B. Schlink: Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht

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Titel
Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht.


Autor(en)
Schlink, Bernhard
Reihe
es 2168
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
156 S.
Preis
€ 8,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Weinke, American University - World Capitals Program/Berlin Semester, Berlin European Studies (BEST) Program

In seiner Laudatio auf den Romanautor Bernhard Schlink äußerte Christoph Stölzl seinerzeit die Vermutung, dass die rechtsphilosophischen Sätze aus Der Vorleser früher oder später auch in "die öffentlich-politische Sphäre" wandern würden. Während insbesondere in den USA eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Schlinks schriftstellerischem Œvre eingesetzt hat, steht eine Gesamtanalyse seiner wissenschaftlichen, literarischen und publizistischen Arbeiten hierzulande noch aus. Dies ist insofern bedauerlich, als Schlink einer der wenigen, wahrscheinlich sogar der einzige deutsche Intellektuelle ist, der sich sowohl als Schriftsteller als auch als Wissenschaftler kontinuierlich mit der durch die NS-Vergangenheit aufgeworfenen Schuldfrage auseinandergesetzt hat. Vor diesem Hintergrund erscheint es lohnenswert, nach eventuellen Querverbindungen zwischen rechtsphilosophischem Theoriegebäude und dessen literarischer und publizistischer Konkretisierung zu fragen sowie Grundmotive und Narrative eines mal rational-wissenschaftlichen, mal künstlerisch-ästhetischen Bewältigungsdiskurses zu untersuchen, anhand derer sich Schlinks Beitrag zur Erinnerungs- und Gedächtniskultur der neunziger Jahre bemessen lässt.

Vielleicht waren es ähnliche Überlegungen, die den Frankfurter Suhrkamp-Verlag dazu bewogen haben, in seiner renommierten "ed"-Reihe eine Essaysammlung des in Berlin lehrenden Rechtswissenschaftlers herauszubringen. Wie es im Vorwort heißt, handelt es sich dabei um ein Buch für "juristisch Interessierte", welches jedoch "keine juristischen Vorkenntnisse" verlangt (S. 8). Dieser Anspruch wird, um es vorwegzunehmen, durchaus eingelöst. Ungeachtet des bleischweren Titels kann die Publikation somit all jenen zur Lektüre empfohlen werden, die sich für die übergreifende Frage interessieren, wie sich das Spannungsverhältnis zwischen rechtsstaatlicher Selbstbindung und gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen in der alten und neuen Bundesrepublik auf den Umgang mit "staatsverstärkter Kriminalität" (Wolfgang Naucke) ausgewirkt hat.

Das schmale Bändchen umfasst insgesamt sechs Einzelaufsätze, Artikel und gedruckte Vorträge aus den Jahren 1987 bis 2001, die sich im weiteren Sinne mit dem Problem der Diktaturfolgenbewältigung und der Frage nach Möglichkeiten und Grenzen einer rechtlichen Aufarbeitung staatlicher Menschenrechtsverletzungen beschäftigen. Eingeleitet wird die Sammlung durch ein knappes Vorwort des Verfassers. Nur implizit deutet dieser darin an, dass es sich offenbar bei allen Texten um unveränderte Wiederabdrucke früherer Veröffentlichungen handelt. Abgesehen von Restitutionsfragen widmet sich Schlink dem gesamten Spektrum möglicher juristischer Reaktionen auf den Systemwechsel von der Diktatur zur Demokratie. Beleuchtet werden die Genese des modernen juristischen Schuldbegriffs und dessen inhärente Beschränkungen zur Erfassung kollektiver Schuldzusammenhänge, die Bedeutung des grundgesetzlichen Rückwirkungsverbots für die strafrechtliche Aufarbeitung von SED-Unrecht sowie die arbeitsrechtlichen Folgen des Einigungsvertrages auf den Umgang mit MfS-belasteten Mitarbeitern. Abgerundet wird die Sammlung durch einen Beitrag zur institutionell-habituellen Bewältigungsstrategie der westdeutschen Staatsrechtslehre sowie einer ursprünglich in einer "Spiegel"-Sonderausgabe von 2001 erschienenen Betrachtung zur ambivalenten Rolle der 68er-Generation in den historisch-politischen Auseinandersetzungen um die NS-Vergangenheitslast.

Am Ausgangspunkt eines 1987 gehaltenen Vortrags zum Thema "Recht-Schuld-Zukunft" steht die Feststellung, die Bundesdeutschen hätten nach 1945 insgesamt ein Verhalten an den Tag gelegt, das untergründig von dem Wunsch geleitet gewesen sei, einer kollektiven "Schuld- und Verantwortungsgemeinschaft" zu entkommen (S. 29). Dieses Bestreben sei in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erkennbar gewesen und habe sich in den unterschiedlichsten Formen und Zusammenhängen manifestiert. In der gleichzeitigen Leugnung einer geschichtlichen Kontinuität zum Nationalsozialismus einerseits und dem indirekten Wiederanknüpfen an das offiziell verfemte NS-Erbe andererseits liegt für den Rechtswissenschaftler Schlink kein Widerspruch, geht er doch davon aus, dass geschichtliche Zusammenhänge ohnehin nicht zerrissen, "sondern nur im Versuch des Zerreißens verleugnet" werden könnten (S. 19). Vielmehr hält er die Kultur der Geschichtslosigkeit und Geschichtsverfälschung für Symptome eines tiefergehenderen Problems. So komme darin die Anerkennung eines kollektiven Schuldzusammenhangs zum Ausdruck, welcher mit neuzeitlichen Vorstellungen einer individuell und subjektiv definierten Schuld kollidiere. Neben dem engen strafrechtlichen Schuldverständnis habe sich ein breiterer, alltäglicher Schuldbegriff behaupten können, welcher sich auf Handlungen und Unterlassungen beziehe, die im Widerspruch zu Normen der Religion, der Moral, des Takts, der Sitte und des Funktionierens von Kommunikation und Interaktion stünden (S. 12).

Um bestimmen zu können, inwieweit die im Unterbewusstsein weiterwirkende Vorstellung eines gemeinsamen deutschen Schuld- und Verantwortungszusammenhangs entweder als Rückfall in ein bereits überwundenes, vormodernes Schuldverständnis gedeutet oder aber aufgrund allgemein anerkannter ethischer Prinzipien rational begründet und gerechtfertigt werden kann, differenziert Schlink zwischen dem archaischem Kollektivschuldprinzip und anderen überindividuellen Verschuldenskategorien im Umgang mit dem Nationalsozialismus. Letztere beträfen all jene Personengruppen, die nicht wegen konkreter Beteiligung an Verbrechen, sondern allein aufgrund ihres Verhaltens gegenüber Tätern und Taten schuldig geworden seien. Schlink will dazu zum einen diejenigen Zeitgenossen der Tätergeneration gezählt wissen, die Widerstand und Widerspruch gegen das NS-Regime unterlassen hätten, obwohl sie dazu fähig gewesen wären. Zum zweiten fielen darunter diejenigen Personen, die nach 1945 kraft Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Kollektiv wie Familie, Verband, Organisation oder Volk in einer Solidargemeinschaft zu den Tätern gestanden hätten und diese Solidarität in "lernunwilliger" Haltung nicht aufgekündigt hätten. Für die Nachkriegsdeutschen als Kollektiv gelte somit der pauschale Vorwurf, dass sie durch das "Nichtlossagen, Nichtverurteilen, Nichtverstoßen" neue, eigene Schuld auf sich geladen hätten (S. 29f.). Daneben konstatiert Schlink noch eine dritte, hypothetische Verschuldenskategorie: Für den Fall, dass nach Kriegsende eine konsequente Lossagung von Tätern und Beteiligten durch revolutionäre Massenexekution oder rechtsstaatliche Aburteilung stattgefunden hätte, wären neben Schuldigen immer auch Unschuldige getroffen worden. Da also sowohl die aufrechterhaltene Solidarität mit den Tätern als auch deren Verstoßung aus den eigenen Reihen unweigerlich eine neue, sozusagen sekundäre Schuld nach sich gezogen hätte, bestehe ein unauflösbarer Schuldzusammenhang zwischen Tätern, Zeitgenossen und nachfolgender Generation. Dieses Dilemma ist gemeint, wenn in etwas pathetischem Ton von tragischen "Netzen der Schuld" gesprochen wird (S. 30).

Auch im zweiten Beitrag "Rechtsstaat und revolutionäre Gerechtigkeit" geht es um die Belastungen von Vergangenschuld für den demokratischen Nachfolgestaat. Im Mittelpunkt der Betrachtungen steht allerdings nicht die NS-Vergangenheit, sondern die Aufarbeitung des realsozialistischen Erbes durch die rechtsstaatliche Justiz der neuen Bundesrepublik. Der Verfasser konstatiert einen "besondere[n] deutsche[n] Eifer bei der strafrechtlichen Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit" und fragt nach den Gründen für diese vermeintliche nationale Eigenheit (S. 43). Überraschenderweise stehen für ihn weder die politischen Hinterlassenschaften der Revolution von 1989 noch die rechtliche Ausgangslage des deutsch-deutschen Einigungsvertrages im Vordergrund, sondern für entscheidend hält er vielmehr die sozialpsychologischen Umstände des Vereinigungsprozesses. So manifestiere sich in der strafrechtlichen Abrechnung mit den Eliten des untergegangenen Systems quasi ein "doppelter" Exkulpationswille: Einerseits lasse sich mit Strafprozessen der durch den Westen forcierte Elitenwechsel im Osten legimitieren, andererseits verschaffe er all jenen Ostdeutschen moralische Erleichterung, die sich nicht als Elite oder in Exzessen exponiert hätten (S. 47). Die strafrechtliche Abrechung mit dem untergegangenen Regime konstituiere somit eine "Gemeinschaft der vielen Unschuldigen". Gleichzeitig werde dadurch, dass man sich von den Exzessen distanziere, die Möglichkeit geschaffen, "auch schlimme Abschnitte der Geschichte in das individuelle und kollektive geschichtliche Bewußtsein" zu integrieren (S. 42).

Thema eines anderen Aufsatzes ist der bundesdeutsche Sonderweg in der Frage des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots. Schlink setzt sich hier zunächst mit den Konnotationen dieses umstrittenen Begriffs auseinander, in dem sich gleichermaßen der Anspruch der protestantischen Arbeitsethik wie die idealistische deutsche Sehnsucht nach dem Unmöglichen spiegeln würden: Vergangenheitsbewältigung, so Schlink, suggeriert die unmögliche Vorstellung, man könne "das Vergangene so in Ordnung bringen, dass seine Erinnerung nicht mehr auf der Gegenwart lastet" (S. 89). Auch das Recht, das seine gestalterischen Wirkungen lediglich in Gegenwart und Zukunft, nicht aber in der Vergangenheit ausübe, könne diese Funktion nicht erfüllen. Allerdings könne das Recht gleichermaßen für die Bedürfnisse des Erinnerns und Vergessens instrumentalisiert werden: Während "Sieger- oder Vergessenskulturen" die Bedürfnisse der Opfer ausblendeten, versuchten "Opfer- oder Erinnerungskulturen" den Opfern auf dem Wege von Strafverfolgung, Wiedergutmachung und Akteneinsicht Anerkennung zu zollen. Ob ein Nachfolgesystem sich für die eine oder andere Alternative entscheide, ist Schlink zufolge kein politisch-moralisches Problem, sondern wirft allenfalls die funktionale Frage auf, wie es einer Gesellschaft am besten gelingen kann, die vergangenen Furchtbarkeiten in die kollektive Biografie zu integrieren und den friedlichen Übergang in die Zukunft zu schaffen (S. 94). Die Indienstnahme des Rechts in die eine oder andere Richtung sei deshalb nicht "bloße Instrumentalisierung", sondern gleichzeitig auch legitime Ingeltungsetzung des Rechts, welche allerdings unweigerlich den Preis fordere, das Recht "mit seiner anderen Seite" in Konflikt zu bringen (S. 106).

Fragt man nach einem übergreifenden Grundmotiv des Schlinkschen Konzeptes zur Vergangenheitsschuld und deren juristischer Aufarbeitung, scheint dies das Narrativ einer "nationalen Einzigartigkeit" bzw. eines "deutschen Sonderschicksals" zu sein. Dabei handelt es sich um Variationen eines Themas, das in drei unterschiedlichen Zusammenhängen in Erscheinung tritt: Zum Ersten fußen die rechtsphilosophischen Erörterungen auf der Prämisse einer Einzigartigkeit deutscher Schuld, welche sich sowohl durch die Schwere der NS-Verbrechen wie die kollektive Verstrickung aller Gesellschaftsteile konstituiert. Zum Zweiten tritt in den Texten die Einzigartigkeit eines "deutschen Bewältigungsdilemmas" nach Kriegsende hervor. Diese Vorstellung basiert auf dem Konstrukt einer "tragischen Schuldgemeinschaft" bzw. einer schuldhaften Symbiose zwischen Tätern, Zuschauern und Angehörigen der zweiten Generation, welche das rationale Pendant zur unterschwellig weiterwirkenden Volksgemeinschaft bilden soll. In dieses Muster passt im Übrigen auch die idealistische Überhöhung des Generationenkonflikts von "1968": In Anknüpfung an selbststilisierende Geschichtsmythen geht Schlink davon aus, dieser sei vorwiegend auf den Schlachtfeldern der Vergangenheitsbewältigung ausgetragen worden, während sich inzwischen längst die Erkenntnis herauskristallisiert hat, dass die NS-Vergangenheit in Wirklichkeit eher ein Nebenschauplatz der Auseinandersetzungen darstellte. Zum Dritten ist in den nach der "Wende" entstandenen Schriften von der Einzigartigkeit eines deutschen juristischen Sonderweges im Umgang mit dem Kommunismus die Rede. Auch hier stellt sich jedoch die Frage nach empirischen Grundlagen und normativen Bewertungsmaßstäben des Verfassers: So kontrastiert der Vorwurf eines spezifischen deutschen Verfolgungseifers nicht nur mit niedrigen Verurteiltenziffern, sondern auch mit der aktuellen völkerrechtlichen Entwicklung, die bekanntlich seit einigen Jahren mit der Herausbildung transnationaler Rechtsgrundlagen auf staatliche Kriminalität reagiert. Wie die jüngst erfolgte Kodifizierung eines internationalen Völkerstrafrechts zeigt, erledigt sich Problematik staatlicher Menschenrechtsverletzungen nicht mit mehr dem Argument, im Vergleich zum NS seien alle übrigen staatlichen oder staatsähnlichen Verbrechen als juristisch irrelevant zu betrachten.

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