Titel
Bismarcks Außenpolitik 1870-1890. Aufstieg und Gefährdung


Autor(en)
Canis, Konrad
Reihe
Otto-von-Bismarck-Stiftung, Wissenschaftliche Reihe 6
Erschienen
Paderborn 2003: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jost Dülffer, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Zum letzten Mal hat Andreas Hillgruber 1972 ein Buch mit dem Titel „Bismarcks Außenpolitik“ vorgelegt. 1 Allerdings haben auch Klaus Hildebrand und Wolfgang J. Mommsen im Zuge größerer Gesamtdarstellungen zur Außenpolitik des Reiches dem Mann viel Platz eingeräumt. 2 Die Wahl des Titels dürfte kein Zufall sein, hat sich doch Konrad Canis, zu DDR-Zeiten wie auch danach an der Berliner Humboldt-Universität lehrend, fruchtbar, kritisch und positiv mit Hillgruber auseinander gesetzt und tut das auch jetzt an manchen Stellen. Und vieles, was Canis jetzt in einer bemerkenswerten Gesamtsicht liefert, ist eine vertiefte und wenig gewandelte Anknüpfung für die 1880er-Jahre an seine Monografie von 1980 „Bismarck und Waldersee“.3 Dennoch ist keine bloße Fortschreibung zu konstatieren, sondern eine Summe des in langen Jahrzehnten erarbeiteten, gedachten und nochmals vertieften Herangehens. Canis hat immer schon Wert darauf gelegt, die einschlägigen Quellen aus den Archiven selbst zu erarbeiten und hat auch hier Erstaunliches, wenn auch nicht Sensationelles vor allem aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes, aber auch dem Bismarck-Archiv und dem österreichischen Haupt- und Staatsarchiv neu erschlossen; anderes kommt hinzu. Eine souveräne Beherrschung der Forschungsliteratur versteht sich fast schon von selbst.

Canis Ansatz liegt ganz auf der Person Bismarcks, den Intentionen, Erwartungen und (Fehl-)Kalkülen. Der Horizont ist der des zeitgenössischen Staatensystems, der Interaktion der Staaten und ihrer führenden Politiker, der Kampf um Positionsbewahrung und Machterweiterung. Eingebettet ist das in die gesellschaftliche, nicht zuletzt (welt-)wirtschaftliche Entwicklung. Ohne den Begriff zu gebrauchen, wird auch die innenpolitische Funktion von außenpolitischem Handeln gelegentlich mit sozialimperialistischen Motiven herausgearbeitet. Das neue Reich setzte für Canis wesentliche „Voraussetzungen der europäischen Politik der Großmächte außer Kraft“ (S. 56). Schon durch seine Größe stellte es ein Problem dar, das sich nach und mit seinem wirtschaftlichen Wachstum seit den 1880er-Jahren verstärkt meldete. Das Dilemma der wiederholt nach Ludwig Dehio konstatierten halbhegemonialen Stellung gibt auch bei Canis die Überschrift eines seiner drei Kapitel ab.

Hillgruber hatte, vereinfacht gesagt, eine aktive, auch auf Kriegsdrohungen oder Krieg setzende Politik Otto von Bismarcks bis zur Krieg-in-Sicht-Krise 1875 ausgemacht, und danach eine Politik des Status quo gezeichnet, bei der der Reichskanzler die anderen Mächte an der „Peripherie“ gegeneinander auszuspielen trachtete. Canis hingegen setzt andere Akzente. Bismarck habe durchgängig eine stärker militärisch akzentuierte Politik betrieben. Bei der Mission Radowitz‘ in Petersburg Anfang 1875 habe er letztlich auf eine geteilte Vorherrschaft in Europa gesetzt: Rußland habe den Osten, das Deutsche Reich den Westen beherrschen sollen. 1879 sei er auf diese Idee zurückgekommen und habe mit Österreich-Ungarn eine feste Verbindung zur Schaffung eines mächtigen mitteleuropäischen Blocks angestrebt, der auf Rußland wirken sollte. „Es war nach 1871 der zweite hegemoniale Vorstoß Bismarcks: nach dem gescheiterten Teilungsangebot von 1875 sollte das Deutsche Reich dieses Mal mit einer erweiterten Machtbasis in der europäischen Mitte Rußland zur Räson bringen. Selbstverständlich war nicht die totale, sondern eine noch begrenzte, friedliche Hegemonie anvisiert“ (S. 149). Es kam nur zum traditionellen Bündnis des Zweibundes. Der Dreikaiservertrag 1881 hatte mit dem weit gesteckten Ziel nichts zu tun, schien aber auch für die westeuropäische Politik Vorteile zu bringen – nicht zuletzt legten die Versuche zur kolonialen Kooperation mit Frankreich gegen Großbritannien hiervon Zeugnis ab. In der relativ befriedeten Zeit bis 1885 habe Bismarck „an dem Ziel einer geteilten Hegemonie noch festgehalten [...] im Zeichen des britisch-russischen Weltgegensatzes, der gefestigten russisch-deutschen Verbindung, einer latenten Unterordnung Österreich-Ungarns, deutsch-französischer Entspannung und einer britischen Isolation in Europa. Um einen großen Entwurf handelte es sich zweifellos. Richtig zum Zuge kam er nicht“ (S. 226).

Der vierte Anlauf bedeutete keinen großen Wurf mehr, eher die Konsequenz aus einer Notlage von Krieg und Krise 1887. Hier waren – nach der unerwartet von allen Mächten 1885 ausgebrochenen Bulgarienkrise und dem zunehmenden französischen Chauvinismus in der Boulanger-Krise – die Kriegsgefahren in ganz Europa in der so genannten Doppelkrise virulent geworden. Canis hält an seiner schon 1980 vertretenen These fest, es sei dem Kanzler um einen österreichisch-russischen Krieg gegangen, der automatisch das Deutsche Reich in einen erwünschten, da notwendigen Krieg mit Frankreich getrieben hätte. Zitat Rantzau, eines engen Mitarbeiters: „Wir werden den französischen Krieg aufzunehmen uns nicht scheuen, da wir voraussehen, daß wir ihn nicht vermeiden können. Einen russischen Krieg würden wir ohne Not nicht führen, da wir keine Interessen haben, die dadurch gefördert werden können.“ (S. 322) Diese beiden Konflikte im Osten und Westen hätten möglicherweise getrennt gehalten werden können, um so die Basis für einen neuen deutsch-russischen Ausgleich zu bilden. Auch diese Kriegsbereitschaft Bismarcks – und nicht nur der Militärs – habe nicht etwa den großen Krieg in Europa bringen sollen, wohl aber eine begrenzte Machterweiterung des Deutschen Reiches in Europa. Gerade das ist seit über 20 Jahren strittig und von kaum einem Autor übernommen worden. Auch der Rezensent hat Gegenthesen entwickelt, Canis setzt sich aber vor allem mit Eberhard Kolb auseinander (S. 340).4 „Bismarck hat Pflöcke eingeschlagen, um für den Fall, der Krieg werde unvermeidlich, soweit es überhaupt in seiner Macht lag, möglichst den Krieg im Orient ausbrechen zu lassen und somit eine Konstellation eintreten zu lassen, die ihm gestattete, dort vorerst unbeteiligt zu bleiben und sich auf Frankreich zu werfen, sei es ausgelöst durch dessen Angriff oder durch den eigenen.“ (S. 344) Auch mit neuen Quellenfunden und gering modifizierter Deutung lassen sich für Kriegsbereitschaft und -risiko Bismarcks in dieser Situation und den nachfolgenden Monaten nach meiner Einschätzung keine plausiblen Gründe angeben.

Hier – wie für die vorangegangenen Absichten zur Hegemonialteilung – kann Canis nur zeigen, dass die großen Pläne Bismarcks – so sie es denn gab – nicht zum Zuge kamen, bestenfalls Fallplanungen für nicht eintretenden Situationen darstellten und somit den Härtetest der Realität überstanden. Die Bismarck-Exegese gelangt an ihre Grenzen.

Unter der Hand wird Canis‘ große Darstellung der Außenpolitik Otto von Bismarcks so doch zu einer solchen von seiner Kriegsbereitschaft und -erwartung. Sicher hat Canis recht: „Krieg hat Bismarck niemals ausgeschlossen. Kriege waren nicht geächtet“(S. 275); aber bei Bismarck scheint mir doch die Gefährdung des jungen Reiches durch Krieg so dominierend geworden sein, dass er ein gleichsam „begrenztes Risiko“ (so später Riezler über Bethmann Hollweg) in den 1880er-Jahren eher ganz in den Hinterkopf drängte. Und so kommt auch Canis mehrfach zur Betonung nur vager Fallplanungen oder „worst case“-Szenarien, die Kriegsdrohung zumeist als politische Instrumente benutzten. Da wird man wieder zustimmen können.

Eine von Canis‘ Stärken und Leistungen liegt in der Erarbeitung und Gewichtung von handlungsleitenden Faktoren. Das setzt über die genannten Elemente hinaus oft neue Akzente, die weiterer Auseinandersetzung bedürfen, aber auch lohnen. In der Beurteilung des ersten Reichskanzlers bleibt Canis merkwürdig vage. Die kriegerische und risikogestützte Komponente seiner Politik wird deutlich. Fehlkalkulationen - nach Canis‘ eigener Deutung – werden ihm häufig zugeschrieben (z.B. S. 345), aber auch virtuoser Umgang mit dem Instrument der Kriegsdrohung (S. 280). Ebenso wird der Innenpolitiker – nicht zuletzt in seiner Politik gegenüber den Reichsfeinden - mit Schärfe und Kritik bedacht; das reicht von der Reichsgründungskonstellation 1871 an bis zur Ablösung 1890, als er zu seiner fast totalen Isolierung „maßgeblich beigetragen“ hatte (S. 375).

Wirtschaftliche Basis, gesellschaftspolitische Funktion von Außenpolitik spielen durchweg eine bedeutsame Rolle in der Darstellung. Gerade im Vergleich zu den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und dem Weg in den Weltkrieg – beides wird von Canis relativ breit ausgefüllt – zeigen sich ganz andere außen- und gesellschaftspolitische Situationen zuvor und danach. Die bismarckzentrierte Analyse von Außenpolitik vor dem Hintergrund des europäischen Staatensystems hat mit Canis‘ umfassender Darstellung einen Höhepunkt erreicht. Stupende Gelehrsamkeit, neue Erschließung von Quellen wie neue Deutungen laden zur breiten, auch kritischen Rezeption ein.

Anmerkungen:
1 Hillgruber, Andreas, Bismarcks Außenpolitik, Freiburg 1972 (3. Aufl. mit einem Vorwort von Klaus Hildebrand 1993).
2 Hildebrand, Klaus, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871-1945, München 1997; Mommsen, Wolfgang J., Großmachtstellung und Weltpolitik. Die Außenpolitik des Deutschen Reiches 1970-1914, Frankfurt am Main 1993.
3 Canis, Konrad, Bismarck und Waldersee. Die außenpolitischen Krisenerscheinungen und das Verhalten des Generalstabes 1882-1890, Berlin (Ost) 1980.
4 Vgl. die letzte Tagung der Historikergesellschaft der DDR vom Frühjahr 1990, publiziert als: Dülffer, Jost; Hübner, Hans (Hgg.), Otto von Bismarck. Person – Politik – Mythos, Berlin 1993 (darin Beiträge von Canis und Dülffer), Eberhard Kolb, Gezähmte Halbgötter? Bismarck und die militärische Führung 1871-1890, in: Lothar Gall (Hg.), Otto von Bismarck und Wilhelm II, Paderborn 2000.

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