H. Schmuhl u.a. (Hgg.): Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten

Cover
Titel
Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933.


Herausgeber
Schmuhl, Hans; Rürup, Reinhard
Reihe
Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus 4
Erschienen
Göttingen 2003: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
358 S.
Preis
€ 27,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernward Dörner, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Schon vor 1933 verwandten Psychiater, Kriminalbiologen, Hirnforscher, Anthropologen und Biologen - mit wissenschaftlichem Anspruch - den Begriff „Rasse“. Kaiser-Wilhelm-Institute (KWI) waren an der „Rassenforschung“ mit ihren mörderischen Konsequenzen führend beteiligt.1 Der vorliegende vierte Band der Geschichte der KWI im Nationalsozialismus beleuchtet das Thema sowohl wissenschafts-, als auch institutions- und personengeschichtlich.

Er setzt die Aufarbeitung der Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) im Auftrag der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) fort, die sich in einem Forschungsprojekt den dunklen Teilen ihrer Geschichte – nach jahrzehntelangem Schweigen und Verdrängen - stellt. Nach einer „Bestandsaufnahme“ zu Beginn des Projekts 2 sind bislang Bände zur Pflanzenzucht und Agrarforschung 3 sowie zur Rüstungsforschung 4 erschienen. Ein Ende 2003 veröffentlichter Band dokumentiert ein Symposium mit Überlebenden der Menschenversuche. 5

Der von Hans-Walter Schmuhl herausgegebene Sammelband wird eingeleitet mit Überlegungen zu den Wechselwirkungen zwischen „Rasse“, „Rassenforschung“ und „Rassenpolitik“. Schmuhl betont, dass drei Forschungseinrichtungen des KWI im Sinne der „Rassenforschung“ in einem „Flechtwerk aus Wissenschaft und Politik“ Leitfunktionen ausübten: Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem, die deutsche Forschungsanstalt (DFA) für Psychiatrie in München, die 1924 den Status als KWI erhalten hatte, und das KWI für Hirnforschung in Berlin-Buch. Wie dort arbeitende Wissenschaftler an der Legitimierung und Umsetzung der nationalsozialistischen Erb- und Rassenpolitik mitwirkten, beleuchtet der Sammelband. Die Institute besaßen als „Knotenpunkte eines engmaschigen Netzwerks“ (S. 20) eine Schlüsselstellung im Wissenschaftsbetrieb. Die Buchbeiträge beleuchten das Handlungsfeld der „Rasseforscher“ unter wissenschaftstheoretischen und ethisch-politischen Gesichtpunkten.

Volker Roelke setzt sich mit der psychiatrischen Genetik an der DFA unter dem Psychiater Ernst Rüdin auseinander. Hierbei untersucht er, inwieweit „Rasse“ als „forschungsleitendes Konzept“ (Schmuhl) eine Rolle spielte. Roelke betont, dass der Terminus „Rasse“ in analytischen Kontexten bei Rüdin „marginal“ gewesen sei, ihm jedoch als „Referenzbegriff“ (S. 66) gedient habe. Eine Teilung seiner Forschungen „in eine kreative und solide Phase, frei von Rassengedanken“ vor 1933 und eine „wissenschaftlich fragwürdige bis rein ideologisch überformte Phase“ (S. 67) danach, sei unangemessen.

Wie Roelke versuchen auch die anderen Autoren ‚einfache Erwartungen’ über die „Rasseforscher“ zu enttäuschen. Richard F. Wetzell setzt sich mit der kriminalbiologischen Forschung an der DFA auseinander. Wetzell belegt, dass eine Diskrepanz zwischen Rüdins „rassehygienischen Maximalprogramm“ (S. 71) und den Ergebnissen der von ihm seit 1931 geleiteten Forschungseinrichtung existierte. Die „Elite- und Rassengehirnforschung“ der Mediziner und Hirnforscher Oskar und Cecile Vogt untersucht Michael Hagner. Er zeigt auf, dass das Forscherehepaar schon vor 1933 zu vermeintlichen „Elite-“, „Verbrecher-“ und „Rassengehirnen“ forschte, dass ihre Vorstellungen jedoch von NS-Rassenkonzepten grundsätzlich abwichen. Politische und persönliche Konflikte trugen dazu bei, dass sie aus dem KWI für Hirnforschung herausgedrängt wurden. Helga Satzinger beleuchtet in ihrem Beitrag zu den politischen und wissenschaftlichen Dimensionen der Forschung an diesem Institut vor und nach 1933, dass das Vogtsche Rassenkonzept („Krankheiten als Rassen“) vor allem evolutionsbiologisch motiviert war. Der Begriff „Rasse“ sei von dem Forscherpaar vor allem forschungstaktisch benutzt und nach der Machtübernahme vermieden worden.

Einen Überblick über die „Hauptforschungseinrichtungen“ und Aktivitäten am KWI für Anthropologie im Nationalsozialismus leistet der Beitrag von Benoit Massin. Den Zusammenhang von Tier- und Menschenversuchen zu Fragestellungen aus der Luftfahrtmedizin und Tuberkuloseforschung bei dem Zoologen und Genetiker Hans Nachtsheim untersucht Paul Weidling. Er belegt dessen Mitschuld „an einem rassistisch motivierten Forschungsprogramm […], das erzwungene Experimente an menschlichen Versuchspersonen und skrupellose Morde in psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten mit einbezog“ (S. 274). Thomas Potthast untersucht „Rassenkreise“ und die Bedeutung des „Lebensraums“ am Gegenstand der „Tier-Rassenforschung in der Evolutionsbiologie“ nach den Theoremen des Biologen Bernhard Rensch. Er zeigt, dass Forschungsbemühungen, die sich mit dem Begriff „Rasse“ und seiner Bedeutung auseinandersetzten, keineswegs pauschal als pseudowissenschaftlich abgetan werden können.

Einen Kontrapunkt zu den Beiträgen des Bandes bildet der abschließende Aufsatz Doris Kaufmanns. In dem kulturanthropologischen Ansatz des in den 1930er-Jahren an der Columbia University lehrenden Anthropologen Franz Boas stellt sie einen „Gegenentwurf zur Rassenforschung“ in Deutschland vor.

Trotz mancher gemeinsamer Elemente gab es kein einheitliches wissenschaftliches ‚Rassenkonzept’, wie der Sammelband belegt. Buchstäblich jeder Aspekt der „Rassenforschung“ wurde verschieden, zum Teil konträr, beantwortet. Umstritten waren die Einteilung und die Abgrenzung der Lebewesen, die man einer „Rasse“ zuordnete, die Ursachen und die Entstehung von „Rassen“, ihre Wandelbarkeit, die Wirkung von „Rassenmischungen“, die Vererbungsgänge sowie das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt.

Solche Differenzen waren ideologisch problematisch, doch unvermeidbar. Den Nationalsozialisten fehlte sowohl Kompetenz wie Bereitschaft, die Widersprüche in der „Rassenforschung“ aufzuheben. Eine Analogie zu anderen Wissenschaftsfeldern (z.B. der Staats- und Strafrechtswissenschaft) und zur Verwaltungspraxis (polykratische Elemente) ist erkennbar.

Dies ändert nichts an dem verhängnisvollen Trend der damaligen Forschung. Die Verlockung, auf den rassistischen ‚Zeitgeist’ einzugehen, war für die Wissenschaftler groß: Seit 1933 eröffneten sich für die „Rassenforschung“ neue Möglichkeiten. Manche Wissenschaftler konnten sich als ‚Politikberater’ profilieren. In einem verbrecherischen System bedeutete dies, dass sie Verbrechen an wehrlosen Opfern ermöglichten, wenn nicht sogar ausnutzten.

Kritisch ist zu dem insgesamt sehr differenzierten und fundierten Sammelband folgendes anzumerken: Unangemessen erscheint, dass wiederholt Begriffe und Formulierungen ohne Anführungszeichen in den Texten verwendet werden, die ideologisch und politisch belastet sind, zum Beispiel: „Krankenvernichtung“ (S. 42), „Verbesserung der Rasse“ (S. 65), „Volksgemeinschaft“ (S. 66), „Volkskörper“ (S. 160), „Rassenbegutachtung“ (S. 201), „Rassenbiologie der Juden“ (S. 242).

Als nützlich erweist sich, dass der vorliegende Band durch ein Personenregister erschlossen ist; Kurzbiografien informieren über den Werdegang wichtiger wissenschaftlicher Akteure (S. 328-345).6

Insgesamt zeigt der Sammelband, dass der Grad der Involvierung der Wissenschaftler in die NS-Staatsverbrechen stark differiert. Von zum Teil widerständigem Verhalten – durch Verstecken von jüdischen Verfolgten (Cecile und Oskar Vogt) - über erhebliche Distanz zum Nationalsozialismus bei terminologischen Zugeständnissen (Bernhard Rensch), bis zur Übernahme protagonistischer Rollen im rassistischen Terrorsystem (Ernst Rüdin, Otmar v. Verschuer, Eugen Fischer) reicht das Spektrum. Den Sammelband zeichnet aus, dass er auch das Handeln damals jüngerer Wissenschaftler im Schatten der Hauptakteure betrachtet und so mehr Licht in die immer noch unerforschten „Grauzonen“ wissenschaftlichen Handelns zu bringen versucht.

Anmerkungen:
1 Der Kölner Genetiker Benno Müller-Hill war einer der ersten, der diese Wissenschaftsverbrechen öffentlich thematisiert hat: Tödliche Wissenschaft. Die Aussonderung von Juden, Zigeunern und Geisteskranken 1933-1945, Reinbek 1984.
2 Kaufmann, Doris (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung (Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1), Göttingen 2000.
3 Heim, Susanne (Hg.), Autarkie und Ostexpansion. Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialismus (Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus 2), Göttingen 2002; Dies. (Hg.), Kalorien, Kautschuk, Karrieren. Pflanzenzüchtung und landwirtschaftliche Forschung an Kaiser-Wilhelm- Instituten 1933 bis 1945 (Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus 5), Göttingen 2003.
4 Maier, Helmut (Hg.), Rüstungsforschung im Nationalsozialismus. Organisation, Mobilisierung und Entgrenzung der Technikwissenschaften (Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus 3), Göttingen 2002.
5 Sachse, Carola (Hg.), Die Verbindung nach Auschwitz. Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten. Dokumentation eines Symposions (Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus 6), Göttingen 2003, hier: Markl, Hubert, Die ehrlichste Art der Entschuldigung ist die Offenlegung der Schuld, S. 41-51.
6 Wolfgang Abel, Franz Boas, Karl Diehl, Eugen Fischer, Karl Gebhard, Kurt Gottschaldt, Kurt Heissmeyer, Hans Klein, Johannes Lange, Fritz Lenz, Hans Luxenburger, Karin Magnussen, Josef Mengele, Hermann Muckermann, Hans Nachtsheim, Berthold Ostertag, Bernhard Patzig, Bernhard Rensch, Ernst Rüdin, Friedrich Stumpel, Nikplaj Vladimirovich Timoféeff-Ressovsky, Otmar Freiherr von Verschuer, Cecile Vogt geb. Mugnier, Oskar Vogt und Hans Weinert. In Mengeles „Biogramm“ lädt eine ungeschickte Formulierung zu Fehldeutungen ein, wenn festgestellt wird, er sei „1979 angeblich gestorben“.

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