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Titel
SchaufensterKunst. Berlin und New York


Autor(en)
Schleif, Nina
Erschienen
Böhlau 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
342 S., 56 s/w und 16 vierfarb. Abb.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Gries, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien

„Sie schicken Ihr Kind zum Schulmeister, doch es sind die Schuljungen, die es belehren. Sie schicken es zur Lateinstunde, doch ein Großteil seines Unterrichts erhält es auf dem Weg zur Schule von den Schaufenstern.“1 Diese Sentenz des amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson aus dem Jahr 1860 vermag das diskursive Feld treffend abzustecken, dessen Vermessung sich die hier anzuzeigende Dissertation vorgenommen hat. Die Geschichte des Schaufensters ist noch nicht geschrieben. In den deutschsprachigen Ländern Europas haben seit den 1970er-Jahren Ausstellungen mitsamt den dazugehörigen Katalogen auf das Phänomen „Schaufenster“ aufmerksam gemacht, und die seit den 1990er-Jahren verstärkt publizierten konsumgeschichtlichen Abhandlungen haben das Problem immer wieder am Rande beobachtet und beschrieben, jedoch nicht ins Zentrum des Erkenntnisinteresses gerückt. Nina Schleif betritt insofern Neuland, als es ihr gelingt, aus dezidiert kunsthistorischer Perspektive einen ersten grundlegenden Baustein zu einer Geschichte dieses Mediums zu vorzulegen.

Die knappe Vorstellung der methodischen Prämissen der Studie erweist sich freilich als ungenügend und mag einem Kürzungsverlangen des Verlages geschuldet sein. Das herangezogene Quellenmaterial entstammt ganz unterschiedlichen Provenienzen. Obschon die Untersuchung Schaufenster in Berlin von der Jahrhundertwende bis zum Ende der 1920er-Jahre und Schaufenster in New York bis in die 1960er-Jahre hinein in den Blick nimmt, handelt es sich nicht um eine vergleichende Arbeit im strengen Wortsinne. Der Erzählduktus der Arbeit ist eher additiv als komparativ, und es zeigt sich, dass die Geschichte des Schaufensters in den Vereinigten Staaten auf der Geschichte in Deutschland und Frankreich aufbaute. Das Erkenntnisinteresse der Kunsthistorikerin liegt nicht in einer Konsum-, Kommunikations-, Stadt- oder vielleicht Gesellschaftsgeschichte des Schaufensters schlechthin, sondern in der Geschichte des so genannten Künstlerschaufensters. Darunter versteht Schleif Theorien und Praktiken von Schaufenstergestaltungen, die ein wie auch immer geartetes Verhältnis zur Kunst aufweisen. Dieses weite, schwer greifbare Verständnis von „Schaufensterkunst“ unterfüttert sie durch die Bearbeitung sehr unterschiedlicher Quellengattungen: Vorgeführt und analysiert werden erstens Schaufenster als solitäre „Einzelstücke“, die von Künstlerpersönlichkeiten gestaltet wurden; zweitens theoretisierende Texte vor allem von Dekorateuren, welche das Schaufenster als tertium comparationis im Spannungsfeld von Kunst und Kommerz thematisierten; drittens aber auch zeitgenössische Werke der bildenden Kunst, welche das Schaufenster zum Sujet gemacht haben. Mit der Frage, ob und inwieweit Künstlerschaufenster als „Kunst“ gelten dürfen, ist ein vergleichsweise enger Blick auf diese Bühnen des Alltages gegeben, die zudem ausschließlich als ein großstädtisches Phänomen gelesen werden – ja sogar als ein Phänomen von Weltmetropolen wie Paris, New York und Berlin.

Seit der Jahrhundertwende bestimmte eine neue Generation von Schaufenstern das Straßenbild der Großstädte: Bis zu drei Meter hohe und mindestens ebenso breite Glasscheiben bildeten fortan jene Membranen der Geschäfte, die eine ausgeklügelte Dramaturgie des Lichtes im Schaufenster selbst ebenso wie im Ladeninneren ermöglichten. Der deutschsprachige Diskurs über die neue „Schaufensterkunst“ drehte sich vor dem Ersten Weltkrieg um eine zentrale ethische Forderung: Vor allem Autoren im Umfeld des Deutschen Werkbundes verlangten von den Auftraggebern, also den Händlern, wie von den Schöpfern der Schaufenster ein hohes gestalterisches Niveau – nicht im Interesse des Kommerzes, sondern im Interesse einer Erziehung der Massen. Schaufenster wurden also nicht nur als Medien des Ökonomischen, sondern vor allem als Medien des Sozialen und Kulturellen gedeutet, als Geschmack prägende moralische Anstalten für die Vielen. Dieses Programm wurde vielfach mit dem Verlangen nach „Sachlichkeit“ verknüpft, d.h. mit einem Plädoyer, den Schauraum nicht zu überladen, sondern die Ware in den Mittelpunkt der Auslage zu stellen. Dieses hohe Ideal der Werkbund-Autoren sollte 1914 in einer Ausstellung in Köln anhand einer exemplarischen Ladenstraße vorgeführt werden; die Musterschau scheiterte allerdings nicht nur aufgrund des Krieges, sondern auch am mangelnden Interesse seitens der Händler und der Gestalter.

Die 1920er-Jahre zeigen nach Ansicht von Schleif die praktizierte deutsche, aber auch die französische Kunst der Schaufenstergestaltung auf dem Höhepunkt, wohingegen in den veröffentlichten Diskursen ein gänzlich neuer Schwerpunkt gesetzt wurde: Ohne Umschweife hieß es nun, dass das Schaufenster ausschließlich der Steigerung des Umsatzes zu dienen habe. Erzieherische Effekte sollten bestenfalls eine nachgeordnete Rolle spielen. Hinzu kam ein Schub in der Verwissenschaftlichung: Die „Psyche des Publikums“, genaugenommen der bis dato vermeintlich gesichts- und kulturlosen Passanten, wurde im Interesse von Wirtschaft und Werbung durch eine aufblühende angewandte Psychologie erforscht. Damit brach sich auch auf dem Gebiet der Schaufenstertheorie und -praxis eine Bewegung Bahn, die sich in der kommerziellen Produktkommunikation generell für die 1920er-Jahre beobachten lässt. Das Bild des Adressaten änderte sich nun grundstürzend: vom moralisch ungebildeten Massenmenschen als Objekt einer werblichen Erziehung hin zum Konsumenten, dessen Eigenwille aufgeklärt werden sollte und auf den sich die Werbung und damit auch das Schaufenster mitsamt der Ware zu richten hatte. Die 1920er-Jahre müssen gerade aus der Perspektive einer Geschichte der persuasiven Kommunikationsformen als Katalysator gelten; die in diesem Jahrzehnt angelegten Entwicklungsstränge zeigten sich in den 1950er und 1960er- Jahren dann vollends entfaltet.2

Die Geschichte der Schaufensternarrative in New York und den USA erweist sich als ein geradezu paradigmatischer Fall des von Anselm Doering-Manteuffel postulierten Prozesses einer Westernisierung, also des anhaltenden und nachhaltigen Austauschs kultureller Muster zwischen Europa und den USA.3 Aspekten dieser Wechselbeziehung widmet Schleif eigens ein verbindendes Kapitel zwischen „Berlin“ und „New York“. Emigranten transportierten europäische Schaufenster-Erwartungen und Schaufenster-Erfahrungen über den Atlantik und adaptierten sie für den amerikanischen Markt. Das galt beispielsweise für den 1926 aus Österreich ausgewanderten Künstler Frederick Kiesler, der, wie Schleif schön erzählt, in den Vereinigten Staaten bleiben musste, weil ihm das Geld für die Rückreise ausgegangen war. Wie manch anderem Künstler gelang es ihm, prestigeträchtige Aufträge von Warenhäusern der Fifth Avenue zu akquirieren. Schließlich verfasste er 1930 ein Standardwerk, das europäische und amerikanische Paradigmen einer Schaufensterkunst zusammendachte. Im Gefolge der Pariser Kunstgewerbeausstellung von 1925 kam es zu einer geradezu euphorischen Aufnahme des Art Déco in den Schaufensterauslagen Amerikas. Der Surrealismus und seine unterhaltenden Anverwandlungen erreichten die US-Konsumenten ebenfalls via Werbefenster.

Auch in den Vereinigten Staaten repräsentierten die 1920er-Jahre eine Blütezeit von Theorie und Praxis des Künstlerschaufensters („Art-in-Advertising“). Selbst New Yorker Museumsleiter mussten neidvoll einräumen, dass sich zwischenzeitlich große Warenhäuser als erfolgreiche Mittler von Kunst etabliert hatten. Ganz im Sinne der hehren Vorstellungen des Deutschen Werkbundes aus den 1910er-Jahren waren Schaufenster dort in der Tat zu einem Medium von Kultur avanciert. Doch entsteht der Eindruck einer verkehrten transatlantischen Welt. Wie in Deutschland verfolgten auch amerikanische Kommentatoren – wie zum Beispiel Thorstein Veblen – die Vermischung von Kunst und Kommerz mit kulturkritischer Sorge. Gefahr bestand aus amerikanischer Perspektive jedoch nicht so sehr für die Kunst, die sich dem Mammon verschreibe. Gefahr witterte man vielmehr für die Reinheit des Handels und der Waren. Das puritanische Selbstverständnis sah die Kunst gerne als Ausdruck von Oberflächlichkeit und Lasterhaftigkeit – in Verbindung mit der nicht minder blendenden Werbung schien sie die Authentizität der Ware zu beeinträchtigen und galt daher als moralisch höchst fragwürdig.

Das große Verdienst dieser Arbeit besteht darin, das Medium „Schaufenster“ erstmalig ins Zentrum einer historiografischen Studie gerückt zu haben. Die unterschiedlichen Quellengattungen und Zugriffe machen die Lektüre des Bandes einerseits abwechslungsreich, vermitteln andererseits aber auch immer wieder ein Gefühl von Inkonsistenz. Die kunstgeschichtliche Beschreibung und Beobachtung so genannter Künstlerschaufenster, also von künstlerisch gestalteten Schaufenstern ebenso wie von gemalten Schaufenstern, bezieht zu Recht zuweilen auch die Erwartungshaltungen des jeweiligen „Publikums“ ein, hätte aber insgesamt noch schärfer die sozialgeschichtlichen Implikationen dieser Inszenierungen und Darstellungen hinterfragen dürfen. Vor allem mit dem hier gebotenen kursorischen Überblick zur zeitgenössischen Schaufenstertheorie und -literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ein tragfähiges Fundament gelegt, das sich nicht nur für die Geschichte der Produktkommunikation sowie insbesondere für die Geschichte des Selbst- und Fremdbildes von professionellen Produktkommunikatoren, sondern für eine Geschichte persuasiver Kommunikationen und für die Gesellschaftsgeschichte insgesamt als anschlussfähig und wertvoll erweisen wird.

Anmerkungen:
1 Emerson, Ralph Waldo, Essays and Lectures. The Conduct of Life, New York 1983 (Erstausgabe 1860), S. 1020f.
2 Siehe dazu Gries, Rainer, Die Medialisierung der Produktkommunikation. Grundzüge eines kulturhistorischen Entwurfs, in: Knoch, Habbo; Morat, Daniel (Hgg.), Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880–1960, München 2003, S. 113-130.
3 Vgl. Doering-Manteuffel, Anselm, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999.