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Titel
Weiser und Weib. Weisheit und Geschlecht am Beispiel der Erzähltradition von den "Sieben Weisen Meistern" (12. - 15. Jahrhundert)


Autor(en)
Lundt, Bea
Erschienen
München 2002: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
561 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marion Kobelt-Groch, Timmendorfer Strand

Die Krise der Wissensgesellschaft und die Herausforderung der neuen Medienlandschaft provoziert Fragen nach den Anfängen europäischer Gelehrsamkeit. Verbreitet sind noch immer dunkle Bilder von einer statischen Zeit, in der die meisten Menschen analphabetisch dumpf vor sich hinbrüteten, während einige autoritär fixierte Kleriker Gedankengängen anhingen, in denen allein Glaubensgewissheiten, nicht aber Wissenselemente zählten. Martin Kintzinger hat kürzlich als Erster wegweisend Forschungsergebnisse über die Bildungswelten des Mittelalters zusammengefasst und in einer populärwissenschaftlichen Darstellung Vorurteile korrigiert. Vor allem wies er darauf hin, wie die theoretische Gelehrsamkeit sich in den Lebenswelten und Praxisbereichen der Städte und Höfe bewährte und die Entwicklung von moderner Verwaltung und Kommunikation vorantrieb.1 Nicht mehr die Inhalte der Lektüren der Eliten und ihr Wahrheitsgehalt stehen also im Mittelpunkt der Forschung, sondern die Wege der Vermittlung, Verteilung und die soziale Konstruktion von Wissen. Dabei geht es auch um populäre Vorstellungswelten und die Medien, über die sie sich verbreiten. Roger Chartier hat eine Reihe von Forschungen angestoßen, die sich mit dem Lesen als einer sozialen Praxis beschäftigen. 2 Doch hat diese neue Bildungsforschung 3 trotz ihrer vielfältigen neuen gesellschaftlichen Kontextualisierung der Bildung bisher die Frage nach dem Geschlecht des Wissenden vernachlässigt. Im Rahmen des Diskurses um die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlecht liegt es freilich nahe, das Bildungswesen als eine zentrale Instanz, in der die Geschlechtsidentität geprägt wird, im Wandel der Zeiten zu untersuchen.

An diesem Punkt der Forschungsdiskussion setzt Bea Lundt mit ihrer innovativen Arbeit ein. Die Mediävistin und Frühneuzeitlerin, die an der im Aufbau befindlichen Flensburger Universität forscht und lehrt, verfolgt in ihrer Basler Habilitationsschrift das Phänomen der Weisheit im Spiegel der Vorstellungswelten populärer Schriften, wie es sich im alltäglichen Verhalten des Weisen realisiert. Sie vergleicht Varianten eines Erzählstoffes, in dem einerseits ein Erziehungsprozess dargestellt und andererseits die Bewährung des zum Weisen Ausgebildeten am Hofe und in der Begegnung mit einer Frau narrativ diskutiert wird. Anders als innerhalb der traditionellen Motivforschung interessiert sie sich nicht primär für die Gemeinsamkeiten der aus verschiedenen Jahrhunderten stammenden Werke, sondern für die Unterschiede, und fragt nach einer Systematik und Sinndifferenz, um zu erklären, warum die vielen überlieferten Fassungen den Kern der Handlung so erheblich variieren. Diese Veränderungen bringt sie mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen und zeigt auf überzeugende Weise, dass jede Variante geeignet ist, eine jeweils eigene Antwort auf typische Herausforderungen ihrer Entstehungszeit zu geben.

Es handelt sich um ein Exempelwerk, das in der Frühen Neuzeit eines der am meisten verbreiteten populären Bücher überhaupt war und seither in den Werkverzeichnissen und Motivkatalogen unter der Bezeichnung „Die Sieben Weisen Meister“ geführt wird. Die Wurzeln dieser Erzähltradition sind unbekannt; vermutlich stammt sie aus dem Orient, taucht im 12. Jahrhundert in verschiedenen lateinischen und volkssprachlichen Fassungen in Europa auf und wird danach in verschiedener Form und in ganz verschiedenen Kontexten immer wieder neu gestaltet.
Der Inhalt: Ein fiktiver Herrscher schickt seinen einzigen Sohn zur Ausbildung zu sieben Weisen. Diese erziehen ihn in völliger Isolation und überprüfen seine erreichte Reife. Zurückberufen an den Hof des Vaters, wird der junge Mann mit einer neuen jungen Frau an dessen Seite konfrontiert, seine Mutter ist gestorben. Die Stiefmutter versucht ihn zu verführen, er weist sie ab, sie dreht den Spieß herum und beschuldigt ihn, versucht zu haben, sie zu vergewaltigen. Entrüstet fordert sie seinen Tod. Als diese Strafe vollstreckt werden soll, erscheint einer seiner Lehrer und bittet um einen Tag Aufschub, da er eine Geschichte erzählen will, die Argumente für die Unschuld des Knaben enthält. Er wird ihm gewährt. Die Herrscherin erzählt nun ihrerseits eine Geschichte. So geschieht es an sieben Tagen. Schließlich wird die Unschuld des Prinzen erwiesen, die Stiefmutter wird getötet und die Männer schließen sich zu einer Gemeinschaft zusammen.

Anders als in der Forschung bislang üblich, deutet Bea Lundt die Varianten dieses Erzählkernes nicht einfach als Fortschreibung einer unterhaltenden Geschichte mit eindeutiger, meist als misogyn bezeichneter Schlussmoral. Vielmehr untersucht sie differenziert die Argumentationsstruktur und zeigt die dynamischen Möglichkeiten des Baukastensystems auf, das aus der Rahmenhandlung und den von ihr umschlossenen Exempeln besteht. Sie zeigt, dass verhandelt wird, und dieses diskursive Potenzial drückt sich in Position und Gegenposition aus. Dabei dominieren vor allem die beiden Pole zweier gegensätzlicher Milieus. Auch in der Gattung des Fürstenspiegels geht es um die Erziehung des Herrschers von morgen. Doch ist demgegenüber das Exempelwerk von den Sieben Weisen Meistern nicht zielgerichtet auf das Modell einer dynastischen Lebensweise ausgerichtet. Im Sinne monarchischer Weitergabe des Königsheiles ist das Ende der Ehelosigkeit des Protagonisten sinnlos, ja absurd. Wie Bea Lundt in ihrem gattungstheoretischen Teil ausführlich zeigt, realisiert sich in dieser Gattung eine eigene kausale Zeitstruktur, die auf Analogien auf verschiedenen Ebenen beruht.

Im Mittelpunkt steht die ausführliche Untersuchung von vier Texten: Am Anfang steht ein langer lateinischer Roman, als dessen Autor sich ein mit weiteren Werken nicht hervorgetretener Zisterziensermönch bezeichnet: der Dolopathos des Johannes de Alta Silva, entstanden gegen Ende des 12. Jahrhunderts. Sie versteht ihn als Antwort des einfachen Mönches auf die Herausforderung der neu gegründeten Universitäten in den Städten, die die klösterliche Geschlechtertrennung in Frage stellen. Ein Virgil genannter einziger Lehrer bildet den Knaben in Anknüpfung an antike Traditionen in spiritueller Vaterschaft für ein Leben als Philosoph in enger Bindung unter Männern aus. Dies schließt die völlige Beherrschung des Triebes ein. Nur in dieser Quelle, die eine Sackgasse innerhalb der Überlieferungstradition darstellt, werden am Schluss alle Frauen des Hofes verbrannt, um den Weg freizumachen für die Herrschaft.

Hundert Jahre später schreibt der Bettelmönch Johannes Gobi Junior im Rahmen seiner Exempelsammlung Scala Coeli auch einen kurzen Text über die Sieben weisen Meister, der vermutlich als Predigtvorlage bestimmt war und daher eine eindeutige Moral enthält: Es bestätigen sich die im Dolopathos etwas konfus dargestellten Befürchtungen des irritierten Mönches, der sich zu den antiqui im Gegensatz zu den moderni gerechnet hatte: Die enge Gemeinschaft des Kindes mit einem einzigartigen Lehrer ist aufgehoben, sieben Hofbeamte übernehmen die Vermittlung reproduzierbarer Inhalte. Frauen reden inzwischen auch am Hofe mit und ihre Argumente stellen tagelang die der männlichen Autoritäten in Frage. Bea Lundt stellt diesen Text in den Zusammenhang der angelsächsischen These von der Krise der Männlichkeit des Klerikers, der sich angesichts der Zölibatsforderungen der Gregorianischen Reform neu definieren muss, differenziert diese jedoch.

Das dritte Beispiel aus dem 15. Jahrhundert ist eine frühneuhochdeutsche Reimfassung aus der Feder des Hans von Bühel, vermutlich ein Ministeriale am Hofe des Kölner Erzbischofs Friedrich von Saarwerden. Das Opus, bestimmt für einen geistlichen Hof, wurde oft als schlechte Dichtkunst kritisiert. Bea Lundt arbeitet heraus, dass hier eine völlige Entmythifizierung der Kontroverse um Heilswissen und rationales Handeln stattgefunden hat. Entsprechend ist asketische Körperbeherrschung kein Erziehungsziel mehr. Als Biografie gestaltet, zeigt die Quelle höfisches Leben und das ritualisierte Ringen um die hierarchischen Positionen der Personen rund um den Fokus des alten Herrschers. Die Weisen geraten in Abhängigkeit von ihm und werden zu seinen Untertanen.

Das letzte Kapitel ist den Transformationen gewidmet, die der Text durch den Buchdruck erfährt. Durch Impressum und Holzschnitt erhält er wiederum eine völlig neue Gestalt und Sinngebung. Während im letzten Text Familie und Ehe als bedrohlich dargestellt werden, sind hier neue Personen und Legitimationen eingeführt: Zwar wird die Herrscherin nunmehr als konkrete Ehebrecherin entlarvt, doch zugleich auch kontrastiert mit einer guten Mutter, die das Unheil auf dem Totenbett voraussieht. Frauen, Kinder und Tiere sind die Träger eines neuen Wissens geworden. Freilich geht es auch hier nicht um den Prozess der Sozialisation zu einem klugen Mann, sondern um das Ritual der Ernennung zum Herrscher, wobei die Weisen jetzt die Königsmacher geworden sind.

Die Geschlechterordnung ist in die Wissenssysteme eingeschrieben, die mit Macht und Herrschaft zu tun haben und erprobt werden müssen. Bea Lundt geht den oben beschriebenen Forschungsweg konsequent weiter und zeigt einige Stationen des Weges auf. In ihrem Fazit hebt sie insbesondere die dynamische Dimension der dargestellten Kommunikationsstruktur mit ihren kontroversen Angeboten hervor. Die These von der alternativlosen Standesgesellschaft ist einmal mehr durch kräftige Gegenargumente erschüttert worden! Erstmalig wohl wird hier aber auch für die Zeit des Mittelalters beschrieben, wie innerhalb des Sozialisationsprozesses Bildung, Herrschaftswissen, Verhaltensweisen und geschlechtsspezifische Identitäten verbunden sind.

Anmerkungen:
1 Kintzinger, Martin, Wissen wird Macht. Bildung im Mittelalter, Ostfildern 2003; vgl. dazu die Rezension in H-Soz-u-Kult unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-1-032>.
2 Vgl. etwa den von ihm und Guglielmo Cavallo herausgegebenen Band: Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt am Main 1999.
3 Vgl. auch die Sammelrezension „Wissen“ von Thomas Etzemüller in H-Soz-u-Kult unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-2-156>.

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