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Titel
Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik


Autor(en)
Fried, Johannes
Erschienen
München 2004: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
509 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Depkat, John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin

Geschrieben hat das Buch ein Mediävist, gelesen werden sollte es von allen Historikern, denn die brillant geschriebene und auf hohem Niveau argumentierende Studie plädiert für eine grundlegende Neuausrichtung des Fachs als „neurokulturelle[r] Geschichtswissenschaft“ (S. 393).

Einsatzpunkt der Argumentation ist das bekannte Faktum, dass Erinnerung in einem umfassenden Sinne unzuverlässig ist. Die von ihr entworfenen Vergangenheitsbilder fließen unaufhörlich und werden von Wiederholung zu Wiederholung neu geschaffen. Diese fortlaufende Modulation von Erinnerung ist nun keinesfalls – so Frieds entscheidende, sich auf neueste neurowissenschaftliche Erkenntnisse stützende These – den jeweiligen sozialen Kontexten und den durch sie gefügten Interessen geschuldet. Auch vorgängig ausgeprägte Erzählmuster, die Zwänge der Genres oder übergreifende Diskurszusammenhänge seien nicht primär für die fortlaufende Verformung von Erinnerung verantwortlich. Vielmehr liege dies in der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns selbst begründet, wie Fried betont: „Ohne Kenntnis der Erinnerungsprozesse, der Behandlung von Ablauf und autonomer Sinngebung eines Geschehens durch das Hirn, und zwar bis hinab oder hinauf – so meine ich – zu den neurobiologischen Grundlagen, läßt sich kein Wissen adäquat beurteilen. [...] Denn nichts, kein Wille, kein Interesse, kein Diskurs, entzieht sich der Verformungsmacht des Gedächtnisses.“ (S. 53f.)

Deshalb fordert Fried die systematische Einbeziehung der Neurowissenschaften in die kulturhistorische Forschung, um eine Geschichtswissenschaft zu begründen, die als Gedächtniskritik eine „Formkunde der Verformung“ entfaltet (S. 224). Statt die Faktizität der in Erinnerungsdokumenten überlieferten Informationen zu prüfen, solle die Quellenkritik die komplex verformte Erinnerung „auf eine ursprüngliche Wahrnehmung und wirkliche Sachverhalte“ zurückführen (S. 380). Konkret heißt dies, die situativen Kontexte von Erinnerungszeugnissen zu identifizieren und die Schichtung von Erinnerungsbeständen freizulegen. Dabei hat Fried als Mediävist verständlicherweise in erster Linie die Quellen aus schriftlosen und schriftarmen Kulturen im Blick, doch gilt seine Forderung, dass alles, was sich bloß der Erinnerung verdanke, prinzipiell als falsch zu gelten habe, für Material aus allen historischen Epochen (S. 48).

Doch erschöpft sich Frieds Argumentation nicht in dem Plädoyer für eine neue Quellenkunde. Es geht ihm auch um eine grundlegende Neubestimmung des Verhältnisses von „Natur“ und „Kultur“. Bekanntlich war die strikte Unterscheidung von beiden für die Begründung der Historiografie als Wissenschaft durch den Historismus von zentraler Bedeutung. Demgegenüber argumentiert Fried für die neuronale Bedingtheit aller Kultur; er setzt das menschliche Gehirn und seine Operationen an den Anfang allen menschlichen Wissens und Handelns. Zugleich räumt er mit der Vorstellung auf, dass ein lebendiges Hirn allein für sich bestehe und seine Leistungsfähigkeit gleichsam aus sich selbst heraus entfalte. Es dränge vielmehr auf interzerebrale Kooperation und erweitere seine Kapazitäten durch kulturelle Techniken wie Sprache und Schrift. Das Gedächtnis erscheint damit nicht länger nur als passiver Wissensspeicher oder reaktive „Reizbeantwortungsmaschine“ (S. 135), sondern als ein mit seiner sozio-kulturellen Umwelt vielfältig vernetztes Organ. Mit dieser Neukonzeptualisierung des Verhältnisses von „Natur“ und „Kultur“ liefert Fried eine wertvolle Parallellektüre zu Harald Welzers Buch „Das kommunikative Gedächtnis“.1

Von diesen Prämissen ausgehend fordert Fried eine Geschichtswissenschaft, „die sich mit den Kognitionswissenschaften zu einer genaueren Aufklärung über den Menschen und seine Kulturen verbündet und bis in die Handbücher hinein eine eigene Darstellungsform entwickelt“ (S. 393). Ein solcher Ansatz könne „tiefer in die übergreifenden Zusammenhänge allen historischen Geschehens mit den genetischen und kulturellen Konditionen“ eindringen als die „herkömmlichen Methoden“ (S. 365). Selbst die neuere Kulturgeschichte springt aus seiner Sicht noch ‚zu kurz’, weil sie bei der Betrachtung des ‚kulturellen Gedächtnisses’ verharre und dem „humanen Kulturinstrument“, dem menschlichen Gehirn und seiner Arbeitsweise, keine zureichende Beachtung schenke (S. 78).

Fried gebührt Anerkennung dafür, dass seine Studie einige zentrale Ergebnisse der kognitionswissenschaftlichen, verhaltenspsychologischen und neurologischen Forschung rezipiert und für die Geschichtswissenschaft ‚übersetzt’ hat. Es gelingt ihm, einige grundsätzliche, für eine geschichtswissenschaftliche ‚Memorik’ bedeutsame Arbeitsweisen des Gehirns freizulegen. Weiterführend sind auch die ersten Umrisse einer „Formkunde der Verformung“ (S. 224). So zeigen die Fallstudien, dass Erinnerung szenisch strukturiert ist, dass nur herausragende Einzelpersonen und vereinzelte Taten erinnert werden, nicht aber Kontexte, Zusammenhänge und Verläufe (S. 199). Erst die Retrospektive verknüpft disparate Erinnerungsszenen zu Verläufen und komplexen Geschehenszusammenhängen. Ebenso wertvoll ist Frieds Erkenntnis, dass der jeweilige Gebrauchskontext von Erinnerungszeugnissen entscheidend für die Stabilität ihrer Inhalte ist. Im Mittelalter waren kultrelevante, ritualgeleitete Erzählungen formal und inhaltlich stabiler als kultferne Erzählungen wie beispielsweise Sagen. Auch zeichnet die Studie aus, dass sie es nicht bei der bloßen Dekonstruktion herkömmlicher Lesarten bewenden lässt, sondern aufzeigt, wie aus der Dekonstruktion neue Fragen erwachsen, die die unzuverlässigen Erinnerungszeugnisse in durchaus ‚zuverlässige’ Quellen zu verwandeln vermögen. Freilich geht es dann nicht mehr um die Faktizität der überlieferten Informationen, sondern um die Faktizität des erzählerisch entworfenen Sinnzusammenhangs.

Frieds engagiertes und ans Grundsätzliche rührende Plädoyer fordert auch Widerspruch heraus. Die Parallelisierung von Gehirn und Kultur wird sehr weit getrieben; vielfach geht das eine im anderen auf. Frieds Fallbeispiele dokumentieren jedoch, dass die Modulationen von Erinnerung durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden, die eben gerade nicht aus den Operationen des Gehirns plausibel erklärt werden können, sondern in erster Linie mit sozialen Selbstverständigungsprozessen, mit Deutungskämpfen und Legitimationsbedürfnissen, mit textuellen Strategien und zeitüblichen Diskurskonfigurationen zusammenhängen. Erinnerung ist nun einmal identitätsrelevant und deshalb immer an soziale Gruppen, konkrete Situationen und institutionelle Rahmenbedingungen gebunden. In diesem Zusammenhang scheint es mir gerade für Historiker fruchtbringend, nicht allein auf die flexible Formbarkeit des Gedächtnisses abzuheben, sondern auch einmal nach den Grenzen seiner Modulationskraft zu fragen. Welche historischen Geschehnisse, individuellen Erfahrungen und historischen Fakten lassen sich eben gerade nicht immer wieder neu und immer wieder anders erzählen? Auch diese Fragerichtung sollte integraler Bestandteil der erst noch zu schreibenden „Formkunde der Verformung“ sein.

Daraus ergibt sich ein zweiter Einwand. Als kulturelle Artefakte sind Erzählungen – die Erinnerungszeugnisse schlechthin – wohl kaum nur den spontanen, selbstläufigen und den historischen Akteuren selbst unbewussten Operationen des Gehirns geschuldet, sondern beruhen immer auch – wenn nicht überhaupt nur – auf dem Willen, sich erinnern zu wollen. Vergangenheitsbezug ‚passiert’ nicht irgendwie, sondern wird gesucht, gewollt und gefunden. Ob dieser ‚Wille zur Vergangenheit’ nun in den Arbeitsweisen des menschlichen Gehirns angelegt ist oder nicht vielmehr doch den Orientierungs- und Legitimationsbedürfnissen sozialer Systeme geschuldet ist, scheint mir weiterhin offen zu sein. Bei „Gehirn“ und „Kultur“ handelt es sich um zwei nach jeweils eigenen Regeln operierende Systeme, die zwar aneinander gekoppelt sein mögen, aber doch nicht direkt in die Operationen des jeweils anderen Systems eingreifen können.

Drittens ist einzuwenden, dass Vergangenheitsbezüge nicht allein durch jeweilige Gegenwartsbedürfnisse definiert sind, sondern auch durch die jeweils antizipierte Zukunft. Das hat Reinhart Koselleck wiederholt gezeigt.2 Dieser Zukunftsbezug von Erinnerung taucht in der von Fried umrissenen gedächtniskritischen Memorik bisher nicht auf, sollte aber in künftigen Erörterungen eine Rolle spielen.

Der gewichtigste Einwand betrifft jedoch die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Status von Erzählungen für eine neurokulturelle Geschichtswissenschaft. Neurowissenschaftler beobachten die Operationen des Gehirns in actu. Eine gedächtniskritische Memorik findet mit Erzähltexten aber nur die Substrate vergangener Kommunikation vor.3 Lassen sich diese im Durchgriff auf die Operationen des Gehirns lesen? Das scheint mir zweifelhaft, denn Erzählung als „Sinnbildung über Zeiterfahrung“ (Jörn Rüsen) ist selbst ein narratives Erinnerungsverfahren, in dessen Verlauf ‚Sinn’ durch Erzählung erst gebildet wird. Es ist deshalb die Frage, ob nicht die Eigenkraft des Narrativen, seine Verfahren und Gesetzmäßigkeiten sowie die relative Autonomie von ästhetischen Momenten in diesem Prozess die Operationen des Gehirns zu einem Grade überformen, dass sie in den Texten selbst kaum noch ablesbar sind. Diese Einwände zeigen freilich nur, dass mit Frieds großem Wurf eine Diskussion eröffnet ist, die weitergehen sollte.

Anmerkungen:
1 Welzer, Harald, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002; rezensiert von Patrick Krassnitzer: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-3-147>.
2 Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1995; Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000.
3 Dazu hier nur: Hardmeier, Christof, Textwelten der Bibel entdecken. Grundlagen und Verfahren einer textpragmatischen Literaturwissenschaft der Bibel, 1. Bd., Gütersloh 2003, S. 47-77; Holdenried, Michaela, Autobiographie, Stuttgart 2000, S. 57-61.

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