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Titel
Ahnden oder amnestieren?. Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren


Autor(en)
Miquel, Marc von
Erschienen
Göttingen 2004: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guillaume Mouralis, Universität Paris 11 (Sceaux)

Die nun als Buch vorliegende Dissertation Marc von Miquels widmet sich einem Gegenstand, der in den letzten Jahren ein großes Interesse der zeithistorischen, politik- und rechtswissenschaftlichen Forschung hervorgerufen hat: dem Umgang der bundesrepublikanischen Justiz mit NS-Verbrechen. Im Gefolge wichtiger Publikationen zum Thema, die sich eher mit der Rechtsprechung und ihren politisch-historischen Bedingungen 1 oder mit der deutsch-deutschen Konfrontation als wichtiger Rahmenbedingung der justiziellen Aufarbeitung von NS-Verbrechen befassen2, legt von Miquel den Akzent auf die individuellen Akteure jener Aufarbeitung bzw. Nichtaufarbeitung. So stehen im Zentrum der Arbeit die Juristen, die im Justizdienst, in der Ministerialbürokratie oder als „Rechtsexperten“ in der Politik tätig waren (wobei der Umfang der Kontinuitäten vom „Dritten Reich“ zur Bundesrepublik in den drei Bereichen noch systematischer analysiert werden könnte). Deutlicher als zuvor werden auch die komplexen Interaktionen zwischen Juristen und Nichtjuristen hervorgehoben.

Den Umgang der Justiz mit NS-Verbrechen sieht von Miquel als wichtigen Bestandteil einer fortdauernden „Vergangenheitspolitik“. Er definiert diese breiter als Norbert Frei3, nämlich als „das politische Handeln gegenüber den Tätern“ (S. 11). Drei Aspekte hätten auf die Vergangenheitspolitik besonders eingewirkt: die „Erfahrung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, [...] der Prozess der Westintegration und [...] die deutsche Staatlichkeit und der Antikommunismus“ (S. 13).

Im ersten Teil („In eigener Sache: Justiz und NS-Vergangenheit 1957-1965“) untersucht von Miquel die gescheiterten Versuche, eine zumindest begrenzte berufliche „Säuberung“ der zum Teil „renazifizierten“ Justiz zu betreiben. Zunächst befasst er sich mit der „Blutrichter“-Kampagne der DDR und ihrer „Resonanz in der Bundesrepublik“. Hier werden Organisation, Arbeitsweise und Propagandaintentionen des 1954 eingerichteten und für die Westarbeit zuständigen „Ausschusses für Deutsche Einheit“ um Albert Norden erläutert. Ziel der Aktion war es, die Bundesrepublik vor allem im westlichen Ausland zu diskreditieren. Obwohl oft gründlich (mit Todesurteilen aus der NS-Zeit) belegt, wurden die aus der DDR stammenden Vorwürfe von Justiz, Ministerialbürokratie und Politik in der Regel als Propaganda zurückgewiesen. Nachdem die Aktion in Großbritannien eine gewisse Resonanz fand, griff aber auch die westdeutsche Presse das Thema auf, wobei viele liberal-demokratische Journalisten die massive „nicht-öffentliche Meinung“ zu bekämpfen suchten, die damals eher nach einem Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit strebte.

Von Miquel zeigt auch, dass die ostdeutschen Vorwürfe besonders für die Bundesjustiz zutrafen (allen voran für Bundesgerichtshof und Bundesjustizministerium). Er liefert eine instruktive Entstehungsgeschichte des „großzügigen“ Paragraphen 116 des Richtergesetzes von 1961, der allen individuellen Skandalen zum Trotz den Status quo ante nicht in Frage stellte. Ab 1963 schien die öffentliche Auseinandersetzung um die belasteten Richter und Staatsanwälte zunächst nachzulassen, bevor sie 1968 zum Teil wieder aufkam. Erst in den 1980er-Jahren konnte in der Justiz aufgrund des Generationswechsels eine kritischere Haltung zur eigenen Vergangenheit und ihrer Nicht-Bewältigung entstehen.

Im zweiten Teil („Im Schatten der Volksgemeinschaft: Politik und NS-Verbrechen“) geht es von Miquel vorrangig um die Rechtspolitik. Hier setzt er sich mit zwei Themen auseinander, die in der Literatur schon ausgiebig behandelt worden sind: mit der Gründung der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen“ und den vier Verjährungsdebatten. Von Miquels Perspektive ist insofern neu, als er zeigen kann, dass sich die gegenläufigen rechtspolitischen Tendenzen (Ahnden versus Amnestieren) gewissermaßen funktional ergänzten. Die kleinen Pressure-Groups von Amnestie-Spezialisten konnten dank guter Kontakte in der Ministerialbürokratie und in der Politik etwa den Boden für die rückwirkende Verjährung der Beihilfe zum Mord „mit niedrigen Beweggründen“ (1968) schon drei Jahre zuvor bereiten. Außerhalb dieser Gruppen reichten die langen „Schatten“ der „Volksgemeinschaft“ von den lokalen Eliten bis hin zu den Staatsanwälten der Zentralen Stelle oder den Politikern der SPD.

Von Miquels allgemeine Aussagen erscheinen allerdings nicht unproblematisch. Wie er selbst verdeutlicht, spielten studentische und berufliche Solidaritäten aus der NS-Zeit eine wichtige Rolle. Hinter der „Volksgemeinschaft“ standen aber die auf Reproduktion und relative Autonomie angewiesenen sozialen Felder, insbesondere das juristische und das bürokratische Feld. Und anscheinend haben der Nationalsozialismus und dann die Bundesrepublik – anders als die DDR – die Struktur jener Felder nicht grundsätzlich geändert. In dieser Perspektive wäre unter anderem zu klären, ob die „geerbten“ Solidaritäten genauso „horizontal“ (mit „Kollegen“) wie „vertikal“ (mit Vorgesetzten bzw. Untergebenen) funktioniert haben – was der „verschmelzende“ Begriff der „Volksgemeinschaft“ vorauszusetzen scheint.4 Die Beantwortung dieser Frage könnte auch dazu beitragen, die paradoxe Position weniger Juristen wie Fritz Bauer zu erklären, die dem damaligen Meinungsklima widersprachen. (Auf ihre Verfolgung während des Nationalsozialismus hinzuweisen ist soziologisch unbefriedigend, da sich auch Verfolgte konform verhalten können.)

Die umgekehrte Tendenz („Ahnden“) verfolgten diejenigen Juristen und Politiker, die sich um das internationale Ansehen der Bundesrepublik Sorgen machten. Meist eher aus pragmatischen als aus moralischen Gründen wollten sie die zunehmenden Proteste im In- und Ausland dämpfen (etwa im Vorfeld der Verjährungsdebatte 1964/65). Als Ergebnis der überzeugenden Argumentation von Miquels hätte der Titel des Buchs durchaus „Amnestieren und Ahnden“ lauten können. Denn es geht in dieser Arbeit um „Aushandlungsprozesse [...], in denen [...] neue Grenzziehungen zwischen Strafverfolgung und Straffreiheit vorgenommen wurden“ (S. 18). Dabei zeigt von Miquel, wie sich die „Vergangenheitspolitik“ der 1950er-Jahre (hier im engeren Sinne Norbert Freis verstanden) im folgenden Jahrzehnt verändert hat: Das Streben nach Amnestie und Integration der belasteten Deutschen ließ nicht nach, doch gleichzeitig wurde die Abgrenzung von der NS-Ideologie um eine begrenzte Ahndung der schwersten NS-Verbrechen ergänzt. Die Widersprüche zwischen rechtsstaatlicher Ordnung und personeller Kontinuität im Staatsdienst wurden indes nicht gelöst.

Insgesamt und trotz einiger Vorbehalte soziologischer Art ist von Miquels Buch ein interessanter Versuch, die Widersprüche der „Vergangenheitspolitik“ in den 1960er-Jahren zu thematisieren.

Anmerkungen:
1 Greve, Michael, Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt am Main 2001 (siehe dazu meine Rezension: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ZG-2002-021>).
2 Weinke, Annette, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigung 1949-1969 oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002 (rezensiert von Sabine Horn: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-008>).
3 Vgl. Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, v.a. S. 13f.
4 Vgl. Bourdieu, Pierre, La force du droit. Eléments pour une sociologie du champ juridique, in: Actes de la recherche en sciences sociales 64 (1986), S. 3-19; Ders., Esprits d’Etat. Genèse et structure du champ bureaucratique, in: ders., Raisons pratiques, Paris 1994, S. 99-145.

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