Cover
Titel
Das Recht der Sieger. Die absurdesten alliierten Befehle im Nachkriegsdeutschland


Autor(en)
Koop, Volker
Erschienen
Berlin 2004: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ilko-Sascha Kowalczuk, Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU), Abt. Bildung und Forschung, Berlin

Volker Koop war zunächst Journalist, dann zwischen 1972 und 1994 in verschiedenen Politikfeldern tätig und arbeitet seither als freier Sachbuchautor. In zehn Jahren hat er mehr als ein dutzend Monografien zu zeithistorischen Themen vorgelegt. Diese Bilanz ist beachtlich und verweist auf eine ganz offensichtlich strenge Arbeitsdisziplin. Allerdings gehört zu dieser Bilanz auch die Einschätzung, dass die meisten Bücher wichtige Themen behandeln, aber leider oftmals mit schneller Hand geschrieben und methodisch unbedarft ausfallen. Eine fehlende Berücksichtigung der wichtigsten Forschungsliteratur gehört dazu ebenso wie ein selektiver und nicht vorurteilsfreier Zugriff auf Archivalien. Zudem fehlen leitende Fragen, die den Darstellungen als roter Faden dienen würden. Fehler, Ungenauigkeiten und verkürzte Zusammenhänge sorgen dafür, dass diesen Sachbüchern zuweilen ihre Sachlichkeit abhanden kommt. Das alles traf, um nur einige Beispiele zu nennen, auf Koops Bücher über den 17. Juni 1953 (2003), die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ (1997) oder die sowjetische Besatzungsarmee (1996) zu. Das neueste Buch Koops unterscheidet sich darin nicht.

Gegenstand des Buches ist, so Koop, „Absurdistan“. Der Begriff steht hier für die Ordnungsbemühungen der Besatzungsmächte im Nachkriegsdeutschland. Am Anfang und am Ende des Buches bekennt sich der Autor zu seiner „Absurdistan“-These, womit er keinen auch noch so wohlwollenden Leser auf den Gedanken kommen lässt, die auf dem Cover wiedergegebene Begrifflichkeit sei als Marketingstrategie vom Verlag und ohne Wissen des Autors erdacht worden. Denn tatsächlich gibt das Buch entgegen der Ankündigung und der These des Autors gerade keine „Aspekte des absurden Alltags im Nachkriegsdeutschland“ (S. 18) wieder. Vielmehr hat Koop einige Fundstücke alliierter Anordnungen, von denen nicht wenige in der Forschungsliteratur bekannt sind, gesammelt und zu einem schlecht komponierten Werk gebündelt, um uns Nachgeborenen den ganz normalen Irrsinn von Besatzungsarmeen nahe zu bringen. Als absurde Dokumente der Nachkriegszeit empfindet Koop zum Beispiel Regeln über Öffnungszeiten von Gaststätten, Regeln für den Umgang mit Deutschen, Arbeitseinsätze für belastete Personen, Befehle für Ehrerbietungen vor den Symbolen der Siegermächte, die Einführung der Moskauer Zeit in Berlin, Sprachordnungen, Flugverbote für Brieftauben, das Zählen von Vieh und Haustieren, die Beschlagnahmung von Konsumgütern im großen Stil, Verkehrsregeln, Ehegesetze und vieles, vieles mehr. Natürlich mag man sich über den Sinn der einen oder anderen Ordnung und Regel, die ohnehin zumeist nur kurzzeitig in Kraft blieb, streiten. Manches wird die Leser sogar zum Schmunzeln animieren. Aber „Absurdistan“?

Absurd ist vielmehr, dass der Autor sich bis auf ganz wenige Ausnahmen nicht zu erklären bemüht, warum es zu einem Kompetenz- und Ordnungswirrwarr im Nachkriegsdeutschland kam und vor welchen gewaltigen Ordnungsaufgaben die Alliierten standen. Dafür gab es keine Vorbilder, weshalb es natürlich zu Unstimmigkeiten und Merkwürdigkeiten kam, die oft schnell beseitigt worden sind. Absurd ist auch, dass Koop es weitgehend unterlässt darzustellen, wie die von ihm als „absurde Befehle“ ausgemachten Regeln in der deutschen Bevölkerung aufgenommen worden sind und welchen Einfluss sie tatsächlich auf den Alltag hatten. Es könnten noch viele weitere Punkte aufgezählt werden – etwa dass es mehr als absurd ist, von der „amerikanischen Apartheid“ gegenüber der deutschen Bevölkerung zu sprechen (S. 34). Das ist nicht nur historisch ein völlig falscher Begriff, sondern verharmlost auf geradezu erschreckende Art die südafrikanische Apartheid-Diktatur.

Aber genug, Koops Maßstäbe sind ganz offenbar andere als die jener AutorInnen, die hier sonst vorgestellt und diskutiert werden. Wer wirklich etwas über den ganz normalen Nachkriegswahnsinn erfahren möchte, der greife zur einschlägigen Forschungs- und Erinnerungsliteratur. Ein amüsantes Beispiel, dass sich bei Koop nicht findet, sei abschließend als Entschädigung ausführlich zitiert. Überliefert hat es Wolfgang Leonhard:1 „Die ernste Stimmung des Abendberichts wurde diesmal durch Hans Mahle aufgelockert. Er gab ein Erlebnis aus Reinickendorf zum besten. ‚Stellt euch vor: Die Russen haben die Irrenanstalt Wittenau geleert! Bei meiner Rundfahrt kam ich zufällig auch an der Irrenanstalt vorbei; davor standen einige Rotarmisten, die die Tore öffneten und den Irren begeistert zuriefen: ‚Hitler kaputt, Krieg fertig, ihr frei!’ Die Irren rührten sich nicht und schauten finster drein. Weitere Rotarmisten kommen hinzu: ‚Krieg fertig, Freiheit’, rufen sie erneut. Die Irren rührten sich noch immer nicht. Da wurde es den Russen zu bunt. Sie trieben die Irren aus der Anstalt heraus, verschlossen die Eingangspforte und stellten einen Posten davor. Nachmittags mußte ich noch einmal dort vorbei. Vor der geschlossenen Irrenanstalt stand ein sowjetischer Posten mit aufgepflanztem Bajonett. Er war umringt von Irren, die verzweifelt riefen: ‚Wir wollen rein.’ Aber immer wieder werden sie mit den Rufen ‚Jetzt frei, Hitler kaputt’ von den Rotarmisten weggetrieben.’ [...] In den Verwaltungen einiger Bezirke tauchten [...] gedruckte Befehle auf, die etwa – ich zitiere aus dem Gedächtnis – folgenden Wortlaut hatten:

‚An die Bevölkerung Berlins!
Im Namen des Arbeiter- und Soldatenrates von Berlin übernehme ich die Macht. Ich befehle:
1. Alle Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei und ihrer Gliederungen sind sofort zu verhaften.
2. Über die Verhaftung ist mir laufend persönlich Bericht zu erstatten.
3. Die Straßen sind zu säubern, Licht-, Gas- und Wasserversorgung sind sofort in Gang zu setzen, die Verteilung der Lebensmittel ist nach meinen Anordnungen durchzuführen. Bei Nichtausführung meiner Befehle werden Zuwiderhandelnde mit schweren Strafen zu rechnen haben.
Der Kommandant von Berlin, gez. Spalinger’

Die Suche nach dem geheimnisvollen Gegenkommandanten wurde nun fieberhaft. Seine ‚Befehle’ hatten bereits eine katastrophale Wirkung. Den neuen Verwaltungen war jetzt nicht mehr klar, ob sie unsere oder Spalingers Anweisungen auszuführen hatten. [...] Spalingers Wirken sollte jedoch nicht mehr lange andauern. Wenige Tage später kam einer von uns erregt zurück: ‚Spalinger ist gefunden!’ ‚Wo? Wer ist es?’ riefen wir von allen Seiten. Der Spalinger-Entdecker konnte vor Lachen kaum berichten: ‚Er ist aus Wittenau.’ ‚Aus Wittenau? Was hat er denn für eine Funktion?’ ‚Gar keine! Spalinger war in der Irrenanstalt von Wittenau und gehört zu jenen, die von den Rotarmisten herausgetrieben worden sind.’ ‚Aber wie ist das mit den gedruckten Befehlen?’ ‚Ganz einfach! Als Spalinger mit den Irren aus der Anstalt getrieben wurde, schnüffelten sie in der Umgebung herum. Unweit der Anstalt entdeckten sie zufällig die einzige völlig unzerstörte Druckerei Berlins. Spalinger ging hinein und diktierte dort, offenbar in Erinnerung an die Situation von 1918, seine Befehle, die sofort gedruckt und verbreitet wurden.’“

Anmerkung:
1 Leonhard, Wolfgang, Die Revolution entläßt ihre Kinder, Köln 1955, S. 374ff.

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