C. Hoffmann u.a. (Hgg.): Exclusionary Violence

Titel
Exclusionary Violence. Antisemitic Riots in Modern Germany


Herausgeber
Hoffmann, Christhard; Bergmann, Werner; Smith, Helmut Walser
Reihe
Social History, Popular Culture, and Politics in Germany
Erschienen
Anzahl Seiten
210 S.
Preis
$26.70
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uffa Jensen, Histroy Department, University of Sussex Email: u.jensen@sussex.ac.uk

Der Sammelband „Exclusionary Violence. Antisemitic Riots in Modern German History“ widmet sich einem erstaunlichen Forschungsdesiderat: antisemitischen Gewaltexzessen in Deutschland während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Wie die Herausgeber Christhard Hoffmann (Universität Bergen), Werner Bergmann (Technische Universität) und Helmut Walser Smith (Vanderbilt University, USA) darlegen, hat sich auf diesem Gebiet eine alte Überzeugung lange gehalten, wonach dem modernen, ideologisch orientierten Antisemitismus des 19. Jahrhunderts im Gegensatz zu Formen des mittelalterlichen Judenhasses die spontanen, pogromhaften Elemente fehlten. Wie der Sammelband, der auf eine Tagung im Jahre 1997 zurückgeht, allein anhand der Vielzahl der behandelten Einzelfälle im 19. und 20. Jahrhundert zeigen kann, war diese Annahme irrig. Wenn jedoch antisemitische Gewalt in den Blick genommen wurde, postulierte man zumeist eine sozioökonomische Krisensituation, die sich in Ausschreitungen gegen Sündenböcke entlud, wofür sich gerade die Juden durch ihre besondere gesellschaftliche Position und die lange Tradition antijüdischer Stereotypen besonders eigneten. Wie die Herausgeber hervorheben, ist dabei aber oft mehr vorausgesetzt als gezeigt worden, wie sich soziale Spannungen in Aggression und Gewalt übersetzten. Zumeist sah man in dieser Tradition von dem eigentlich zu analysierende Phänomen – dem Gewaltausbruch – ab, um sich sogleich der Beschreibung der Krise widmen zu können. In ähnlicher Weise zielt eine andere Forschungsrichtung, nach der Judenhass einen integralen Bestandteil westlicher Gesellschaften bilde und entsprechende Ausschreitungen fast zwangsläufig folgen müsse, an den zu erklärenden Phänomenen vorbei. Aus dieser Erkenntnis heraus muss man sich also den konkreten, oft lokal determinierten Gewaltexzessen selber zuwenden.

Stefan Rohrbacher stellt in seinem Aufsatz über die „Hep Hep“ Revolten von 1819 eine genaue Betrachtung der jeweils unterschiedlichen Situation in den verschiedenen Städten an, in denen es zu solchen Ausschreitungen kam, und kann daraus schlussfolgern, dass der zeitgenössische Zustand der jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen eine entscheidende Rolle spielte, und zwar gerade in der lokalen Ausprägung. Die Ausschreitungen richteten sich dabei vornehmlich gegen Symbole, die im lokalen Kontext für die Wünsche von Juden nach einer rechtlichen und sozialen Verbesserung ihrer Stellung standen und so den entsprechenden Widerstand von nichtjüdischer Seite bündeln konnten. Demgegenüber erklärt Manfred Gailus die antijüdische Gewalt im Umfeld der Revolution 1848 weiterhin mit Hilfe des Paradigmas aus Modernisierungskrise und Sündenbockfunktion, auch wenn er gelegentlich weitere Motive (religiöse Traditionen, traditionelle antijüdische Stereotypen, politischer Widerstand gegen die Emanzipation) anführt.

Christhard Hoffmann wendet sich dem ersten Fall antijüdischer Gewalt in der postemanzipatorischen Epoche zu: den antijüdischen Gewaltexzessen in Pommern und Westpreußen im Jahre 1881. Er sieht hierbei drei auslösende Faktoren am Werk: die sozioökonomische Lage, die antisemitische Propaganda und die zeitgenössische Politik. Beim letztgenannten Faktor erwies sich die Haltung der staatlichen Autoritäten als zentral, die eigentlich das staatliche Gewaltmonopol verteidigen sollten. Nicht zuletzt Bismarck, der aus wahltaktischen Gründen antisemitischen Gruppen nicht offen entgegentrat, sie zeitweise gar zu unterstützen schien, hinterließ unter den Protestierenden in Pommern und Westpreußen den Eindruck, mit zumindest stillschweigender Unterstützung der staatlichen Stellen rechnen zu können. Dies verschärfte sich durch die lange Zeit bemerkenswerte Passivität der lokalen Staatsorgane, so dass die Gewalttäter durchweg überrascht reagierten, als sie doch zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Eine der interessantesten Folgewirkungen, die Hoffmann den pommerschen und westpreußischen Unruhen zuschreibt, ist die Spaltung der antisemitischen Bewegung, von der einige Protagonisten in der Gegend besonders aktiv waren. Der Richtung dieser radikalen „Radau-Antisemiten“ (wie etwa Ernst Henrici) standen die gemäßigten, konservativen Antisemiten (wie etwa Adolf Stoecker) gegenüber. Als die staatlichen Stellen schließlich gegen antisemitische Unruhen aktiv wurden, geißelten sie nicht zuletzt die radikale Variante und dienten damit der Domestizierung des Antisemitismus. Paradoxerweise diente dies, so Hoffmann, der Konsolidierung eines gemäßigten, legitimen Antisemitismus im Kaiserreich.

Westpreußen blieb ein Herd für antisemitische Angriffe, wie ein weiterer Aufsatz dieses Bandes, in dem Helmut Walser Smith über die Konitzer Ausschreitungen 1900 berichtet, unter Beweis stellt. Der Mord an einem Schüler, der in vielen Einzelheiten an die Ritualmord-Legende erinnerte, löste den wohl schwersten Fall antisemitischer Gewalt im Kaiserreich aus.1 Smith liefert dafür die sicher detailreichste Beschreibung einer solchen Ausschreitung in dem vorliegenden Band. Konitz sticht gegenüber den anderen Fällen vor allem aus drei Gründen hervor: Zum einen schritten die staatlichen Organe relativ massiv zum Schutz der öffentlichen Ordnung ein, so dass sie als „verjudet“ angeprangert wurden und die Ausschreitungen fast revolutionären Charakter annahmen. Zum Zweiten ist die direkte Beteiligung von Antisemiten an dem Aufruhr besonders bemerkenswert. Schließlich wurden hier uralte religiöse Motive reaktiviert, die sich viele Konitzer Bürger in Form von Denunziationen, Ängsten oder Gerüchten zu eigen machten. Anregend ist an dieser Stelle Smiths Versuch, den emotionalen Gewinn solcher antisemitischen Konstrukte zu betonen. Die Ausbrüche antisemitischer Gewalt im 20. Jahrhundert thematisieren schließlich zwei Aufsätze. David Clay Larges thematisiert die Ausschreitungen im Berliner Scheunenviertel 1923, bei denen sich die sozialen und wirtschaftlichen Missstände der frühen Weimarer Republik in Gewalt vornehmlich gegen „Ostjuden“ entluden. Wolfgang Benz‘ Aufsatz über das November-Pogrom von 1938 behandelt das einzige Beispiel staatlich induzierter antisemitischer Ausschreitungen und fragt vor allem nach dem Ausmaß der Beteiligung von einfachen Bürgern.

In den Aufsätzen dieses Sammelbandes, die am Ende noch einmal zusammenfassend von Richard S. Levy diskutiert werden, gewinnt der Leser nicht nur einen Überblick über die Entwicklung antisemitischer Gewalt von der Emanzipationsphase bis zum Nationalsozialismus. Zugleich lassen sich die verschiedenen Facetten erkennen, in denen sich solche „exclusionary riots“ ausprägten, welche multiplen Antriebe sie besaßen, welche Formen sie annahmen und zu welchen Konsequenzen sie führten. Besonders die theoretischen Überlegungen von Werner Bergmann sind dabei hilfreich, erklären sie doch „exclusionary riots“ mit Hilfe einer triadischen Struktur aus einer verunsicherten, „sich selbst helfenden“ ethnischen Mehrheitsgruppe, einer als krisenauslösend und generell bedrohlich verstandenen ethnischen Minderheitsgruppe und dem ambivalenten Staat, der sein Gewaltmonopol zeitweise verliert. Gleichwohl bleibt das Problem, sich dem eigentlichen Kern jenes „Niemandslandes der Gewalt“ (B. Weisbrod, A. Lüdtke) zu nähern.2 Eine dichte Beschreibung der Exzesse selber kann wohl nur in Einzelfällen geliefert werden, da dies oft an der Quellenlage scheitert. Auch so bleiben Fragen offen: Was ist die Attraktivität eines gewaltsamen Aktes? Was ist sein Status während der Ausschreitung selber und später? Ein Gewaltausbruch muss nicht nur auf Stigmatisierung treffen, er kann dem Gewalttäter auch Aura verleihen. Gleichzeitig ist das Verhältnis eines Gewaltausbruches zum Alltag von Bedeutung: Wo und wann bricht mit einem Gewaltakt der Zusammenhang des normalen Lebens zusammen und beginnt die Außerweltlichkeit? Wann steigern sich „exclusionary riots“ zum rauschhaften Erleben von Gewalt? Aus solchen Perspektiven wäre jeweils neu zu klären, welche Bedeutung antisemitischer Gewalt - einmal im Vergleich zu anderen Gewaltakten und zudem für das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in Deutschland überhaupt – zukam.

Anmerkungen
1 Vgl. dazu Walser Smith, Helmut, Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen 2002, sowie Nonn, Christoph, Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich, Göttingen 2002.
2 Vgl. dazu die 20. Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, die Bernd Weisbrod und Alf Lüdtke unter dem Titel „The No Man‘s Land of Violence. Extreme Wars in the 20th Century“ am Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte veranstalteten.