K.-G. Karlsson u.a. (Hgg.): Echoes of the Holocaust

Cover
Titel
Echoes of the Holocaust. Historical Cultures in Contemporary Europe


Herausgeber
Karlsson, Klas-Göran; Zander, Ulf
Erschienen
Anzahl Seiten
295 S.
Preis
€ 60,12
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tanja Schult, Zentrum für Deutschlandstudien, Södertörns Högskola, Huddinge

Im Sommer 2003 nahm das „Forum für lebendige Geschichte“ (Levande Historia) in Stockholm offiziell seine Arbeit auf. Sein Ziel ist es, durch vertiefte Geschichtskenntnisse bessere gesellschaftliche Voraussetzungen für eine demokratische Zukunft zu schaffen. Ausgangspunkt dieses didaktischen Ansatzes ist der Holocaust – als (bisher) tiefste Zäsur der europäischen Zivilisation. Doch sollen andere Völkermorde ebenfalls Gegenstand der Auseinandersetzung sein, um allgemein die „Demokratie zu stärken“ und das „Verständnis für die Gleichwertigkeit aller Menschen zu steigern“. Wie Levande Historia diese etwas abgenutzt klingenden Ziele nun konkret umsetzt, bleibt abzuwarten. Schon die Gründung der Institution ist symptomatisch für das in Europa vermehrt zu verzeichnende Streben nach einer gemeinsamen Erinnerungskultur. Nunmehr ruft es kaum noch Verwunderung hervor, wenn es quasi als Voraussetzung eines EU-Beitritts osteuropäischer Staaten angesehen wird, dass die Kandidaten zuvor ihre historische Mittäterschaft bzw. Duldung des Holocaust bekennen. Zugleich verweist die Einrichtung der schwedischen Behörde Levande Historia jedoch darauf, dass es sich bei dieser Entwicklung eben nicht nur um einseitig an Osteuropa gestellte Bedingungen handelt – auch die westeuropäischen Staaten unterliegen diesem Veränderungsprozess. Selbst wenn der Mythos des im Krieg als neutral geltenden Landes noch nachwirken mag, zeigt Schweden exemplarisch, dass es sich dem nationalen Mythos stellt und das zu leisten versucht, was von den europäischen Ländern in Ost und West verlangt wird: die eigene Geschichte (als Bystander) selbstkritisch zu reflektieren und sich an der Diskussion zu beteiligen, wie eine gemeinsame Zukunft auf der Basis der Holocaust-Erinnerung aussehen kann.

Seit den 1990er-Jahren und insbesondere seit der Stockholmer Holocaust-Konferenz vom Januar 2000 ist die Beschäftigung mit dem Holocaust – und vor allem mit dessen Folgen – in Schweden auf vielfältige Weise deutlich spürbar. Ein Resultat ist die Publikation „Echoes of the Holocaust. Historical Cultures in Contemporary Europe“. Es handelt sich dabei um eine komprimierte Zusammenstellung von Zwischenberichten des 2001 initiierten Forschungsprojekts „The Holocaust and the European Historical Culture“.1 Acht Historiker, überwiegend bereits renommierte Wissenschaftler, veröffentlichen innerhalb dieses Sammelbands der Universitäten Lund, Stockholm and Uppsala ihre (vorläufigen) Ergebnisse über die Rolle, die der Holocaust seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Israel, den beiden deutschen Staaten und Österreich, Polen, dem deutsch-polnischen Grenzgebiet, den USA, Tschechien und der Slowakei, Russland sowie der Ukraine gespielt hat. Gezeigt wird, wann und wie der Holocaust Gegenstand der Auseinandersetzung war sowie zu welchem Zweck er ge- oder missbraucht wurde. Das Beeindruckende dieser Publikation ist vor allem die in der Einleitung zusammengefasste Präsentation des theoretischen Rahmens, der allen Artikeln zugrunde liegt. Dies ist umso erfreulicher, als die in Europa und den USA erschienene Literatur zum seit nunmehr 15 Jahren so beliebten Thema der Erinnerungskultur zwar in eine große Anzahl von Publikationen mündete, doch es sich dabei vorrangig um länderspezifische Einzelstudien handelte. „Echoes of the Holocaust“ ist zwar ebenfalls länderspezifisch ausgerichtet, doch werden zentrale Begriffe wie „Geschichtskultur“ sowie die verschiedenen Möglichkeiten der Anwendung von Geschichte diskutiert und definiert, und diese Kriterien fließen dann in die Analysen der Autoren ein. Entwickelt wurde die Typologie von Klas-Göran Karlsson, der das Projekt verantwortlich betreut.

Für einen mit dem Thema schon vertrauteren Leser ist zunächst ein wenig enttäuschend, dass es sich bei der überwiegenden Mehrheit der Beiträge um Zusammenfassungen schon vorhandener Forschungen handelt, die zum Teil auch bereits veröffentlicht wurden (zumindest auf Schwedisch). Zwar sind alle diese Beiträge gut geschrieben, und dank der umfangreichen Sprachkenntnisse berücksichtigen sie die gesamte derzeit relevante Literatur (und nicht nur englischsprachige Publikationen). Dennoch bietet sich wenig Neues, wenn einmal mehr die Entwicklungen der (Nicht-)Auseinandersetzung mit dem Holocaust in West- und Ostdeutschland sowie Österreich (Pär Frohnert) oder der durchschlagende Erfolg der Miniserie „Holocaust“ in den USA und nachfolgend in Deutschland (sowie in Dänemark und Schweden) referiert werden (Ulf Zander) – mit den Konsequenzen für das Holocaust-Bewusstsein im Allgemeinen sowie den Diskussionen um eine würdige oder angemessene Darstellung des Holocaust im Massenmedium Film. Doch natürlich darf in einer ländervergleichenden Darstellung der Erinnerungskultur auch nicht auf diese wichtigen Themen verzichtet werden. Die gelungenen Zusammenfassungen bieten Neueinsteigern mittels der nunmehr üblichen Wissenschaftssprache Englisch ein umfassendes und durch die Spezialisierung der Wissenschaftler solides Fundament über den Umgang mit dem Holocaust in verschiedenen europäischen Ländern. Darüber hinaus bedeutet die Entwicklung einer gemeinsamen Typologie den Versuch, eine Ebene für weiterführende Forschungen zu etablieren.

Zudem gibt es auch ergiebige Aufsätze mit weniger vertrauten Themen. Dabei fallen vor allem diejenigen Beiträge ins Auge, deren Autoren ihr Interesse auf Osteuropa richten (Klas-Göran Karlsson: The Holocaust and Russian Historical Culture; Johan Öhman: From Famine to Forgotten Holocaust; insbesondere der Beitrag von Tomas Sniegon: Their Genocide, or Ours? The Holocaust as a Litmus Test of Czech and Slovak Identities). Wenngleich hier, wie in der Einleitung erwähnt, besonders deutlich wird, dass es sich keineswegs um eine fertige Analyse, sondern um ‚Work in Progress’ handelt, zeigt Sniegons Beitrag doch den Wandel des europäischen Geschichtsverständnisses, der erst durch den Fall der Sowjetunion mit allen seinen Konsequenzen für Mittel- und Zentraleuropa möglich wurde. In der kommunistischen Ära der Tschechoslowakei war das fast vollständige Verschweigen des Holocaust symptomatisch, denn als das ‚absolut Böse’ galt hier der westliche Kapitalismus – wie umgekehrt während des Kalten Krieges im Westen das ‚absolut Böse’ nicht der Zweite Weltkrieg und der Holocaust war, sondern der Kommunismus. Erst nach der Teilung der Tschechoslowakei in zwei souveräne Staaten erwachte das Interesse an der Geschichte des Holocaust; der Fall der Sowjetunion hat es also überhaupt möglich gemacht, dass der Holocaust ein gemeinsamer (negativer) Bezugspunkt bei der Etablierung eines neuen europäischen Geschichtsverständnisses werden kann. Doch ist damit nicht gesagt, dass die Entwicklung dort und im übrigen Europa nach einem einheitlichem Muster verläuft: Verglichen mit anderen europäischen Ländern spielte der Holocaust sowohl in Tschechien als auch in der Slowakei für den politischen Alltag eine eher marginale Rolle. Interessant ist, dass der Holocaust nach Sniegon gerade im westlich orientierten Tschechien für die nationale Selbstfindung nicht zentral gewesen ist, während sich die Slowakei stärker mit der eigenen Vergangenheit als Vasallenstaat des „Dritten Reiches“ konfrontiert sah und dem Druck der großen slowakischen Diaspora in Nordamerika ausgesetzt war. Ebenso wie Karlssons Beitrag zur russischen Geschichtskultur macht dieses Beispiel deutlich, dass es trotz aller Anzeichen für eine Konvergenz der europäischen Geschichtskultur nicht zwangsläufig zu einer einheitlichen Holocaust-Erinnerung kommt – zu stark sind (noch) nationale Mythen, zu unterschiedlich die Bewertungen der Bedeutung des Holocaust. Solche nationalen Unterschiede sollten indes nicht als bloßes Defizit verstanden werden, sondern können auch ein Ausgangspunkt für ein plurales europäisches Geschichtsbild sein.

Anmerkung:
1 Siehe dazu auch den Tagungsbericht von Pär Frohnert unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=272>.

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