K. Schüle: Die kulturelle Konstruktion der französischen Metropole Paris

Cover
Titel
Paris - Die kulturelle Konstruktion der französischen Metropole. Alltag, mentaler Raum und sozial-kulturelles Feld in der Stadt und in der Vorstadt


Autor(en)
Schüle, Klaus
Erschienen
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Middell, Zentrum für Höhere Studien, Universität Leipzig

Paris ist nicht nur eine Messe, sondern auch immer eine Reise wert. Paris-Reiseführer haben deshalb kaum mit Marktschwierigkeiten zu rechnen. Manche setzen ohne Umschweife die Publikationen über das Paris pittoresque fort, die an der vorletzten Jahrhundertwende für Aufsehen sorgten. Der Gang durch die Museen wird durch kunstgeschichtliche Einführungen im Taschenformat erleichtert, und für daheim gibt es die großformatigen Bildbände zur Erinnerung an das Gedränge vor den Originalen. Der planmäßige Aufbau der Stadt lenkt architekturgeschichtliche Studien notwendigerweise auf Haussmanns neu geschlagene Straßenschluchten oder auf das, was rechts und links davon überlebte. Außerdem hat für einen kurzen Moment die Faszination, die die rasche Folge der Aufstände in der französischen Kapitale im späten 18. und im 19. Jahrhundert auslöst, den Blick auf die einfachen Menschen, auf die Arbeiter, auf die Wäscherinnen, auf das „rote Paris“ der Banlieue frei gegeben.

Es ist also kein Mangel an Lesestoff, wenn man sich auf die Reise an die Seine begibt, und wer ein weiteres Buch über Paris vorlegt, muss einige plausible Gründe angeben können. Andererseits haben die Bibliotheken voller Paris-Literatur Schwerpunktsetzungen sedimentiert, denen sich einerseits Autoren kaum entziehen können und die andererseits beim Leser Pawlowsche Reflexe auslösen können, die bekanntlich das Urteilsvermögen stark beschränken.

Der Bremer Klaus Schüle arbeitet mit beidem. Er behauptet das Fehlen einer Kulturgeschichte von Paris und glaubt damit bereits plausibel gemacht zu haben, warum sein Buch eine Existenzberechtigung hat. Und andererseits ruft er alle nur denkbaren Klischees von Paris ab, um seiner Studie Anschlussfähigkeit an Lesererwartungen zu sichern. Dieser populärwissenschaftliche Impetus wird eingebaut in ein ambitioniertes Ziel, nämlich „für die drei wesentlichen Bereiche der Stadtgeschichte eine übersichtliche, anschauliche, sozialhistorisch genaue und lesbare Studie zu schreiben“ (S. 12). Kulturgeschichte soll dabei von einer Urbanisierungsgeschichte auf der einen Seite und von einer politischen Ereignisgeschichte auf der anderen Seite gerahmt werden. Wer hier allerdings genauere Aufklärung über das Verständnis von Kulturgeschichte erwartet – immerhin zentral, wenn die Behauptung halten soll, so etwas sei noch nicht auf dem Markt – sieht sich enttäuscht. Schüle schweift dagegen zum nächsten Abschnitt der Einleitung und will das Herauslösen der „bürgerlichen Kultur in der Stadt aus der feudalen Abhängigkeit“ beschreiben – seine Geschichte fängt wohl deshalb mit der Morgenröte des 19. Jahrhunderts an, allerdings erfahren wir nichts Näheres über die Gründe für diese Zäsur und demzufolge auch nichts über das Erbe der vorangegangenen Jahrhunderte für die Kulturgeschichte der Stadt.

Der nächste Anspruch des Autors betrifft die „öffentlich-demokratische Funktion“ der bürgerlichen Kultur in der Stadt, allerdings belässt es Schüle wiederum bei diesem Schlagwort und liefert uns nach Verweisen im Stile von „Kultur hat Konjunktur“ und „Kultur rechnet sich“ der nächsten Absicht aus: „Man erkennt (sic!), unsere Absicht ist es, eine am Alltagsbewusstsein der Stadtbewohner orientierte Sicht der Dinge zu ermöglichen, und dabei sind die Orientierungsmarken die städtischen Milieus, die Vorstellungen von der Stadt und die städtischen Emotionen und Mentalitäten.“ (ebd.)

Schon auf der nächsten Seite folgt allerdings ein weiterer Plan, der diesmal dichter an der Kapitelstruktur des nachfolgenden Textes liegt: Auf eine Geschichte der Avantgarden und Bohème als „Motoren der bürgerlichen kulturellen Entwicklung“ soll die Analyse des kulturellen Milieus der Arbeiter und Angestellten, vorzugsweise in den Vorstädten, folgen, weil seine Untersuchung „unabdingbar ist“. Dies wird fortgesetzt von einer Korrektur der verbreiteten Mythen und Gegenmythen der Stadt aus der einschlägigen Literatur, worauf der besondere Stellenwert von privatem und öffentlichem Leben behandelt werden soll und schließlich der „mentale Raum“ und die emotionale Befindlichkeit der Bevölkerung einer Paris-Darstellung entgegentreten soll, die „die Menschen als entsinnlichte Wesen“ vernachlässigt. Gemeint ist, wie aus dem nächsten Satz klarer wird: Es sollen wichtige Orte wie Bahnhöfe, Läden und markante Metrostationen Erwähnung finden und „die Sinnlichkeit der Stadtbewohner, ihre Art zu tanzen, zu singen, zu lieben“ auch jenseits der Prominenten beobachtet werden (S. 13).

Der Autor hatte offenkundig gleich mehrere Pläne mit diesem Buch, und dementsprechend schwer fällt es ihm, die Fäden in der Hand zu halten. Leider hat er auch darauf verzichtet, sich einer wohl definierten Quellengrundlage zu versichern. Vielmehr greift er mitten hinein ins pralle Leben der Sekundärliteratur und zitiert, was sich anbietet. In kleinen Schnipseln, die durch eine Dezimalgliederung der Kapitel Stringenz vortäuschen, lässt er seine Rundgänge durch Paris und dessen Vorstädte Revue passieren. Nach dem Abschnitt über die Bohème folgt die versprochene Übersicht zur „Arbeiter- und Dienstleisterkultur“, dann ein Schnelldurchlauf durch die Paris-Mythen inklusive Weltausstellungen, Film und Siegesparaden im öffentlichen Raum – jedes Unterkapitel eine eigene Untersuchung wert, die wenigstens teilweise auch schon geschrieben wurden. Das 4. Kapitel führt durch Parks und Cafés, enthält (wohl unvermeidlich) Notizen zum Flaneur, wandert zum Kino und zum Karneval, um bei der „Erotik des Lichts und der Geschwindigkeit“ zu enden: Auf zweieinhalb Seiten gelingt es hier dem Autor, das Verschwinden des Viehs von den Straßen, die Elektrifizierung und die Rolle des Fernsehen bei der Veränderung des „sensuellen und erotischen Gleichgewichts“ der Städter zu behandeln. Dementsprechend tiefgründig sind auch die Bemerkungen über Privatheit und Öffentliches, die man vor vielen Jahren bereits in der „Geschichte des privaten Lebens“ klarer strukturiert lesen konnte, und das Potpourri aus „Ängsten“, „Transformation der Sinne“ und „Zähmung des Körpers“ im 6. Kapitel.

Das Buch wird vermutlich dem einen oder anderen als Fundgrube für Zitate oder Anregungen dienen, und dagegen ist kaum etwas einzuwenden. Problematischer dürfte es allerdings werden, wenn sich Studierende – etwa der Romanistik, die sich mit einem Landeskundekurs für das Leben in Schule und Übersetzungsbüro vorbereitet fühlen müssen – aus einer solch diffusen Zweitverwertung an sich hochinteressanter Ansätze ein Bild von der französischen Kulturgeschichtsschreibung machen. Bleibt zu hoffen, dass sie in ihrer Ausbildung hinreichend Kritikfähigkeit entwickeln konnten, um eine Resistenz gegen diese süffig im Jargon des heutigen Feuilletons versammelten Klischees zu entwickeln. Besser wäre allerdings gewesen, der renommierte Verlag hätte sich vorab des Rates eines Gutachters versichert.

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