Titel
Gelebte Grenze Gibraltar. Transnationalismus, Lokalität und Identität in kulturanthropologischer Perspektive


Autor(en)
Haller, Dieter
Erschienen
Anzahl Seiten
394 S., 13 Abb.
Preis
DM 98,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Katharina Eisch

Grenzen, Grenzräume und Grenzbevölkerungen sind im vergangenen Jahrzehnt zu einem beliebten thematischen Ansatzpunkt kulturwissenschaftlicher und ethnologischer Untersuchungen und Tagungen geworden - angestoßen wohl ebensosehr von der plötzlichen Präsenz der Grenzen zum östlichen Europa wie von der Forcierung grenzüberschreitender Kulturarbeit durch EU-Programme und -vorgaben.

Dennoch sind gut fundierte Ethnographien von Grenzgebieten immer noch rar. Dieter Haller hat mit seiner Habilitationsschrift eine Forschungsarbeit vorgelegt, die aktuelle Grenzverhältnisse mit ihren europäischen wie auch globalen Dimensionen in einem Feld beleuchtet, das, und das benennt ja bereits ein generelles Charakteristikum von Grenzen, so abseitig-fremd wie zugleich naheliegend ist.

Gibraltar muss als Sonderfall im europäischen Raum gelten: als britische Kolonie mit ihrem im lokalen ebenso wie im britisch-spanischen und im internationalen Kontext umstrittenen Status, und als Gesellschaft, die über die bloße militärische Stützpunktfunktion hinaus wachsendes Selbstbewusstsein vor dem Hintergrund undurchsichtiger, jedoch massiv symbolisch aufgeladener Interessenkonstellationen entwickelt. Seine faszinierende Dichte bezieht das Forschungsfeld Gibraltar aus einer seltenen "Laborsituation": Lokales Alltagsleben und kleinstädtische Mentalitäten einer ethnisch-kulturell gemischten Bevölkerung sind hier auf engstem Raum mit nationalen und nationalstaatlichen Diskursen sowie transnationalen Fragestellungen im Zuge von europäischer Einigung und Globalisierung verflochten. Auf der Grundlage einer einjährigen Feldforschung verfolgt Dieter Haller parallel diese drei Perspektiven - die lokale, nationale und internationale. Er befragt die jeweiligen Akteure in Alltag, Medien und Politik, geht den Auswirkungen auf alltägliche Lebenswelten und Mentalitätsstrukturen nach und versucht von hier aus eine Neubewertung zentraler kulturwissenschaftlicher Kategorien wie Gesellschaft, Nation und Identität.

Dabei strebt er gerade keine zeitunabhängige, statisch abgehobene Monographie im klassischen Sinne an. In der Auseinandersetzung mit neueren Ansätzen prozessualer und multilokaler Feldforschung betont Haller die räumliche und zeitlich-historische Situierung der Arbeit im Spannungsraum zwischen zwei traditionsreichen Grenzen nach Spanien und nach Marokko, die über gegenwärtige europapolitische Entwicklungen krassen Wandlungen unterworfen sind.

Der Gesamtansatz des Buches, der die Untersuchung nicht nur empirisch, sondern auch theoretisch auf sehr verschiedenen Ebenen und an vielen Fronten spielen lässt, mag ein zusätzlicher Grund dafür sein, dass der netzwerkartige Aufbau des Buches mit ständigen Querverweisen und umständlichen Kapiteluntergliederungen streckenweise eher verwirrend als klärend wirkt. Hier wäre es vielleicht hilfreich gewesen, Gliederung, theoretische Ansätze und Erklärungsmodelle anstatt aus Fachdiskussionen stringenter aus der Sachlage des Feldes zu entwickeln. Das Buch hält sich zur Feldforschungsmethodik so bedeckt wie zur Genese vieler Ergebnisse, die damit etwas kurzgeschlossen wirken - warum, so fragt man sich beispielsweise, soll der Ausschluss spanischer Beziehungspartner(innen) durch die Grenze zu esoterischem Spiritualismus führen? Interviewzitate und Ausschnitte aus Feldforschungsnotizen erhalten damit tendenziell nur Illustrationscharakter. Auch ohne einem ethnographischen Voyeurismus aufzusitzen, möchte die Rezensentin gerne ein umfassendes Bild davon haben, wer jeweils spricht, sie möchte abstrakte Informationen kontextuell nachvollziehen können, anstatt sich über lange Strecken hinweg etwa mit Details aus der Medienwelt und Parteienstruktur Gibraltars auseinandersetzen zu müssen.

Trotzdem bezieht Hallers Argumentation auch dichte und eindringliche Beschreibungen aus dem Feld und selbstreflexive Bezugnahmen auf eigene Verstrickungen mit ein, wenn er z.B. anhand eigener Tagebuchnotizen einen Sog zur Übernahme antispanischer Wahrnehmung aufweist. Nach ethnographischer Manier beginnt er mit dem Bericht eines schikanösen Grenzübertritts von Spanien nach Gibraltar, der die Untersuchung nicht nur konsequent an der Grenze verortet, sondern auch schon ihre Ausrichtung auf die körperliche Erfahrung markiert. Dieter Haller orientiert seine Analyse an der im Feld aufweisbaren Diskursivität einerseits und den "Performativitäten" andererseits, in denen die diskursiv verhandelte, symbolische Wirklichkeit ihre Wirkung entfaltet: ein Konzept, das in der Auffächerung körper- und leibbezogener Erfahrbarkeit - von Grenzübertritten und Grenzschließungen über den national-gibraltarianischen Kult der Schönheitswettbewerbe bis hin zu aktuellen Ethnisierungsbewegungen Sinn erhält und auch den Grenzbezug der Arbeit inhaltlich füllt.

Wenn hierbei die historische marokkanische Seegrenze und die aktuellen Beziehungsnetze über das Mittelmeer eher kursorisch behandelt werden, so entspricht das wohl dem Prozess der europäischen Integration und der damit verbundenen Desintegration alter Kulturräume, die nun die EU-Außengrenze mit all ihren Abgrenzungstendenzen durchschneidet. Spannend und facettenreich wird demgegenüber das schwierige und vielschichtige Verhältnis der Bevölkerung zum spanischen Hinterland in seinen realen und symbolischen Brechungen entfaltet. Spannungen, die im politischen Hickhack auf europäischer Ebene verhandelt werden, werden vor Ort über Fußballspiele, Demonstrationen oder eine einflussreiche Medienwelt ausgetragen, identitäts- und profitfördernd über den Schmuggel ausgespielt oder in den demütigenden Warteschlangen an der Grenze körperlich verinnerlicht. Die traditionelle Vernetzung grenzüberschreitender Beziehungen zum spanischen "Campo" in einer "grenzüberschreitenden Gesellschaft" ist nur noch Erinnerung: Ein beeindruckendes Herzstück der Arbeit ist die Schilderung und Analyse der Folgen der totalen Grenzschließung von 1969 bis 1982/85, die die alten Verflechtungen radikal abbrach und in Gibraltar Züge einer geschlossenen Gesellschaft hervorbrachte. Dieser Prozess der "Desidentifikation" hat sich schmerzhaft in Körper, Gedächtnis- und Identitätsbilder gegraben und zum Rückzug ins ‚Innere' und in die soziale und territoriale Enge der Kolonie mit den entsprechenden ideologischen Selbsteinschließungen, subtilen Mechanismen sozialer Kontrolle und mythisch-nationalen Selbststilisierungen (etwa im Symbol des Felsens, "the rock") geführt.

Die Grenze tritt solchermaßen als Symbol und aktiver Einflussfaktor kultureller und gesellschaftlicher Veränderungen hervor, die das Buch dann in exemplarischen Blicken auf einzelne Phänomene und Gruppen im Kontext von Nationalisierungs- und Fundamentalisierungsprozessen beleuchtet. Dieter Haller gelingt damit in Hinsicht auf üblicherweise auf die Zentren fokussierte Kultur- und Gesellschaftsanalysen ein überzeugender Perspektivenwechsel. Die Landesgrenze wird mit Georg Simmel als räumliches Ausdrucksmedium universaler, sozialer, psychologischer und anderer Grenzziehungen vorgestellt, Grenzphänomene wie vor allem der Schmuggel werden aus der prinzipiellen Ambivalenz von Grenzen zwischen trennender Grenzbehauptung und verbindender Überschreitung abgeleitet. Dennoch bleibt der Anspruch einer "Ethnographie der Grenze" als solcher (vgl. Kapitel 8) zu hinterfragen: Durch die implizit und explizit stets schon vorweggenommene politisch-territoriale Festschreibung des Grenzthemas kann das Phänomen "Grenze" nur schwer mit der ganzen Dynamik eines anthropologischen Sonderfalls zum Tragen kommen. Demgegenüber könnte "Grenze" als "totale soziale Tatsache" im Durkheimschen Sinn oder, semiotisch gesehen, als "Differenz" theoretisch bestimmt werden, die prinzipiell erst Wahrnehmung, Sprache und kognitive Selbst- und Fremdbilder hervorbringt. Durch die Ambivalenz jeder Grenzziehung als abstraktes Teilungs- und Strukturelement einerseits und als immer auch konkrete, inhaltlich-räumlich zu bestimmende (und zu überschreitende) Barriere andererseits wäre z.B. auch Hallers methodischer Ansatz zwischen Diskursivität und körperlicher Performativität direkt aus der phänomenologischen und semiotischen Verfasstheit von Grenzen ableitbar. Zum Beispiel vermerkt Haller in verschiedenen Kontexten die ambivalente Identifikation der Garnisonsstadt mit dem eigenen Britisch-Sein und das merkwürdige, nach männlichen Genealogien ausgerichtete Einbürgerungsrecht sowie abwertende, antispanische Projektionen, in denen sexuelle und familiäre Bezüge zu spanischen Frauen eine wichtige Rolle spielen. Hier lassen sich nicht nur, wie Haller das tut, interessante Analogien von Landes- und Körpergrenzen ziehen: All diese Grenzziehungen könnten als Spiegelungen ein und derselben Grenze auf ideologischer, territorialer oder lebensweltlich erfahrbarer Ebene in einem in sich konsistenten Bedeutungssystem zusammengeführt werden, das zur Ausbildung einer positiven, "männlich-britisch-zivilisierten" Eigensicht ein negatives, als "weiblich-spanisch-unzivilisiert" markiertes "Anderes" braucht. Schließlich führt das Feld nicht nur Diskurse über die Grenze, sondern diese Diskurse sind in kollektivem Bewusstsein und performativer Alltagskultur selbst durch wirkungsmächtige Grenzziehungen, Unterscheidungen und Antagonismen strukturiert: Die diskursive Funktion des Schmuggels -der eines der spannendsten und aussagekräftigsten Kapitel des Buches einnimmt - könnte etwa auch in der stereotypen, dichotomischen Erzählstruktur der Schmuggelgeschichten festgemacht werden, die nicht nur auf Gibraltar Leitbilder des mutig und gewitzt die Grenze überlistenden Schmugglers definieren, sondern sie zu einem weltweit verbreiteten narrativen Genre machen.

Analysen der Identitätsstrukturen, d.h. der inneren Grenzziehungen der gibraltarianischen Zivilgesellschaft nehmen im Buch insgesamt den größten Raum ein. Im Zentrum steht das "Lob der Mischung" als Selbstbild einer toleranten polykulturellen Grenzgesellschaft, hinter dem Dieter Haller jedoch subtile Ausschließungsstrategien und Tabuisierungen im Kontext kollektiver Umdefinierungen des kollektiven Selbstverständnisses ausmachen kann. Haller fasst dies in die Ablösung des "Persona"-Modells, das die durch mehrdimensionale Identitäten ausgezeichnete Person auf dem Boden religiös-kultureller Diversität zulässt, durch das Konzept des eindeutig und eindimensional ethnisch-national bestimmten "Individuums". Im Prozess der Abkehr von der Kolonialgesellschaft gliedert sich Gibraltar modernen nationalstaatlichen Diskursen ein, deren Logik und körperlich erfahrener Performanz es sich auch durch den spanischen Druck sowie durch das enttäuschende und verunsichernde Lavieren der britischen Politik nicht entziehen kann. Im Brennpunkt nationaler Eigeninteressen beider Länder wird die gibraltarianische Gesellschaft zur "Schicksalsgemeinschaft", die sie mit dem üblichen nationalen Konstruktionsrepertoire - im Museum oder über die Etablierung eines "National Day", den Streit über den Gebrauch von Farben und Flaggen, über topographische oder familiäre Symbolsysteme etc. - in die Vergangenheit verlängert und naturalisiert sowie über ein engmaschiges Diskurssystem sozial durchsetzt.

Vor diesem Hintergrund fragt sich Haller nicht nur auf der Ebene des dominanten Diskurses, d.h. bei Politikern und Presse durch. Er untersucht auch Tendenzen des Rückzugs und der ethnischen Selbsteinschließung in Außenseitergruppen wie den Hindus oder vor allem der jüdischen Gemeinde Gibraltars: Eine multikausale Argumentationsführung zeigt, wie sich weltweite Fundamentalisierungsprozesse mit Bedrohungsgefühlen und Abwehrreaktionen aus dem lokalen politischen Kontext verbinden und z.B. zur Institutionalisierung eines orthodoxen Judentums, zur Unsichtbarmachung traditioneller konfessioneller ‚Mischehen' und zum (wiederum über Körperpraktiken wie etwa das Tragen von Kopfbedeckungen durchgesetzten) Zwang zur Selbstpositionierung der einzelnen führt.

Eine Untersuchung, die solchermaßen Grenzen und Grenzräume als Orte der "Intensivierung der Aushandlung von Kultur, Staatlichkeit, nationaler Identität und Gesellschaft" (340) beschreibt, verführt regelrecht dazu, europäische Geschichte im Zeitalter des Nationalismus neu zu lesen - man denke allein an die Rollen der deutschen Grenzen und Grenzräume zu Frankreich, Polen und zur Tschechoslowakei oder aber an geschichtsmächtige Ethnisierungsprozesse im östlichen Europa. Darüber hinaus versucht Dieter Haller auch einen Ausweg aus dem Dilemma der Ethnologie, die durch die theoretische Öffnung der hergebrachten stationären Feldforschung durch die Kategorie der Mobilität dennoch kaum ihre Praxen verändert hat und weiterhin distinkte, dichotomische Abgrenzungen von Feldern und Kulturen oder die Trennung von Sesshaften und Mobilen festschreibt. Er kann über den Einbezug von Grenzziehungsprozessen und Grenzbezügen der gibraltarianischen Gesellschaft zeigen, wie sehr jede Kultur- und Gesellschaftsanalyse nicht nur auf lokale Diskurs- und Erfahrungsrahmen angewiesen bleibt, sondern wie es gerade unter den Vorzeichen von Entkolonialisierung und Globalisierung zu einer "deep territorialization" (346) kommt: Orte und Verortungen dürfen und müssen wieder in den Blick rücken und werden doch, verstanden als "translokales Beziehungsfeld" (348), aus ihren territorialen und staatlichen Fixierungen gelöst.

Wenn es Dieter Haller der Rezensentin auch nicht immer einfach macht, all die verschlungenen Grenzgänge mitzugehen und die verschiedenen Diskurs- und Berichtsebenen nachzuvollziehen, so hinterlässt das Buch dennoch das Gefühl eines wichtigen Brückenschlags der Europäischen Ethnologie.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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