F. Ross u.a. (Hgg.): Denunziation und Justiz

Titel
Denunziation und Justiz. Historische Dimensionen eines sozialen Phänomens


Herausgeber
Ross, Friso; Achim Landwehr
Erschienen
Tübingen 2000: edition diskord
Anzahl Seiten
283 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Linder

Im heutigen Alltagsverständnis wird zwischen der Anzeige und der Denunziation auf moralischer Basis unterschieden: Wenn ich ein Delikt anzeige, dessen Opfer oder Zeuge ich geworden bin, dann gelte ich als jemand, der seine wohlverstandenen Interessen mit den angemessenen Mitteln verfolgt und gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zur Strafverfolgung leistet - schliesslich sind Anzeigen für etwa 90% der Einträge in der polizeilichen Kriminalstatistik verantwortlich.1 Dem Denunzianten und der Denunziation dagegen gilt Verachtung (s. die Einleitung von Landwehr und Ross S. 17). Die Unterscheidung entsteht im Auge des Betrachters, der dem Anzeiger legitime, dem Denunzianten illegitime und moralisch verwerfliche Beweggründe unterstellt. Problematisch erscheint es mir, wenn die Denunziation auf die 'privaten Motive' des Denunzianten zurückgeführt wird (so im Ergebnis S. 15 und Hirsch S. 215): Schliesslich kann auch derjenige, der eine aus der Sicht des Beobachters legitime Anzeige erstattet, damit auf verdeckt bleibende Konflikte mit dem Angezeigten reagieren; mit der Anzeige macht er ein Verhalten öffentlich, über dessen Unerwünschtheit Konsens besteht, so daß es auf seine Anzeige-Motivation nicht mehr ankommt. Andererseits sehen wir in aller Regel keine Verpflichtung zur Anzeige von Fehlverhalten, sie kann, wiederum aus moralischen - und das heisst: privaten - Erwägungen, unterbleiben. Denunziant ist im Zweifel 'der Andere': Ich denunziere nicht, ich bin allenfalls von Denunziation betroffen. Aber ohne Frage ist die Durchsetzung jeder 'Ordnung' auf ein gewisses Mass von Konsens und auf die Mitwirkung der Normadressaten angewiesen, die nicht in der blossen 'Wahrnehmung' eines Normverstosses, sondern in der expliziten Kennzeichnung von 'Tat und Täter' zum Ausdruck kommen muss; die Ordnung wird erst sichtbar und durchsetzbar, wenn ihre Störung thematisiert und 'verarbeitet' wird.

Der hier anzuzeigende Sammelband thematisiert in seinen Beiträgen unterschiedliche Konzeptionen von Denunziation. Dabei soll Wandel sichtbar werden; die jeweiligen alltagsmoralischen Konnotationen sollen rekonstruiert, aber nicht übernommmen werden; Denunziation soll als 'soziales Phänomen' mit Blick auf 'Herrschaftsausübung' und 'Norm und Verhalten' in ihren 'komplexen gesellschaftlichen Verflechtungen' reflektiert werden (Landwehr und Ross S. 9). Der Band dokumentiert eine Tagung des Graduiertenkollegs "Europäische antike und mittelalterliche Rechtsgeschichte, neuzeitliche Rechtsgeschichte und juristische Zeitgeschichte"2 der Universität Frankfurt/M., die im Juli 1998 stattgefunden hat. Die Einleitung von Achim Landwehr und Friso Ross (S. 7-23) verweist relativ kursorisch auf die jüngere Forschung zum Denunziationsbegriff, die durch den Zusammenbruch der 'realsozialistischen Staaten' nach 1989 neue Impulse erhalten hat (vgl. z. B. S. 8-10, Anm. 3-5).

Die chronologisch angeordneten Beiträge 3 können zwei Schwerpunkten zugeordnet werden: (vgl. S. 12 f.): Etwa die Hälfte der Autorinnen und Autoren beschäftigt sich mit der Bedeutung von Anzeigen bzw. Denunziationen bei der Durchsetzung von Ordnung und Herrschaft in absolutistischen oder 'vordemokratischen' Gesellschaften (vom 17. bis zum 19. Jahrhundert). Im zweiten Teil des Bandes werden Konzeptionen und Praktiken der Denunziation in totalitär bzw. terroristisch regierten Gesellschaften des 20. Jahrhunderts untersucht. Das Anzeigeverhalten in modernen 'westlichen Demokratien' bleibt ausgespart, sieht man einmal davon ab, daß Beckers Beitrag an die aktuelle Diskussion über V-Leute in der BRD anknüpft (S. 117 f.), um sich dann aber auf den Polizei-Diskurs des 19. Jahrhunderts zu konzentrieren. Läßt man die einzelnen Beiträge Revue passieren, kommt viel solide Forschung und reichlich archivalischer Spürsinn zum Vorschein; Versuche, die Ergebnisse systematisch aufeinander zu beziehen, bleiben eher die Ausnahme (das ist freilich die Crux vieler Tagungsbände; die Herausgeber reflektieren dies im Abschnitt "Perspektiven" ihrer Einleitung, S. 19-22).

Anzeigen und/oder Denunziationen sind stets auf die spezifischen Ordnungen bzw. Ordnungsvorstellungen zu beziehen, in denen sie vorkommen; es ist nicht hilfreich, 'Denunziation' gleichsam 'überzeitlich' zu konzipieren und den Denunzianten aus der Sicht heutiger Moralvorstellungen zu verurteilen. Dies kommt vor allem in den Beiträgen von Landwehr, Ceballos Gómez und Zöttlein, aber auch noch bei Ross zum Ausdruck. Offenkundig bestehen zwischen der auf der lokalen Ebene organisierten Rügepraxis der frühen Neuzeit (Landwehr) und den Kirchenzuchtverfahren des 19. Jahrhunderts (Zöttlein) eine Reihe von Übereinstimmungen, und zwar sowohl im Hinblick auf die möglichen Funktionen als auch auf die Rollen von Anzeigern und Angezeigten. Doch während sich die 'gute Policey' im 17./18. Jahrhundert als staatlich-obrigkeitliches Konzept einer Ordnung durchsetzte, in der zwischen 'moralischem' und 'rechtlichem' Fehlverhalten noch nicht kategoriell unterschieden wurde, scheint die Kirchenzucht des 19. Jahrhunderts Funktionen zu übernehmen, die im ausdifferenzierten Rechtssystem und vor allem in der spezialisierten und konfliktorientierten Strafverfolgung nicht mehr erfüllt werden können. In beiden Fällen gibt es eine lokale Öffentlichkeit, die mehr oder minder aktiv an der Konfliktregulierung beteiligt ist und die nicht unbedingt darauf aus ist, die Angezeigten (oder auch die Anzeiger) auszugrenzen. Gleichzeitig eröffnen sich, was sowohl Landwehr wie Zöttlein hervorheben, Handlungsmöglichkeiten für Anzeiger und Angezeigte, die in den jeweiligen Ordnungen nicht unbedingt vorgesehen sind, die sich aber auch nicht einer mechanischen Applikation heutiger Vorstellungen von Denunziation fügen. Wenn der Anzeiger auch verdeckte Eigeninteressen verfolgte (vgl. Landwehr S. 51 zur 'Übersetzung persönlicher Konflikte in die Sprache des Ruggerichts'), so beliess er die Konfliktregulierung doch im lokalen Bereich. Freilich kann man dies dann auch so sehen, daß er die Effizienz der Macht- und Normdurchsetzung bestärkte, ohne dies bedenken zu können.

Landwehr beschreibt die Durchsetzung der Ordnung der 'guten Policey' unter den Aspekten von Konsensherstellung zwischen den Adressaten dieser Ordnung, aber auch zwischen ihnen und den obrigkeitlichen Machtinstanzen, und zwar in der Verbindung von Überwachung und Mitwirkung am Verfahren. Die Vorstellung einer grenzenlosen Überwachung, die man aus den obrigkeitlichen Anordnungen herauslesen könnte, ist nicht haltbar; lückenlose Überwachung ist nicht durchsetzbar. Landwehr stellt am Ende seines Beitrags die Frage nach den "verschiedenen Ordnungsvorstellungen [...], die von den Beteiligten konstruiert wurden" (S. 53) - leider bricht er den Beitrag mit dieser Frage ab: Die Ordnung der 'guten Policey' basierte auf Vorstellungen vom Menschen und Staatsbürger, von Ordnung und Abweichung, die sich im 18. und 19. Jahrhundert tiefgreifend wandeln (es ist insofern begriffsgeschichtlich sinnvoll, daß Zöttlein bei der Darstellung der Kirchenzuchtverfahren des 19. Jahrhunderts ausdrücklich nicht von 'Denunziation', sondern von 'Anzeige' spricht, S. 97). Der strafende Staat des 19. Jahrhunderts setzt bekanntlich auf andere Formen der Regulierung und Disziplinierung, die in den unterschiedlichen Konzeptionen von Prävention durch Strafe zum Ausdruck kommen und auch rigorose Formen der Ausgrenzung derjenigen hervorbringen, die als hartnäckige Abweichler oder eben als Gewohnheits- und Berufkriminelle wahrgenommen werden. Um so interessanter, daß sich im Kirchenzuchtverfahren noch im 19. Jahrhundert Formen der lokalen Konfliktregulierung erhalten haben, bei denen die staatlich-obrigkeitliche Macht im Hintergrund bleibt (vgl. Zöttlein S. 112 f., mit ausdrücklicher Bezugnahme auf die frühneuzeitliche Rügepraxis); es scheint aber nicht zufällig, daß Zöttlein dies an Fällen demonstriert, die sozusagen an der Grenze zwischen 'nur' moralischem Fehlverhalten und strafrechtlich relevanten Sachverhalten angesiedelt sind.

Ceballos Gómez untersucht die Funktionen von Klatsch, Gerücht und Denunziation (bzw. denunciatio, s. S. 56) im spanischen Amerika und im Zusammenwirken der Ökonomie der Macht mit den Ökonomien von Zeit und Raum: Wie (und in welchem Umfang) konnte sich eine in Spanien konzipierte Ordnung durchsetzen, mit der die Ausbeutung des Riesenraumes gelingen konnte (S. 61). Die Autorin rekonstruiert eine 'Selbstregulierung' mit der Hilfe dezentraler Machtzentren und den ihnen zugeordneten informellen Netzwerken, deren Ordnungskommunikation durch Relevanz'filter' derart gesteuert wurde, daß Normverstösse möglichst 'vor Ort' und auf niedriger Stufe aufgenommen und verarbeitet werden konnten. Dies setzte 'Klatsch' und 'Gerüchte' voraus, in denen Normen und Abweichungsvorstellungen ständig konkretisiert bzw. konstruiert (S. 67) werden konnten, in denen mit der Reflexion der ökonomischen und bzw. oder moralischen Zulässigkeit der denunciatio aber auch deren vergleichsweise restriktive Handhabung erreicht werden konnte. Wichtig ist der Hinweis, daß das Zusammenspiel formeller und informeller Kontrolle ständig gefährdet war (S. 60).

Der Beitrag von Kohser-Spohn (in französischer Sprache) beschäftigt sich ebenfalls, wenngleich in wesentlich kleineren zeitlichen und räumlichen Dimensionen, mit Aspekten der Durchsetzung von Ordnungsvorstellungen an der 'Peripherie'. Er markiert gleichsam den Übergang zum 'modernen' Verständnis der 'Denunziation', indem er die Schwierigkeiten dokumentiert, die sich der revolutionären Pariser 'Zentrale' mit der Einführung eines landesweiten Netzes der (u. U. anonymen) Überwachung von Bürgern durch Bürger auftaten. Am Beispiel Strassburgs werden die Konflikte herausgearbeitet, die sich mit Loyalitätswechseln und Legitimationsveränderungen entwickeln mussten und die sich in den Denunziationspraktiken und den Widerständen dagegen äusserten. Überkommene Strukturen (exemplarisch: das Verhältnis zwischen Dienstherren und Dienstboten bzw. Dienstbotinnen, S. 82 f.) motivieren Anzeigen, für die es nun explizit Legitimation, Form und Adresse gibt, der Denunziant konnte sich als Vollstrecker einer öffentlichen Aufgabe sehen. Während Landwehr und Zöttlein, aber auch Ceballos Gómez eher subsidiäre Mechanismen beschreiben, die, im Sinne einer je spefizischen Ökonomie der Macht, zentrale und höherrangige Ordnungs-Institutionen entlasten sollten, kommt bei Kohser-Spohn mindestens in Ansätzen der Versuch in den Blick, Gesellschaft prinzipiell 'durchsichtig' zu machen, und zwar tendenziell auch im Hinblick auf die Inhaber der Macht (vgl. S. 78 f.). Dies wird im Zusammenhang mit der revolutionären Neudefinition von Macht und Regierung/Regiert-sein gesehen, die sich bekanntlich auch auf die Definitionen von Privat und Öffentlich auswirkt.

Ross thematisiert Anzeigen gegen lokale Richter, die in der 'ersten spanischen Diktatur' zu Untersuchungen und u. U. auch zu Sanktionen gegen die denunzierten Juristen führten. Er betont die Tradition der Beschwerden gegen Richter, die sich zu Lasten von Visitationen (Visiten) schon im 19. Jahrhundert als Mittel der Justizkontrolle durchgesetzt hätten (S. 143), so daß in diesem Bereich das Regime Riveras auf kulturell verankerte Prozeduren aufsetzte, womit sich umgekehrt das überkommene Standesbewusstsein und die überkommene Standesethik der Justizjuristen bestätigt sehen konnte (S. 163). Damit hänge zusammen, daß Beschwerden bzw. Denunzationen von lokalen Richtern nicht auf Identifikation der Beschwerdeführer mit dem Regime schliessen liessen, sondern als tradierte Mittel lokaler Konfliktregulierung (wesentlich unter örtlichen Notablen) auch in der Diktatur zu verstehen seien: Die standesinternen Kontrollmechanismen scheinen intakt geblieben zu sein als eine Form der Selbstkontrolle, die vom politischen Regime zwar benutzt, aber eben nicht vollständig gesteuert werden konnte. Insofern können Denunziationen nicht unbesehen als Akte der Unterstützung der Diktatur verstanden werden, sondern müssen auch als herkömmliche Form der Kommunikation zwischen 'Oben' und 'Unten' gesehen werden, mit der intermediäre Institutionen unter Druck gesetzt werden konnten.

Baberowski schildert zunächst, wie der stalinistische Staatsapparat den Fall des kindlichen Denunzianten und Mordopfers Pavlik Morozov dramatisierte und den Protagonisten heroisierte, um so den 'neuen Menschen' auch als Denunzianten und Zuträger des Terrorapparates zur Vorbildgestalt zu machen (S. 165 f.; daß hier eine perfide Manipulation vorliegt, ist unzweifelhaft; fragwürdig scheint es mir jedoch, dem elfjährigen Denunzianten, der seinen Vater wohl aus nicht-politischen Motiven auslieferte, post festum ein bewusstes und böswillig-vorsätzliches Zusammenspiel mit dem Apparat unterstellen zu wollen, S. 166 f.: man sitzt den Propagandalügen auch dann auf, wenn man sie mit negativem Vorzeichen übernimmt). Der Denunziant als 'Mittäter' des Terrors (S. 168) bedurfte offenkundig der Bestätigung durch eine Art stalinistischer Hagiographie, in der die unterschiedlichsten Motivationen aufgehen konnten, die Barberowski typologisierend entdämonisiert: ideologische Motive, Bewältigung von Alltagskonflikten, ethnische Konflikte, 'archaische' Konflikte - und schliesslich die Kontrolle intermediärer Amtsträger im Zusammenwirken zwischen Leitung und Denunzianten. Denunziation richtete sich nicht nur (wie im Ausgangsfall) gegen Familienmitglieder und Nachbarn, sondern auch gegen Funktionsträger (selbst hoher Ränge). Sie wirkt zerstörerisch gegen Apparat und Eliten, sie ist zum Teil auch Ausdruck der Tatsache, daß sich das kommunistische Regime gegen den Willen der Bevölkerung durchsetzte.

Hirschs Fallstudie untersucht ein begrenztes Aktenkorpus von 'Heimtücke-Fällen', die 1935 vor dem Sondergericht Darmstadt verhandelt wurden (eine kleine Diskrepanz hat sich mir nicht aufgelöst: auf S. 200 ist von 92, auf S. 202, Anm. 14, von 87 Verfahren die Rede: eine tabellarische Übersicht wäre hilfreich). Das Heimtückegesetz stellte 'Behauptungen' unter Strafe, die sich z. B. gegen das Reich, die Reichsregierung und die NSDAP richteten, Äusserungen in der 'Öffentlichkeit' oder solche, die an die Öffentlichkeit gelangten. Ein Gesetz, das zur Denunziation aufforderte, dieser aber auch einen Rahmen gab, sie definierte und legitimierte. Hirsch rekonstruiert beispielhafte Verfahrensverläufe, von der Anzeige über die Ermittlungen verschiedener Stellen zu den Anklageerhebungen und schliesslich den strafrichterlichen Urteilen. Tendenziell wird damit das Profil eines bestimmten Verfahrensganges mit Profilen von Anzeigern und Angezeigten verbunden; man vermisst jedoch die Reflexion der Textsorte, auf die sich die Studie stützt; die diachron informierte Aktenanalyse würde den Fragehorizont erweitern und vor allem auch die Integration der Heimtücke-Sachverhalte in polizeiliche und richterliche Praxis und die damit verbundenen Konstruktionen von Abweichungsgeschichten in der Nazi-Diktatur problematisieren.

Sauerland erzählt gleichsam die Geschichte Polens zwischen 1939 und 1989 aus der Perspektive der Denunziation und der Denunzianten; der Wechsel von der deutschen Besatzung zum Einmarsch der Roten Armee und schliesslich zur Errichtung 'Volkspolens' ist auch als Wechsel der Adressierungen von Denunziation und von Denunziantenrollen zu verstehen. Dabei konnte es nicht zu einer 'rechtlichen' Aufarbeitung der jeweils vergangenen Phasen kommen (S. 237), die nun im Interesse der Opfer und der Geschichtsschreibung nachzuholen wäre (S. 245 f.).

Vollnhals' abschliessender Beitrag rekonstruiert die Struktur des MfS als organisatorisches Zentrum der flächendeckenden Überwachung. Dessen unstrittige 'Erfolge' sind nicht nur auf seine Anwerbungseffizienz zurückzuführen. Aus Vollnhals' Darstellung ergibt sich, daß die bürokratische Organisation der Kompilation und Speicherung ganzer Lebensgeschichten notwendige Voraussetzung dafür war, daß die massenhaft eingehenden Berichte unterschiedlichster Wertigkeit überhaupt erst nutzbar gemacht werden konnten. Hinzu kommt die breite Palette an Repressions- und Sanktionsmöglichkeiten, die - wie Vollnhals noch einmal eindrücklich zeigt - dem MfS zur Verfügung standen und unter denen die strafjuristische Variante und die öffentlich sichtbare Stigmatisierung nicht die wichtigste, zumindest nicht die dauerhaft wirksamste war.

Bleibt die diskursgeschichtlich orientierte Studie von Becker über das Verhältnis von Polizei und 'Vigilanten' im 19. Jahrhundert. Der Beitrag fügt sich nicht ganz der 'Linie' des Bandes - doch gerade deshalb komplettiert er ihn in begrüssenswerter Weise: Er konzentriert sich auf einen bestimmten Ausschnitt 'normaler' Strafverfolgung bzw. 'normaler' Polizeiarbeit. Becker rekonstruiert am Beispiel der Diskussionen über den Einsatz von Vigilanten (d. h. von Polizeispitzeln, die selbst Adressaten polizeilicher oder strafjustizieller Tätigkeit waren oder sind) Definitionen von Kriminalität und Unterwelt, die als Kehrseite Selbstdefinitionen der Polizei bzw. Polizeiarbeit enthalten. In den Auseinandersetzungen über Notwendigkeit und Effizienz eines Spitzelwesens wird die Kriminalität wesentlich einer Gegen- oder Unterwelt zugeordnet, deren Organisation für die bürgerliche Normalität undurchsichtig bleiben muss, die deshalb eine besondere Organisation der Polizei erfordert. Ihre Beobachtung und Verfolgung ist nicht nur durch ihre Abschottung schwierig, sie birgt für die Beobachter auch 'Ansteckungsgefahren'. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß der Polizist sich ganz seinem Beruf verschreiben sollte, daß tendenziell 'Polizist-sein' als Eigenschaft der Person konzipiert wurde wie 'Verbrecher-sein'. Die solide Verankerung der Definitionen von Polizei und Unterwelt in den populären Vorstellungsbereichen des 19. Jahrhunderts ist auffällig (die im Räuber- und Kriminalroman sowie in Fallgeschichten zum Ausdruck gebracht werden); Transformationen betreffen vor allem die Rationalität des Verbrechers, die in den spezfisch polizeilichen Konstruktionen aus naheliegenden Gründen hoch bewertet wurde.4

Gerade weil man die einzelnen Beiträge des Bandes mit Gewinn liest, wünscht man sich, daß die Querverbindungen zwischen ihnen öfters explizit gemacht und reflektiert würden. Schon ein Register würde gute Dienste leisten. Die sich abzeichnende Begriffsgeschichte wäre aufzufüllen, die Abwertung des Denunzianten vor allem im 19. Jahrhundert im Zusammenhang von Politik-, Rechts- und Sozialgeschichte bleibt zu rekonstruieren. Selbst wenn die Rolle der Denunziation in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts nicht überraschend ist, scheinen weder die unterschiedlichen gesetzlichen Institutionalisierungen noch die Durchsetzungen in den Praktiken der Verschriftlichung und Speicherung hinreichend aufgehellt. Schliesslich bleibt die Abgrenzung der Denunziation von der Anzeige Desiderat, und zwar sowohl im Hinblick auf totalitäre als auch auf demokratische Rechtssysteme.

Anmerkungen:
1 Vgl. Horst Schüler-Springorum: Kriminalpolitik für Menschen. (edition suhrkamp 1651) Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 24. - Natürlich können sich auch hinter Anzeigen, die als legitim wahrgenommen werden, moralische Fragwürdigkeiten, oder - für den Anzeiger - moralische Konflikte verbergen.
2 Siehe http://www.rz.uni-frankfurt.de/gk-rechtsgeschichte.
3 Achim Landwehr/Friso Ross: Denunziation und Justiz. Problemstellungen und Perspektiven (S. 7 ff.); Achim Landwehr: "...das ein nachbar uff den andern heimblich achtung gebe." 'Denunciatio', Rüge und 'gute Policey' im frühneuzeitlichen Württemberg (S. 25 ff.); Diana L. Ceballos Gómez: Staat, lokale Eliten und Denunziation im Amerika des Ancien Régime (S. 55 ff.); Christiane Kohser-Spohn: Théories et pratiques de la dénonciation (1789-1793): Analyse d'un exemple (S. 77 ff.); Helga Zöttlein: Gemeindliche Kirchenzucht und Anzeigepraxis in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel der kurhessischen Landstadt Zierenberg (S. 95 ff.); Peter Becker: Vigilanten als Informationsquelle im 19. Jahrhundert: Kriminalistischer lrrweg oder Königsweg im Kampf gegen "organisiertes Verbrechen"? (S. 117 ff.); Friso Ross: Lokale Notabeln, Berufsethos und Standeskultur: Richterkontrolle und Denunziation in der ersten spanischen Diktatur (1923-1931) (S. 141 ff.); Jörg Baberowski: "Die Verfasser von Erklärungen jagen den Parteiführern einen Schrecken ein": Denunziation und Terror in der stalinistischen Sowjetunion 1928-1941 (S. 165 ff.); Harald Hirsch: Politische Denunziation vor dem Sondergericht Darmstadt im Jahre 1935 (S. 199 ff.); Karol Sauerland: Denunziation in Volkspolen (S. 227 ff.); Clemens Vollnhals: Denunziation und Strafverfolgung im Auftrag der "Partei": Das Ministerium für Staatssicherheit in der DDR (S. 247 ff.).
4 Vermisst habe ich bei Becker den Anschluss an die Konzeptionen der politischen Polizei im 19. Jahrhundert, die z. B. von Wolfram Siemann schon vor gut fünfzehn Jahren erforscht wurden, vgl. z. B. 'Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung.' Anfänge der politischen Polizei 1806-1866. Tübingen: Niemeyer 1985.

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