheitlichung statt, die Individualität und Selbstverwirklichung propagiere und nationale „Küchengeschichten“ zunehmend infrage stelle.

Wie hat sich die Küche als ein Funktionsraum häuslicher Tätigkeiten entwickelt? Dieser Frage widmen sich die Kapitel drei bis neun, die sich mit den Funktionen, Gerätschaften und der Nutzung der Küche befassen. Originell, wenn auch durch ähnliche Anknüpfungen an Lebens- und Konsumgewohnheiten und den Fokus auf Stockholm teilweise repetitiv, ist die Unterteilung der einzelnen Beiträge nach zentralen Gegenständen in der Küche, die den Weg der dort zubereiteten Lebensmittel vom Einkauf bis zum Abfall nachverfolgen.

Den Anfang macht die Vorratskammer, anhand derer Kerstin Thörn den Zugang zu Lebensmitteln, die Evolution von Verpackungsmaterialien und räumliche Voraussetzungen zur Lebensmittelaufbewahrung bis zur Einführung des Kühlschranks analysiert. An letzteren knüpft Fredrik Sandgrens Beitrag an, der beleuchtet, welche Hoffnungen, aber auch Zweifel sich mit der neuen Technik verbanden. Eine besondere Bedeutung für die Modernisierung der Küche schreibt Marianne Larsson dem Herd zu, dessen Entwicklung stark von Vorstellungen nach einem bequemeren Alltagsleben getragen gewesen sei. Innovativ ist der Aufsatz von Karin Carlsson über zwei erhaltene schwedische Küchenausrüstungen aus den 1940er- und 1980er-Jahren als Basis für eine Gegenüberstellung rationaler Bestrebungen, Normen und privater Praktiken rund um den Hausrat. Während der Hausrat als Träger familiärer Erinnerungen häufig auch sentimentalen Wert besitzt, war dem Küchentisch dagegen laut Ulrika Torell trotz seiner raumkonstituierenden Qualität als Arbeits-, Ess- und Gesprächsplatz meist ein Schattendasein beschieden, obwohl er viel über den Wandel von Familien- und Geschlechterrollen verrate. Dagegen nahm der Abwasch, so Roger Qvarsell, durch seine problembelastete Verknüpfung zu öffentlichen Fragen der Hygiene, Gesundheit und Körperlichkeit Einfluss auf die Politisierung des Raumes Küche. Mit Ylva S. Sjöstrands Beitrag über den Müll schließt sich der Gang der Lebensmittel durch die Küche: „Durch die korrekte Sortierung der Abfälle leisten wir einen Beitrag zur gesellschaftlichen Umweltarbeit, sie erfüllen aber auch eine symbolische Funktion für das den Müll sortierende Individuum.“ (S. 229)

Ein zweiter Schwerpunkt des Sammelbandes betrachtet die Küche als abstrakte Projektionsfläche für Ideale und Träume. In den verbleibenden vier Beiträgen wird deshalb ein breites Spektrum moralischer Grundsätze, Freizeitpraktiken und Selbstverwirklichungstendenzen behandelt. So wirft der Beitrag von Jenny Lee anhand von Gartenratgebern und Küchenzeitschriften Licht auf Idealvorstellungen des „guten“ Küchengartens, welcher sich trotz seiner Entwicklung vom Nutzgarten zum Zeitvertreib nie zur Gänze aus der moralisierenden Betrachtung lösen konnte. Dem Paradigma der Rationalisierung stellt Helena Bergman ihre Untersuchung über Gefühle und Emotionalität in der Küche gegenüber. Ausgehend vom Radioprogramm „Hausfrauenschule“ aus den 1940er-Jahren argumentiert sie, dass auch den Benutzern der Küchen eine wichtige Rolle in der sozialen Konstituierung der Küche zukam: „Durch die Rationalisierung der Hausarbeit wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Hausfrauen sich zunehmend den emotionalen Bedürfnissen der Familienmitglieder widmeten.“ (S. 271) Hervorzuheben ist auch der Beitrag von Orsi Husz und Karin Carlsson, in welchem sie ausgehend von einer Kooperation zwischen IKEA und dem schwedischen Verbraucheramt die Geschichte der Küche „Pax“ als Verflechtung eines staatlichen social engineering mit einem unternehmerischen consumer engineering analysieren. Im letzten Beitrag betrachtet Maja Willén anhand der Küchenfabrikanten IKEA, Marbodal und Kvänum spätmoderne Ideale der „Traumküche“, darunter Rückgriffe auf historische Ideale durch Land- oder Retroküchen, aber auch moderne Küchenelemente, die eine imaginierte Zukunft mit Minimalismus, Technikaffinität, aber auch Geselligkeit antizipieren. Eine englische Zusammenfassung rundet den Band ab.

Trotz einiger Dopplungen, die angesichts der thematischen Breite jedoch kaum zu vermeiden sind, ist den Autorinnen und Autoren ein interessanter, oft kurzweiliger und teilweise überraschender Beitrag zur räumlichen und sozialen Geschichte der Küche gelungen. Hervorzuheben ist die vielschichtige Nachzeichnung einer Evolution der Küche von einem Ort der Aufbewahrung und Zubereitung von Lebensmitteln zu einem sozialen Raum, in dem Freundschaften, Familien- und Geschlechterverhältnisse verhandelt, politische Diskussionen geführt oder kreative Selbstverwirklichung praktiziert werden. Dadurch eröffnet der Band neue Perspektiven, die das auch global verbreitete Bild der funktionalistisch-schlichten Einbauküche als „typisch schwedisches“ Erfolgsmodell dekonstruieren.

Neben der Verbreitung schwedischer Produktideale im Ausland sind insbesondere auch die Hinweise zu internationalen Einflüssen auf die schwedische Küche durch das Bauhaus oder die amerikanische Konsumkultur interessant. Dass diese internationalen Verweise mit Ausnahme des einführenden Beitrags zur schwedischen Küchengeschichte recht willkürlich gestreut sind, geht allerdings zu Lasten einer stringenteren Reflexion darüber, was die schwedische Küche eigentlich von anderen Ländern unterscheidet und mithin schwedisch macht.

Was ebenfalls etwas in den Hintergrund gerät, sind die Personen, die die Küche direkt benutzen: Nur wenig ist zu lesen über Wohngemeinschaften, Singlehaushalte oder Menschen unterschiedlichen Alters, ethnischer Herkunft oder sozioökonomischen Status’, die einen interessanten Kontrast zur Ubiquität der Hausfrau hätten setzen können. Denn jenseits der schwedischen, urbanen Kleinfamilie bieten solche Perspektiven gerade auch vor dem Hintergrund aktueller Tendenzen neue Anknüpfungspunkte für den sozialen Raum Küche: „The rationalization of everyday household chores is no longer a matter of creating a well-planned kitchen with four walls, a sink, a cooker, a table and cupboards, but rather a way of shifting the boring and time-consuming housework to external actors and letting the revitalized open kitchen become a space for socialization, leisure, and relaxation.” (S. 350)

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