A. Angrick: Besatzungspolitik und Massenmord

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Titel
Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941-1943


Autor(en)
Angrick, Andrej
Erschienen
Anzahl Seiten
796 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Ganzenmüller, Historisches Seminar, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD spielten eine Schlüsselrolle bei der Durchführung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in der Sowjetunion. Dennoch ist bislang keine der vier Einsatzgruppen in ihrem gesamten Wirkungsbereich untersucht worden. 1 Diese Forschungslücke schließt Andrej Angrick in seiner Dissertation auf eindrucksvolle Weise. Der am Hamburger Institut für Sozialforschung tätige Historiker hat den gesamten Weg der Einsatzgruppe D zurückverfolgt: vom Schulungsort Pertzsch über die Bukowina und Bessarabien durch die südliche Ukraine bis auf die Krim und in den Kaukasus. Er begleitet sie auch auf dem Rückzug bis hin zur Auflösung der Einsatzgruppe und verfolgt einzelne Karrieren ihrer Angehörigen sogar noch bis in die Nachkriegszeit hinein. Dabei rekonstruiert Angrick den deutschen Vernichtungskrieg in der Sowjetunion in einer bisher kaum vorhandenen empirischen Dichte. Indem er seine Darstellung meist durch mehrfache Quellenbelege absichert, wird der Anmerkungsapparat zwar stark aufgebläht, doch sind die Aussagen dadurch abgesichert. Diese vorsichtige und detailgenaue Vorgehensweise ist sicherlich der grundsätzlichen Kritik an der ersten Wehrmachtsausstellung geschuldet, an deren Überarbeitung Angrick maßgeblich beteiligt war.

Das Buch ist keine leichte Kost. Schonungslos beschreibt Angrick die Massenverbrechen der Einsatzgruppe D an der sowjetischen, in erster Linie jüdischen Bevölkerung. Die Praxis der Massenerschießungen wird ebenso einprägsam ins Bild gesetzt wie das spätere Tötungsverfahren mit Hilfe von Gaswagen. Trotz der ungeheuerlichen Verbrechen ist Angrick um ein differenziertes Täterbild bemüht. So gab es zwar durchaus Angehörige der Einsatzgruppen, die durch das tägliche Morden verrohten. Sie genossen es ganz offensichtlich, Herr über Leben und Tod zu sein, und peinigten ihre Opfer noch unnötig. Doch Angrick schildert ebenso Fälle, in denen den Schützen die Nerven versagten: Wenn sie mit ihren Mordtaten nicht zu Rande kamen, mussten sie von ihrer „Aufgabe“ entbunden werden. Die Tätigkeit der Einsatzgruppen entsprach offensichtlich nicht dem, was sich die meist ungedienten Polizeireservisten unter „Krieg“ vorgestellt hatten. Viele wollten deshalb möglichst schnell wieder weg. Wer nicht frühzeitig die eigene Versetzung anstrebte, der bestand zumindest auf seinen turnusmäßigen Austausch nach drei Monaten Dienst. Keine blutrünstige Horde tritt uns hier entgegen, und auch nicht jene kühle und unerbittliche Mordelite, zu der sie Himmler stilisiert hatte, sondern „ganz normale Männer“, die sich nur wenige Monate zuvor nicht im Traum hätten vorstellen können, was sie nun taten. „Ihre Alltagsarbeit wurde, ebenso wie der Massenmord, weder von einer gefühlsarmen Maschinerie, in der das einzelne Individuum verschwand und seiner persönlichen Charaktermerkmale beraubt worden war, ausgeführt noch von einem Haufen fanatisierter, speziell fürs Töten geschulter und abgestellter Nationalsozialisten.“ (S. 387) Die Einsatzgruppen funktionierten dennoch. Die Mehrheit verdrängte ihre Taten wohl wenigstens so weit, dass sie weiter töten konnte.

Mit dem Jahr 1942 und dem vorübergehenden Ende des Bewegungskrieges veränderte sich die Tätigkeit der Einsatzgruppe D. Bald hatte man die jüdische Bevölkerung der besetzten Gebiete ermordet und begann nun, die Kriegsgefangenenlager nach Juden zu „durchkämmen“. Gleichzeitig widmete sie sich anderen Aufgaben wie der Aufstellung „fremdstämmiger Legionen“ oder der Beteiligung am Partisanenkampf. Die neuen Tätigkeitsbereiche der Einsatzgruppe entstanden auch im Zusammenhang mit einer Änderung der gesamten deutschen Besatzungspolitik in der Sowjetunion. Hatten zunächst „Aussiedeln, Ausbeuten, Vernichten“ im Vordergrund gestanden, so warb sie 1942 beispielsweise im Kaukasus um die indigene Bevölkerung, um einen höheren wirtschaftlichen Nutzen aus den besetzten Gebieten zu ziehen. Die Deutschen traten nun gegenüber der einheimischen Bevölkerung als „Retter des Glaubens, der Identität und der Kultur“ auf. Die vergleichsweise geringen rassistischen Vorbehalte gegen Armenier, Aserbaidschaner und Georgier haben diesen Wandel in der Besatzungspolitik sicherlich erleichtert. Angrick bezieht in seine Analyse auch das Verhältnis von Einsatzgruppen, Wehrmacht, zivilen Stellen und Ortskomandanturen ein und leistet mit dieser erweiterten Perspektive einen Beitrag zur allgemeinen deutschen Besatzungspolitik auf der Krim und im Kaukasus. Deutlich wird dabei etwa, dass die Kompetenzstreitigkeiten, die es bei Kriegsbeginn noch zwischen Wehrmacht und der Einsatzgruppe gegeben hatte, bald gegenseitigem Respekt und einem kameradschaftlichen Umgang gewichen waren.

Der chronologische Aufbau des Buches wird etwa nach der ersten Hälfte durch ein thematisches Kapitel unterbrochen, in dem Angrick mit Hilfe einer Kollektivbiografie ein Sozialprofil der Täter zeichnet. Einmal mehr zeigt sich dieser biografische Ansatz in der Täterforschung als gewinnbringend. 2 So fällt zum Beispiel bei der Führungsschicht, die allerdings keinen homogenen Verband bildete, auf, dass die Angehörigen des Stabes und die Führer der Kommandos keine „alten Kämpfer“ waren. Vielmehr waren sie erst in die Partei eingetreten, nachdem sich diese als politische Kraft etabliert hatte, ja zum Teil sogar erst nach deren Machtübernahme. Möglicherweise trug der Drang, sich innerhalb der nationalsozialistischen Elite als gleichwertiges Mitglied zu beweisen, zu deren Radikalität bei. Die untere Führungsebene setzte sich vorwiegend aus Männern zusammen, die „aus der Praxis“ kamen und vor dem Krieg bei der Kriminalpolizei, der Gestapo oder der Grenzpolizei tätig waren. Häufig entstammten sie einem kleinbürgerlichen Milieu und stießen erst relativ spät zur Polizei, meist nach dem Scheitern des ursprünglich eingeschlagenen Lebensweges und einer längeren Phase der Arbeitslosigkeit. Die Anstellung bei der Polizei bedeutete also das Ende der bisherigen beruflichen „Verlegenheitslösungen“, die in der Regel drei bis vier verschiedene, ausbildungsfremde Tätigkeiten umfasst hatten. Die Mannschaften wiederum bestanden aus ungedienten Polizeireservisten, die lediglich eine militärische Schnellausbildung vor dem Krieg erhalten hatten. Die gesamte Einsatzgruppe setzte sich also aus Personen mit sehr unterschiedlichen Biografien zusammen und war kein homogener Verband. Doch trotz der daraus resultierenden Vielzahl individueller Verhaltensweisen und kollektiver Verhaltensmuster – so das Fazit Angricks – entfalteten die Männer der Einsatzgruppen eine „erschreckend ‚homogene’ mörderische Wirkung“ (S. 450).

Insgesamt hat Andrej Angrick mit dieser Arbeit ein grundlegendes Werk sowohl zu den Einsatzgruppen im Speziellen, als auch zur Besatzungspolitik in der südlichen Sowjetunion im Allgemeinen geschrieben. Indem er die Kriegsverbrechen der rumänischen Truppen und die Kooperation indigener Bevölkerungsgruppen aufzeigt, wirft er darüber hinaus ein Schlaglicht auf die europäische Dimension des Holocaust. An diesem Punkt stößt jedoch eine Geschichtsschreibung, welche die deutsche Besatzungspolitik allein aus der Perspektive der Täter rekonstruiert, an ihre Grenzen. Die sowjetische Bevölkerung wird auch in diesem Buch nur mittels Quellen deutscher Provenienz – und damit durch die Brille der Täter – geschildert. Sie tritt uns lediglich als Objekt deutscher Politik und nicht als Kollektiv mit eigenständigen Interessen gegenüber, so dass ihr Handeln letztlich unverständlich bleiben muss. Es dürfte außer dem deutsch-sowjetischen Krieg wohl kaum eine zweite europäische Beziehungsgeschichte geben, in der die Perspektive der jeweils anderen Seite von der Wissenschaft so konsequent ausgeblendet wird. 3 Sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wird es Zeit, dass die deutsche Forschung die sowjetische Perspektive in ihre Analysen mit einbezieht.

Anmerkungen:
1 Die Pionierstudie von Krausnick und Wilhelm bricht im Jahr 1942 ab und beschränkt sich in ihrer Quellengrundlage weitgehend auf die Ereignismeldungen der Einsatzgruppe A, vgl. Krausnick, Helmut; Wilhelm, Hans Heinrich, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938-1942, Stuttgart 1981; Wilhelm, Hans-Heinrich, Die Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD 1941/42, Frankfurt am Main 1996.
2 Siehe zuletzt Wildt, Michael, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2003.
3 Eine der wenigen Ausnahmen bildet Chiari, Bernhard, Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941-1944, Düsseldorf 1998.

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