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Titel
Tod, Jenseits und Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Thanatologie


Herausgeber
Assmann, Jan; Trauzettel, Rolf
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie e.V. 7
Erschienen
Freiburg 2002: Karl Alber Verlag
Anzahl Seiten
832 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Otto Danwerth, Museum für Völkerkunde Hamburg

Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit ist genuin menschlich. Obwohl alle Menschen sterblich sind, gestaltet sich der Umgang mit dem Tod in vielen Kulturen und Epochen höchst unterschiedlich. Der Tod ist also ein historisch-anthropologisches Thema par excellence. Es mangelt nicht an einschlägiger Literatur, wohl aber an interdisziplinärem Austausch und einer kulturwissenschaftlichen Komparatistik des Todes. Diesem Desiderat möchte der hier besprochene Sammelband abhelfen. Er fasst drei Tagungen zusammen, welche das Institut für Historische Anthropologie 1995-96 in Sankt Augustin, Heidelberg und Bad Homburg veranstaltete.

Das Buch umfasst drei thematische Teile: Tod und Identität, Tod im Leben, Funeralriten und Jenseitsvorstellungen. Welche Aspekte die 40 Beiträge der 33 AutorenInnen beleuchten, kann hier nur exemplarisch vorgestellt werden. Im Anschluss daran folgen einige übergreifende Anmerkungen zu dem Band.

Der erste Teil über „Tod und Identität“ beginnt mit einer Skizze komparatistischer Problemhorizonte (S. 30-40). Der Sinologe Rolf Trauzettel stellt idealtypisch Einstellungen des Individuums zum Tod innerhalb des „christlich-abendländischen“ dem „vorneuzeitlich-chinesischen“ Modell gegenüber. Auch Justin Stagl (S. 41-54) operiert mit einer Gegenüberstellung: Während die in modernen Sozialverbänden zu beobachtende durchgängige Identität ihrer Mitglieder den Tod zu einem sinnlosen Ereignis mache, ließen „archaische“ Gesellschaften Identitätswechsel zu, die dem Tod als der letzten Metamorphose einen Sinn verleihen.

Alois Hahns Beitrag (S. 55-89) referiert französische Forschungen zum Todesproblem in der europäischen Geschichte. Er konstatiert zwei Wende-Zeiten, an denen signifikante Änderungen der Haltungen zum Tod auftraten: eine im 12. Jahrhundert entstandene Individualisierung des Jenseitsschicksals und eine Säkularisierung des Todes im späten 18. Jahrhundert. Ausgehend von den aufklärerischen Befürchtungen gegen die traditionelle jüdische Bestattung zeigt Daniel Krochmalnik, wie die Scheintodfrage im 18. Jahrhundert zu einem Modethema wurde (S. 290-318).

Burkhard Gladigow widmet sich der Entstehung des „Ich“ in der griechischen Antike (S. 90-109). Im 6. Jahrhundert v.Chr. stellt er eine „psychologische Wende“ fest: Aus mehreren Körperseelen wurde eine innere, unsterbliche Seele. Moshe Barasch verfolgt die ikonografische Repräsentation der Seele in zwei Richtungen (S. 138-172): In der physiognomischen Tradition gelte der Körper als Ausdruck der Seele, die selbst nicht visualisiert wird. In der symbolischen Richtung dagegen, die sich vorwiegend in der christlichen Kunst bis zur Renaissance findet, werde die Seele zwar dargestellt, sei aber entindividualisiert.

„Direkte“ Porträts verstorbener Menschen stellen Totenmasken dar, von denen Claudia Schmölders‘ Beitrag handelt (S. 173-193). Martin Schulz untersucht die mediologischen Bedingungen der fotografischen Repräsentation von Toten (S. 740-763).

Im zweiten Teil des Bandes werden Blicke auf den „Tod im Leben“ geworfen. Zu Beginn skizziert Klaus E. Müller Todesbilder in traditionellen Gesellschaften (S. 204-222). Die fließenden Übergänge zwischen Tod und Leben betrachtet Hans-Peter Hasenfratz (S. 223-229): Gegen unselige Tote, die keine Ruhe finden, helfen allein magische Abwehrhandlungen und/oder ein zweiter Tod. Andererseits können außerhalb gesellschaftlicher Normen Stehende einen sozialen Tod noch im Leben erleiden. Man kann als Toter lebendig und als Lebender tot sein.

Jan Assmanns Beitrag über die Todesbefallenheit im alten Ägypten (S. 230-251) geht aus von der sozialen Eingebundenheit („Konnektivität“) der Ägypter, die nach dem Tod nicht endete. Aus der Lebendigkeit verabschiedete sich, wer habgierig und dumm agierte. Claus Wilcke schildert, wie wenig „spektakulär“ man dagegen in Mesopotamien mit den Toten umging (S. 252-266). Nachdenken über den eigenen Tod und Kontakt zu Toten sind jedoch in den (mythologischen) Quellen der alten Babylonier sehr wohl greifbar.

Das komplementäre Verhältnis von Leben und Tod im chinesischen Daoismus stellt Hans-Georg Möller unter philosophischer und religiöser Betrachtung dar (S. 267-276). Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod und Suche nach Unsterblichkeit sind zwei Aspekte der daoistischen Idee der Permanenz, die dem Tod den Stachel zu nehmen sucht. Rolf Trauzettel verdeutlicht, wie der Tod in der Spielart des Chan-Buddhismus mystisch „überlistet“ wird (S. 277-289).

Klaus Oettinger zeigt, dass der „Ackermann aus Böhmen“ des Johannes von Tepl (Anfang des 15. Jahrhunderts) eine literarische Form von Trauerarbeit darstellt (S. 319-331). Auch Eva Horn beschäftigt sich mit Trauertexten (S. 332-345). Während barocke Texte den Tod in Form von Skeletten mitten ins Leben stellten, bestimmten im späten 18. Jahrhundert zunehmend stille Trauer und die Idee des Todes als Schlafes Bruder den Diskurs.

Der dritte Teil des Buches handelt von „Totenriten und Jenseitslandschaften“. Thomas Macho analysiert einleitend die „Logik der Sekundärbestattung“ (S. 404-419). Bei dieser weitverbreiteten Praxis wurde die Leiche nach einer ersten Bestattung exhumiert und „entfleischt“. Erst mit einer Zweitbestattung war der Übergang vom Leben zum Tod endgültig abgeschlossen.

Auch das altägyptische Totenritual kennt solche „rites de passages“, wie Jan Assmann zeigt (S. 420-436). Er deutet die „Nacht vor der Beisetzung“ als die rituelle Inszenierung des Totengerichts, wodurch der Verstorbene von Schuld befreit wird und in die Götterwelt eintreten kann. Mit Pharaos zwölf Stunden dauernder, nächtlicher Reise in den „Weltinnenraum“ beschäftigt sich Erik Hornung (S. 613-629).

Ulrich Demmer zeigt im Totenritual der Jenu Kurumba (Südindien) das korrespondierende Schicksal von Trauernden und Toten auf (S. 437-460). Die Aufnahme der Verstorbenen in die Unterwelt wird durch die Versöhnung des Toten mit der Gemeinschaft in einem argumentativen, moralischen Diskurs hergestellt. Theo Sundermeier deutet afrikanische Trauerriten (Herero, Zulu, Nyakysusa) als Formen emotionaler Kommunikation (S. 515-529).

Der Glaube an eine postmortale Existenz beschränkt sich Alois Hahn zufolge in fast allen menschlichen Kulturen nicht auf ein Jenseits (S. 575-586). Er ist auch im Diesseits möglich, z.B. als Weiterleben im Gedächtnis oder als Wiedergeburt. Erst wenn „den Toten eine reale, von unseren Erinnerungen unabhängige Existenz vindiziert wird“ (S. 580), solle man von Jenseitsvorstellungen sprechen.

Angelika Malinar verfolgt zwei altindische Traditionen (S. 764-798): die Wiederverkörperung in einer Himmelswelt (vedische Ritualtradition) und den Abschied vom Ich (Erlösungslehren). Livia Köhns Beitrag (S. 630-656) handelt von den Jenseitsvorstellungen im mittelalterlichen Daoismus, der Hochreligion des traditionellen China. Das Jenseits war zweigeteilt in ein höllenartiges Totenreich und in das Paradies der Unsterblichen, die als Beamte der himmlischen Verwaltung agierten. Durch ekstatische Reisen und Visualisationen versuchten die Menschen, sich auf das Paradies vorzubereiten.

Das Alte Testament schweigt weitgehend über ein Leben nach dem Tod. Das hebräische Wort für Jenseits, „Sheol“, bezieht sich auf nicht lokalisierbare „Jenseitslandschaften“, die Thomas Podella nachzeichnet (S. 530-561). Im frühen Judentum gab es auch keine Vorstellung von der himmlischen Unsterblichkeit der Menschen, wie Bernhard Lang in seinem Beitrag über die Genese jüdischer und christlicher Jenseitsdogmen zeigt (S. 680-700). Der Jude Paulus führt den Mythos an, dass erst Jesu Tod den Gläubigen unsterbliches Leben durch die Auferstehung ermögliche.

Aus medizinischer Sicht diskutiert Michael Schröter-Kunhardt empirisch-biologische Grundlagen von Nah-Todeserfahrungen (NDE) (S. 712-739). Die Übereinstimmung einiger Merkmale – Verlassen des Körpers, Tunnel, Lebensfilm – mit nichtklinischen Beispielen aus „anderen“ Kulturen lassen auf eine transkulturelle Ähnlichkeit schließen.

Insgesamt fällt nach der Lektüre des Bandes zunächst die Gewichtung auf: Der dritte Teil (19 Beiträge) ist mit 400 Seiten etwa genauso lang wie die Teile I (neun Beiträge) und II (zwölf Beiträge) zusammen. Die Anordnung der Beiträge innerhalb der drei Teile erfolgte allerdings nicht immer systematisch. Hier hätte eine regionale bzw. historische Abfolge stringenter gewirkt. Im I. Teil hätten die kunsthistorischen Arbeiten von Schmölders und Schulz zusammengehört. Im II. Teil sollte man literaturhistorisch das 18. Jahrhundert nach dem Barock vermuten. Die größte Beliebigkeit herrscht im III. Teil: Weder die altägyptischen (Assmann, Hornung) noch die altchinesischen (Denecke, Trauzettel, Köhn) oder die altisraelischen Beiträge (Podella, Lang) wurden jeweils gebündelt. Alternativ hätten die Herausgeber aus dem ohnehin sehr langen III. Teil zwei einzelne Teile – jeweils zu Totenriten und Jenseitsvorstellungen – konzipieren können.

Neben dieser thematischen Gliederung lassen sich die Beitrags-Arten grob in drei Kategorien ordnen: „kulturspezifische“ Arbeiten, die sich Todeshaltungen einer bestimmten Kultur/Gruppe nähern; Überblicks-Artikel mit kulturvergleichender/systematischer Perspektive und schließlich literatur-, kunst- und musikwissenschaftliche Texte.

Bei der Auswahl der berücksichtigten Regionen in den „kulturspezifischen“ Beiträgen wird die disziplinäre Herkunft der Herausgeber – eines Ägyptologen und eines Sinologen – deutlich. Statistisch gesehen, dominieren hier Asien (Altchina mit sieben Texten, dazu Alt- und Südindien, Zentralasien) und der Alte Orient (drei ägyptologische Beiträge, zwei zu Altisrael, einer zu Babylonien); die griechische Antike, Afrika und Zentralamerika sind mit je einem Artikel vertreten. So bleiben viele thanatologisch interessante Kulturen leider ausgeklammert. Monothematische Beiträge beispielsweise zum Islam oder zu Altamerika (Totenkult der Azteken und Inka) hätten den Band bereichert.

Neben wenigen entbehrlichen Artikeln (z.B. zum Tod bei Unamuno) argumentieren die Beträge auf hohem Niveau und quellennah. Selbst wenn einige „kulturspezifische“ Texte auf den ersten Blick nur Fachleute ansprechen dürften, werden auch „Fachfremde“ von einer zweiten Lektüre profitieren, weil die Autoren die Quellenbasis und den Zugriff verständlich erläutern. Die kulturvergleichend/systematisch angelegten zwölf Texte rufen soziologische, ethnologische oder religionswissenschaftliche Klassiker ins Gedächtnis (Gennep, Durkheim, Hertz oder Elias). Sie schlagen Schneisen durch das materialreiche thanatologische Dickicht und machen auch „Novizen“ mit zentralen Fragestellungen vertraut. Das Spektrum reicht von archaischen Kulturen bis in die Gegenwart. Hervorzuheben ist auch die Einbeziehung der Künste; leider sind die schwarzweißen Abbildungen nur mäßig reproduziert.

Es ist also ein wahrhaft interdisziplinärer Band entstanden unter Beteiligung von VertreterInnen der Ägyptologie, Assyriologie, Judaistik, Altphilologie, Sinologie; Ethnologie, Soziologie; der Religions-, Literatur-, Kunst-, Musik- und Kulturwissenschaften sowie der Medizin und Psychologie. Erstaunlicherweise fehlen HistorikerInnen.

Als historiografisches Referenzwerk wird am häufigsten, zumeist aber unkritisch Ariès zitiert. Er stellte gewiss als erster Historiker die Todesthematik – bisweilen stark vereinfachend – in den Mittelpunkt, doch hat sich die thanatologisch orientierte Geschichtswissenschaft danach nicht nur in Frankreich (wie Hahn zeigt), sondern auch international weiterentwickelt – was in diesem Band nicht erkennbar ist. Obwohl es sich um kein Handbuch mit enzyklopädischem Anspruch handelt, vermisst man für den europäischen Kontext den neueren Forschungsstand. 1 Die ansonsten materialreichen bibliografischen Nachweise lassen sich über das sorgfältige Register (S. 799-832) gut erschließen.

Obwohl die historisch-anthropologische Methodologie in der Einführung (S. 12-27) nicht näher erläutert wird 2, überzeugt die Vielzahl der Zugänge: synchronistische Analysen innerhalb diachroner „Schnitte“, diachronistische Untersuchungen bestimmter Konzepte und komparatistische Perspektiven.

Die breite Themenpalette und die durchweg substanziellen, gut lesbaren Fallstudien machen dieses Buch zu einer empfehlenswerten Lektüre, die gemeinsam mit anderen rezenten Sammelbänden den Weg zu einer Komparatistik von Kulturen des Todes ebnen möge. 3 Dieser rote „Ziegelstein“ wird hoffentlich dazu beitragen, dass der Tod künftig nicht mehr aus wissenschaftlichen Debatten „verdrängt“ wird.

Anmerkungen:
1 Für eine historiografische Synthese siehe Dinzelbacher, Peter (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993, S. 231-274.
2 Vgl. Assmann, Jan, Der Tod als Thema der Kulturtheorie, Frankfurt am Main 2000.
3 Barloewen, Constantin von (Hg.), Der Tod in den Weltkulturen und Weltregionen, München 1996; Dracklé, Dorle (Hg.), Bilder vom Tod. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, Hamburg 2001; Steffenelli, Norbert (Hg.), Körper ohne Leben: Begegnung und Umgang mit Toten, Köln 1998.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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