C. Goschler: Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin

Titel
Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin, 1870-1930.


Herausgeber
Goschler, Constantin
Erschienen
Stuttgart 2000: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 43,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eric J. Engstrom, Institut für Geschichte der Medizin, Humboldt Universität zu Berlin

Dieser Band ist aus einem Workshop auf dem Wissenschaftshistorikertag an der Humboldt Universität in Berlin im September 1996 hervorgegangen. Er will in Form von exemplarischen Fallbeispielen einen Beitrag zu Fragen der "Genese, der Verbreitung und der Geltung sowie nach den Räumen und Trägergruppen verschiedener Arten von 'Wissen' im Prozeß der Entstehung und Herausbildung der modernen Gesellschaft" (9) leisten. Sein Grundanliegen besteht darin, das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit als eine Wechselbeziehung aufzufassen und es als Folge historischer Konstruktionsprozesse aufzufassen. Es soll gezeigt werden, auf welche Weise "Wissenschaft einerseits daran beteiligt war, verschiedene Öffentlichkeiten zu konstruieren, während umgekehrt Wissenschaften teils in der Auseinandersetzung, teils durch die Abgrenzung von Öffentlichkeit als solche konstruiert wurden" (24). Dabei wird Berlin als Schauplatz für verschiedene, in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehende "Ordnungen des Wissens" (24) verstanden.

Im wesentlichen ist es dem Herausgeber gelungen, diesen Ansprüchen gerecht zu werden. So stellt der Band stellt einen sehr wichtigen und lesenswerten Beitrag zu zahlreichen Forschungskomplexen der zeitgenössischen Historiographie dar.

INHALT

In seinem Beitrag über "Wissenschaftliche 'Vereinsmenschen'" untersucht Constantin Goschler zwei wissenschaftliche Vereine im Berlin des späten 19. Jahrhunderts. Anhand der Fallbeispiele der Berliner medizinischen Gesellschaft und der Berliner anthropologischen Gesellschaft stellt er die Hypothese auf, daß wissenschaftliche Vereine Öffentlichkeiten eigener Art herstellten. Über ihre Funktion als Plattform im bürgerlichen Repräsentationsmilieu hinaus funktionierten sie auch als Träger der kulturellen Autorität von Wissenschaft. Zugleich konstatiert Goschler in der Entwicklung dieser Vereine eine Tendenz zur Entfernung von den Strukturen des liberalen Vereinsmodells und eine Annäherung einerseits an korporatistische, andererseits an bündische und esoterische Vereinsstrukturen. Diese Entwicklung hing zusammen mit der Spezialisierung und Professionalisierung der Disziplinen, insbesondere mit dem Ausschluß des Laienpublikums und der zunehmenden Auflösung eines "Hybridraums" (34), in dem wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeiten koexistieren konnten. Damit sank aber die Bedeutung der wissenschaftlichen Vereine für die Vergesellschaftung im bürgerlichen Kulturmilieu. Die Ausdifferenzierung der Wissenschaften machte diesen Vereine zu Motoren einer Pluralisierung des Bürgertums und somit - scheinbar paradoxerweise - zu konteragierenden Instanzen gegen jene Einheit der Gebildeten, deren Rettung sie sich verpflichtet fühlten.

Goschler nimmt seine Analyse dann noch einen Schritt weiter und untersucht die Praktiken, mit denen die wissenschaftlichen Vereine diese Krise zu bewältigen und die gebildete Öffentlichkeit zu beteiligen suchten. Dabei stellt sich heraus, daß wissenschaftliche Vereine durchaus unterschiedliche Strategien verfolgten. Während die Berliner anthropologische Gesellschaft durch eine Schulung der Wahrnehmungformen eine gemeinsame bürgerliche Weltsicht zu festigen suchte, setzte die Berliner medizinische Gesellschaft auf die Festschreibung eines traditionellen, neuhumanistischen Bildungstyps. Diese unterschiedlichen Strategien hingen stark mit den jeweiligen Spezifika der Disziplinen zusammen: die Anthropologie hatte ihrerseits erst einen relativ niedrigen Professionalisierungsgrad erreicht und war stärker mit der Sammeltätigkeit von Laien und dem musealen Ausstellungsbetrieb verbunden; die Medizin dagegen hatte bereits einen hohen Professionalisierungsgrad erreicht und eine viel schärfere Abgrenzung gegenüber Laien vorgenommen. Doch trotz der Krisenhaftigkeit des bürgerlichen Milieus, wertet Goschler die Bedeutung wissenschaftlicher Vereine sehr hoch ein: sie waren wichtige Knoten im bürgerlichen Netzwerk, sie bildeten ein Gegengewicht zu den Großforschungseinrichtungen des Reiches und sie stützten die kommunale Herrschaftsordnung in Berlin mit der kulturelle Autorität von Wissenschaft und der Ideologie der unparteiischen und daher 'besseren' Argumente. Insgesamt formuliert Goschler deshalb die weiterführende Hypothese, daß Berlin nicht nur Schauplatz konkurrierender politischer Ordnungssysteme, sondern auch verschiedener "Ordnungen des Wissens" (62) war.

Um unterschiedliche Ordnungen des Wissens geht es auch in dem Beitrag von Andrew Zimmerman über "Science as Schaulust in the Berlin Museum of Ethnology." Zimmerman konstruiert zwei entgegengesetzte Schulen der Berliner Ethnologie: einerseits die von Rudolf Virchow und Adolf Bastien vertretene Richtung, die durch ihr naturwissenschaftliches Selbstverständnis und ihren "fast hirnlosen Empirismus" (87) geprägt sein sollte; andererseits den erst später entstehenden und von historischem statt naturwissenschftlichem Impetus getragenen Diffusionismus. Die Entstehung dieser beiden Schulen führt Zimmerman auf Ereignisse in der Entwicklung des Verhältnisses zwischen dem Museum für Völkerkunde und der Öffentlichkeit zurück. Einerseits interpretiert er die traditionelle Richtung von Virchow und Bastien, die sich bei Gründung des Museums großteils durchsetzte, primär als eine Reaktion auf das carnevaleske Schauspektakel der Berliner Panoptiken. Den Diffusionismus andererseits, betrachtet er als das Ergebnis eines öffentlichen Protestes gegen das Museum um die Jahrhundertwende. Dabei schildert er das Museum als ein Opfer der explizit induktiven Sammeltätigkeit ihrer frühen Vertreter. Auch wenn sie den Besuchern einen Überblick über die Völker der Welt vermitteln wollten, mußten sie feststellen, daß, je mehr die Sammlung wuchs, es desto schwieriger wurde, dem Publikum diesen Überblick zu vermitteln: "Every advance the museum made toward its goal of completeness was a retreat from its goal of the totalizing, summarizing gaze" (76). Im Zusammenhang mit dem daraus hervorgehenden Unmut des Publikums und des Personals, entstand im "dialogic milieu" (65) des Museums die neue diffusionistische Schule der Berliner Ethnologie, die den musealen Bestand nicht nur einer neuen Wissensordnung zu unterwerfen, sondern auch dem Publikum diesen Bestand besser zu vermitteln versprach. Anhand dieser Entwicklungen schreibt Zimmerman die Geschichte der Berliner Ethnologie als eine Geschichte ihrer De-popularisierung (Abwendung vom Panoptikum) gefolgt von ihrer Re-popularisierung (Hinwendung zu effektiveren musealen Technologien). Nach dieser Darstellung wurde die Ethnologie erst durch ihr Publikum zu einer theoretisch kohärenten Disziplin gedrängt.

Diesem wissenschaftsgeschichtlichen Primat der Öffentlichkeit weniger verpflichtet, betrachtet Arne Hessenbruch in seinem Beitrag über "Science as Public Sphere: X-Rays Between Spiritualism and Physics" die Anfang 1896 entstehende öffentliche Resonanz auf die Entdeckung der Röntgenstrahlen. Hessenbruch stellt eine Reihe von Hypothesen auf, die er - nach eigenem Urteil - mit nur sehr geringem Beweismaterial stützen kann. In vager Anlehnung an Max Weber beschreibt er die Geisteshaltung der Berliner Bevölkerung um diese Zeit als bereits weitgehend entzaubert. Deshalb haben sowohl die allgemeine Bevölkerung als auch ihre populärwissenschaftlichen Mittler versucht, als die Wunder der Röntgenstrahlen in ihre angeblich entzauberten Welt eindrangen, sie in einen sachlichen und rationalen Erklärungszusammenhang einzubetten. Spiritualisten dagegen seien bei der Rezeption der Röntgenstrahlen marginalisiert worden, zum einen weil ihre 'Wissenschaft' viel stärker vom Charisma des Mediums abhing und weil sie sich in bureaukratisch-rationalen Bahnen und in der allgemein herrschenden "culture of routine practice" (89) nicht haben einfügen können. Diesen Hypothesen geht Hessenbruch dann in Abschnitten über die Urania und ihre Beziehungen zu Spiritualisten, über die Presse- und Literaturberichte der Zeit und schließlich über den Vergleich mit der Situation in London und Paris nach. Anhand seiner Untersuchung kommt er zu dem Ergebnis, daß "only science as a routine administrational [sic] activity can produce accountable knowledge. Only science produces a public sphere, non-scientific knowledge can never be truly public" (126).

Nicht Wissenschaft als Öffentlichkeit, sondern Wissenschaft im öffentlichen Raum ist der Gegenstand des nachfolgend Beitrages "The Culture of Knowledge in the Metropolis of Science: Spiritualism and Liberalism in Fin-de-Siècle Berlin" von Corinna Treitel, die den Fall des spiritistischen Mediums Anna Rothe untersucht. Diese wurde 1902 während einer spiritistischen Sitzung verhaftet und wegen Betruges vor Gericht gestellt. Das Gerichtsverfahren, das nicht nur die Gemüter Berlins erregte, sondern durchaus auch internationalem Widerhall fand, endete mit der Verurteilung Rothes zu einer Gefängnisstrafe von 18 Monaten. Treitel fragt, wieso ein spiritistisches Medium so behandelt werden konnte, als stellte sie eine ernsthafte Gefahr für das Gemeinwohl dar. Eine Antwort auf diese Frage liefert Treitel sofort: Anna Rothe stellte in der Tat eine ernsthafte Gefahr dar, weil ihre spiritistischen Veranstaltungen die Grenze zwischen der Wissenschaft und dem Publikum zu verwischen drohte und damit die "kulturelle Stabilität" (128) Berlins gefährdete. In vier Abschnitten entfaltet Treitel ihre Argumentation, zunächst anhand des Werdegangs Rothes, dann vor dem Hintergrund des Okkultismus' im Berlin der Jahrhundertwende, im Gerichtsverfahren gegen Rothe im Jahre 1903, und schließlich in der öffentlichen Diskussion, die im Anschluß an die Urteilsverkündung in der liberalen Presse Berlins entbrannte. Besonders gut gelungen ist die Exemplifizierung des Feldes, auf dem verschiedene soziale Gruppen für oder gegen Rothe Position bezogen. In einer subtilen und differenzierten Analyse rekonstruiert Treitel die Perspektiven und Argumente verschiedener, an der öffentlichen Diskussion beteiligter Gruppen, wie etwa das Klientel von Rothe, andere Spiritisten, die Leitung der evangelischen Kirche in Berlin, Psychiater oder andere Wissenschaftler, die den Okkultismus entweder bekämpften oder reinigen und nutzen wollten. Zum Beispiel schildert Treitel die Herausbildung einer gegen Rothe gerichteten Zweckallianz zwischen der wissenschaftlich-akademischen Elite einerseits, und der Führung der protestantischen Kirche Berlins andererseits. Besonderes Augenmerk widmet Treitel den Diskussionen über den Fall Rothe in der liberalen Öffentlichkeit. Dort sorgte man sich weniger um Rothe selbst - die als hysterisch abgetan wurde -, als um den schweren staatlichen Eingriff, sowie um die sozialen Bedingungen, die eine Anna Rothe habe hervorbringen können und um den "Sumpf" (150) eines unaufgeklärten Publikums, auf das das unwissenschaftliche und mystisch-religiöse Gebaren Rothes eine so starke Anziehungskraft hatte ausüben können. Treitel kommt zu dem Schluß, daß obwohl die wissenschaftliche und klerikalen Elite Berlins die Frage nach der Grenze der Wissenschaft lieber unberührt gelassen hätte, der Fall Rothe diese Frage erneut zum Gegenstand einer regen öffentlichen Auseinandersetzung machte. Dadurch wurde eine außerhalb der Universitäten angesiedelte Wissenskultur in den okkulten Kreisen der Stadt sichtbar. Darüber hinaus beanspruchten diese Kreise den wissenschaftlichen und religiösen Gehalt ihrer Ansichten selber bestimmen zu können und bedrohte deshalb nicht nur den Burgfrieden zwischen Wissenschaft und Kirche, sondern griff deren "epistemologischen Autorität" (153) selbst an.

Ebenfalls stark an einer Einzelbiographie orientiert schildert Helen Müller in ihrem Beitrag "Idealismus und Markt: Der literarische Beirat Artur Buchenau und die Popularisierung idealistischer Weltbilder im frühen 20. Jahrhundert" den Fall des literarischen Beirates und Oberlehrers Artur Buchenau (1879-1946). Buchenau, der stark von den Kreisen des Marburger Neukantianismus um Paul Natorp und Albert Görland beeinflußt war und seit 1909 an dem traditionsreichen Mädchenlyzeum Sophie-Charlottenschule in Charlottenburg als Oberlehrer tätig war, wirkte ab 1913 für über dreissig Jahre als literarischer Beirat im Berliner Verlagsunternehmen Walter de Gruyter. Von dem Lebensweg und der persönlichen Weltanschauung Buchenaus ausgehend, untersucht sie sein Verlagskarriere im "Spannungsfeld zwischen pädagogischer Berufung und wissenschaftlicher Objektivität einerseits, verlegerischen Marktinteressen und akademischem Anspruchsdenken andererseits" (156). Sie zeigt auf, daß kurz vor dem ersten Weltkrieg der Verlag de Gruyter sein traditionell liberales, philosophisches und altertumswissenschaftliches Programm allmählich auf pädagogische und ethisch-philosophische Themenbereiche erweiterte. Damit sollte ein Publikum erreicht werden, in dem sich philosophische Interessen mit idealistischer Weltanschauung und pädagogischem Sozialdenken überschnitten. Müller stellt das Leben Buchenaus in den Kontext dieser sich wandelnden Verlagspolitik und eines expandierenden populärwissenschaftlichen Büchermarktes. Sie beschreibt insbesondere, wie dieselben Qualitäten des vielseitigen Buchenau - v.a. sein sozialer und kultureller Idealismus -, die ihm zunächst zum geeigneten Kandidaten für die Erweiterung des Verlagsprogramms 1913 machten, ihn in der Weimarer Republik in Richtung des Dilettantismus drängten. Denn die zunehmende Spezialisierung sowohl der Fachwelt als auch des Büchermarktes marginalisierte den universal wissenschaftlichen und stark idealistisch geprägten Bildungsbürger Buchenau und signalisierte das Ende des herkömmlichen 'literarischen Beirats' zugunsten des professionellen Verlagslektors. So gelingt es Müller an dem Verschleiß im Karriereweg Buchenaus zu zeigen wie die pädagogischen und volkserzieherischen Ideale des Bildungsbürgertums zunehmend unter die Räder einer marktwirtschaftlich getriebenen Verlagspolitik fielen.

Zum Abschluß des Bandes liefert Ulrike Felt einen weitaus abstrakteren Beitrag über "Die Stadt als verdichteter Raum der Begegnung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, Reflexionen zu einem Vergleich der Wissenschaftspopularisierung in Wien und Berlin um die Jahrhundertwende." Felt lokalisiert drei Arten der Wechselwirkung von Wissenschaft und Öffentlichkeit in der von ihr als Raum interpretierten Wissenschaftspopularisierung: 1. Die Anwendung populärer Argumente durch Wissenschaftler, 2. die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft und 3. die Popularisierungstätigkeit als Kompensation für Wissenschaftler, um "verlorene Querverbindungen und Zusammenhänge wieder herzustellen" (186). Um Struktur, Bedeutung, und Tragweite dieser Wechselbeziehungen im städtischen Kontext nachzugehen, hält Felt eine vergleichende Perspektive für naheliegend. Nach einer kurzen Erläuterung von drei zusätzlich notwendigen analytischen Ebenen (globale Entwicklungen, lokale Konstellationen und eine "individuell/gruppenspezifische Ebene" (188)), wendet sich Felt dem städtischen Kontext von Wien und Berlin zu. Hier behandelt sie die ökonomischen und politischen Situationen der jeweiligen Städte, sowie die Ausdifferenzierung und den gesellschaftlichen Stellenwert ihrer wissenschaftlichen Institutionen. Unter Heranziehung der Raum-Metapher läßt Felt verschiedene Institutionen und Vereine, vor allem im Bereich des Volksbildungswesens, Revue passieren. Im stärksten Abschnitt des Aufsatzes überträgt sie dann den Raumbegriff auf zwei eher wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen. Zum einen thematisiert sie die Funktion von Abgrenzungsarbeit und hebt die "Formungs- und Aushandlungsprozesse" (211) hervor, die dazu führen, daß ein Handeln oder ein Ergebnis für wissenschaftlich gehalten wird. Zum anderen deutet sie die Wissenschaftspopularisierung als einen Freiraum für die "kognitive Weiterentwicklung der Wissenschaftler" (215) insofern diese 1. Platz schafft für Kreativität, 2. die Chance bietet, Einzelkontexte wieder in einen größeren Zusammenhang zu stellen, 3. einen "Schutzgürtel" (217) darstellt, damit in schwierigen Zeiten die Freiheit der Wissenschaft unangetastet bleibt, und 4. die Wiederherstellung der verlorengegangenen Verbindung zu gesellschaftlichen Strukturen ermöglicht. Zum Schluß scheint sich Felt selber bewußt zu werden, welch große Probleme in ihrem eigenen methodischen Zugriff stecken. So endet der Beitrag nicht in einem Resümee der Ergebnisse, sondern in Reflexionen über die Schwierigkeiten vergleichender Methoden überhaupt.

KRITIK

Es ist nicht gerade redlich, wenn ein Rezensent gegenüber einem Tagungsband wie diesem Ansprüche stellt, die der Band selbst gar nicht hatte. Dennoch hat es einen gewissen heuristischen Wert, insofern es hilft, das behandelte Gebiet genauer zu bestimmen und die Tragweite der Ergebnisse zu prüfen. So gibt es einige Probleme und Defizite, die diesem Rezensent besonders ins Auge gefallen sind.

Läßt man zum Beispiel die behandelten Wissenschaften Revue passieren, so fällt auf, daß der Band eher den Titel "Humanwissenschaften und Öffentlichkeit in Berlin" verdient hätte. Es handelt sich im wesentlichen um die Anthropologie, Medizin, Ethnologie, Psychologie, Philosophie, Parapsychologie und Pädagogik. Sogar im einzigen Beitrag zu einem Kernbereich der Naturwissenschaften - Hessenbruchs Abhandlungen über Röntgenstrahlen - ist ein Thema gewählt worden (die Visualisierung des menschlichen Körpers), das eine stark humanwissenschaftliche Ausrichtung hat. Ferner sind in dieser Sammlung sehr unterschiedliche Typen von Humanwissenschaften vertreten, wie z. B. Feld-, Labor- oder klinische Wissenschaften. Neben der vielfältigen Erörterung von Kommunikationskanälen und medialen Schnittstellen des öffentlichen Diskurses, bleibt in den meisten Beiträgen diese Differenzierung der Wissenschaften erstaunlich unterbelichtet. Doch ist zu erwarten, daß das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit auch von den stärker praxisbedingten Strukturen der Wissenschaften selbst wesentlich beeinflußt wurde. Doch mit Ausnahme der Beiträgen von Goschler und Zimmerman ist in diesem Band davon wenig enthalten.

Besonders eklatant ist ferner das Fehlen jeglicher, im Zusammenhang mit der sogenannten 'zweiten industriellen Revolution' zu sehenden, eher technologisch orientierten Wissenschaften (Chemie, Elektro- und Verkehrstechnik). Diese, für die öffentliche Wahrnehmung im Kaiserreich so essentiell wichtigen Wissenschaften kommen in dem Band so gut wie nicht vor. Hier hätte eine stärkere Berücksichtigung nicht nur wissenschaftlicher, sondern auch technologischer Gesichtspunkte nicht geschadet. Auch die oft hinter diesen neuen Technologien stehenden Interessensgruppen - insbesondere der Staat und die Industrie - werden weitestgehend außer acht gelassen, so daß der Leser den Eindruck gewinnen könnte, als übten sie keinen Einfluß auf die Struktur des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit aus. Man fragt sich deshalb, warum gerade in der Wiegenzeit von "big science" diese Faktoren nicht stärker vertreten sind? Eine substantielle Behandlung dieser Fragestellung übersteigt gewiß die Kapazität eines auf Berlin beschränkten Bandes. Aber die Fragestellung selbst ist deshalb noch lange nicht irrelevant für die Berliner Situation.

Diese Fokussierung auf die Humanwissenschaften, sowie die weitgehende Ausblendung der eher technologisch orientierten Wissenschaften und ihrer Triebkräfte macht es schwierig, die Tragweite von vielen der allgemeineren Schlußfolgerungen im Band zu beurteilen.

Angesichts der humanwissenschaftlichen Perspektivierung überrascht es nicht, daß vieles an traditionellen topoi und Begrifflichkeiten aus der Liberalismus- und Bürgertumsforschung in den Beiträgen wiederkehrt. Zugleich wird jedoch die begrenzte Reichweite der Ergebnisse dieser historiographischen Tradition deutlich, wenn versucht wird sie auf wissenschaftsgeschichtliche Themen zu übertragen. So bröckelt manchmal die analytische Stringenz, wenn es darum geht, von der sozialgeschichtlichen Makro- zur wissenschaftsgeschichtlichen Mikroebene zu wechseln oder gar Kausalzusammenhänge zwischen diesen Ebenen herzustellen. Dieses äußerst schwierige Unterfangen ist nicht in jedem Beitrag gelungen. Während manche nur schwer über die Spezifika ihres Gegenstandes hinauskommen, scheitert der Zugriff anderer, sobald es um Individuen und ihre persönlichen Motivationslagen geht. Angesichts dieser Kluft zwischen biographischem und stark quellengestütztem Detailwissen einerseits und den z.T. ätherischen Erklärungsmustern gesellschaftsgeschichtlicher Provenienz andererseits, sind die Beiträge besonders zu begrüßen, die mittlere Instanzen wie Vereine, Verlage, Museen, Gerichte, etc. in den Mittelpunkt stellen. Dort können die diffizile Wechselwirkungen, die zur Auslotung des Verhältnisses von Wissenschaft und Öffentlichkeit so wichtig sind, ergiebiger erforscht werden.

Insgesamt bleibt auch das Primat der Öffentlichkeit, wie sie in den Argumentationssträngen einiger Beiträge auftaucht, streckenweise etwas forciert. Man fragt sich zum Beispiel nach der Lektüre von Zimmerman, ob der Protest der Öffentlichkeit und des Museumspersonals tatsächlich wirkungsmächtiger war als der Diskurs im Zusammenhang mit der Krise des Positivismus' um 1900? Ist der Diffusionismus in der Ethnologie wirklich ein Produkt des öffentlichen Protestes, oder haben wir es nicht eher mit einer Krise des induktiven Verfahrens zu tun, die sich auch in anderen Wissenschaften dieser Zeit beobachten läßt und die sich in der Völkerkunde zwar im Kontext des Museums äußert, aber nicht primär als Folge dieses Kontexts zu deuten ist?

Schließlich - und dies ist kein Manko, sondern eher ein subjektiver Eindruck - scheint der Erzählstrang vieler der Abhandlungen von einem gewissen tragischen Grundton durchzogen zu sein. Constantin Goschlers wissenschaftliche Vereine wirken ihren eigenen bürgerlichen Zielen entgegen. Andrew Zimmermans Ethnologen zerstören, durch die akribische Anwendung und den 'Erfolg' ihrer induktiven Methoden, deren Tragfähigkeit. Und Helen Müllers Buchenau erscheint als eine tragische Figur, die trotz seiner Bemühungen um geistige Autonomie an den unaufhaltsamen Kräften des Marktes scheitert.

Wie dem auch sei, weitaus redlicher handelt der Rezensent, wenn er sein Urteil an den gesteckten Zielen und Ansprüchen des Buches ausrichtet. Und danach kann man den Band durchaus als einen Erfolg bezeichnen. Denn es sollte nicht das letzte Wort gesprochen werden, sondern vielmehr sozial-, kultur- und wissenschaftshistorische Fragestellungen aufeinander bezogen werden. Dieser Band ist nicht nur ein Beispiel dafür, wie weit diese Perspektiven noch auseinander liegen, sondern auch ein vortreffliches Exempel dafür, wie ergiebig und anregend es sein kann, Brücken zwischen diesen, oft allzu abgeschotteten historiographischen Subdisziplinen zu bauen. Und die Brücken, die in diesem Band geschlagen wurden - wenn auch noch etwas wacklig - helfen, auf diesem Weg weiterzukommen.

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