Titel
Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1800-2000.


Autor(en)
Ehmer, Josef
Reihe
Enzyklopädie Deutscher Geschichte 71
Erschienen
München 2004: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
XII + 168 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Wagner, Universität München, Seminar für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

Josef Ehmers Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie knüpft zeitlich an den von Christian Pfister vorgelegten Band für die Frühe Neuzeit in der Oldenbourg-Reihe „Enzyklopädie Deutscher Geschichte“ an1. Damit liegt nun eine gelungene Zusammenfassung der wichtigsten demographischen Entwicklungstendenzen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts für Deutschland vor, wie sie in dieser Form bisher nicht existiert hat.

Die Historische Demographie und Bevölkerungsforschung erfordern aufgrund ihrer formalen Methoden spezifische Sachkenntnis, so daß es für Interessierte nicht immer leicht ist, sich einen raschen Überblick zu verschaffen. Ehmer verzichtet auf die häufig ungewohnte Darstellung mit zahlreichen Tabellen und Graphiken. Es unterbleibt auch eine gesonderte Beschreibung der grundlegenden historisch-demographischen Begriffe, Kennziffern und Methoden. Sie werden eher nebenbei, leicht verständlich umschrieben, eingeführt. Das Buch bietet daher eine gut lesbare, aber fundierte Einführung in die wichtigsten Bereiche der historisch-demographischen Forschung, die vom Leser kaum Vorkenntnisse verlangt.

Das ist in mehrfacher Hinsicht zu begrüßen. Durch die gegenwärtigen Diskussionen um die heutigen demographischen Wandlungsprozesse steigt die Bedeutung der historischen Erforschung demographischer Phänomene. Zudem sind die Historische Demographie und Bevölkerungsgeschichte zwar anerkannte, aber innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft randständige Spezialfächer.

Im Gegensatz zu den anderen westeuropäischen Ländern besteht darüber hinaus zwischen den beiden Wissenschaftszweigen Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie in Deutschland ein Spannungsverhältnis, wie Ehmer ausführlich darlegt. Die Bevölkerungsgeschichte arbeitet vor allem makroanalytisch, auf der Grundlage der amtlichen Statistik und hat deshalb ihren Schwerpunkt im 19. und 20. Jahrhundert. Die moderne Historische Demographie, wie sie in Deutschland Arthur Imhof begründet hat, erforscht das individuelle demographische Verhalten auf lokaler Ebene und bezieht sich deshalb vor allem auf das 17. bis 19. Jahrhundert. Die Bevölkerungswissenschaft, als dritter Bereich, beschränkt ihre Forschungen auf die demographischen Phänomene der unmittelbaren Vergangenheit und Gegenwart. Ehmer verknüpft für diese Einführung die Ergebnisse dieser drei Wissenschaftszweige, die in der deutschen Wissenschaftslandschaft relativ unverbunden nebeneinander stehen.

Wie in der Reihe üblich, gliedert sich das Buch in einen enzyklopädischen Überblick, einen Abschnitt zu Grundproblemen und Tendenzen der Forschung sowie ein thematisch gegliedertes Quellen- und Literaturverzeichnis. Der erste Teil des Buches beschreibt die langfristigen demographischen Strukturen und Trends im 19. und 20. Jahrhundert. Da die Ursachen der meisten demographischen Verhaltensweisen und Wandlungen bis heute nicht befriedend geklärt und insofern umstritten sind, werden im zweiten Teil Erklärungsmodelle und Theorien erläutert.

Ehmer beginnt seinen Überblick mit dem Problem der geographischen Abgrenzung und wechselnden Grenzen Deutschlands. Anschließend stellt er knapp die wichtigsten Quellen der Disziplin dar und erläutert die Bevölkerungsentwicklung im Untersuchungszeitraum. Diese behandelt er zunächst chronologisch, wobei er sich an den großen Kriegen als Zäsuren orientiert, und seinen Schwerpunkt auf das Bevölkerungswachstum und dessen Ursachen in den jeweiligen Phasen legt. Im weiteren widmet er sich den langfristigen Entwicklungstendenzen anhand der typischen demographischen Teilbereiche: Migration (Außen- und Binnenwanderungen), Mortalität, Fertilität, Heirat und Unehelichkeit sowie dem Wandel der Altersstruktur. Auf 50 Seiten werden die wichtigsten historisch-demographischen Sachverhalte sehr klar und prägnant vermittelt. Dabei werden auch Unterschiede und Parallelen zwischen den beiden deutschen Staaten bzw. neuen und alten Bundesländern behandelt. Die Darstellung der Mortalitätsentwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fällt etwas zu knapp aus. Hier fehlt z.B. der Hinweis auf die „Ost-West-Lücke“ in der Lebenserwartung.2

Den heute häufig pessimistischen Einschätzungen über die aktuellen demographischen Veränderungen (Geburtenrückgang, Überalterung usw.) entgegnet Ehmer, der aktuelle Debatten kaum anschneidet, am Ende des ersten Teils erfreulich nüchtern: „Die Entwicklung der letzten beiden Jahrhunderte mahnt zur Vorsicht gegenüber düsteren wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Prognosen, die aus dem Wandel der Altersstruktur abgeleitet werden“ (S. 56), da sich weder ein Zusammenhang zwischen den Veränderungen der Altersstruktur und konjunkturellen Zyklen erkennen lässt noch die Stärke der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ein guter Indikator für die Zahl der tatsächlich Erwerbstätigen ist.

Der Aufbau des zweiten Teils orientiert sich ebenfalls an den demographischen Kerngebieten. In diesem Zusammenhang werden leicht verständlich die Erklärungsansätze der demographischen Phänomene der beiden letzten Jahrhunderte dargestellt und die für Deutschland maßgeblichen internationalen Forschungen miteinbezogen. So werden zum Beispiel folgende Fragen erörtert: Wie erklärt sich der Sterblichkeits- und Geburtenrückgang? Warum erhöhte sich die Zahl der unehelich geborenen Kinder im 19. Jahrhundert? Was waren die Ursachen regional und sozial unterschiedlichen demographischen Verhaltens? Welchen Beitrag leistete die Zuwanderung zum Städtewachstum? Zu den besonderen Stärken zählt, daß Ehmer nicht nur einen Überblick über die im engeren Sinne demographischen Entwicklungen und Ansätze bietet, sondern vergleichsweise viel Platz den neueren Forschungen zur Geschichte der Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik einräumt.

In Deutschland wie in anderen Ländern zeichnete sich die Bevölkerungswissenschaft durch eine besondere Staats- und Politiknähe aus, die sich in Deutschland jedoch ausgesprochen folgenreich gestaltete. In diesem Zusammenhang behandelt Ehmer ausführlich zwei Perioden angewandter Bevölkerungspolitik: die Heiratsbeschränkungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik. Im Rahmen der Pauperismus-Diskussion trat an die Stelle der Angst vor „Entvölkerung“ die der „Übervölkerung“. Gemäß den meisten Zeitgenossen lag die Ursache für die zunehmende Armut im Vormärz an einer zu starken Vermehrung der Unterschichten, die über die vorhandenen wirtschaftlichen Ressourcen hinausging. Die Vorstellung eines Zusammenhangs zwischen Bevölkerungsvermehrung und Verelendung, inspiriert durch die Schriften Malthus, legitimierte wissenschaftlich die Einführung von Heiratsbeschränkungen unterer Schichten. Die zeitgenössische Einschätzung einer „Übervölkerung“ als Grund für Verelendung im frühen 19. Jahrhundert fand Eingang in die Sozialgeschichte, obwohl es auch kritische Stimmen im „Übervölkerungs-Diskurs“ gab und sich dieser Begriff weder empirisch operationalisieren noch überprüfen läßt.

Im späten 19. Jahrhundert kam es mit der Verbreitung eugenischer, sozial- und rassehygienischer Ideen zu einem weiteren Paradigmenwechsel in der Bevölkerungswissenschaft. Rassenhygiene und Medizin entwickelten sich in diesem Zusammenhang zu den neuen Leitdisziplinen. Zur nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik hebt Ehmer hervor, daß der Begriff Bevölkerungspolitik in der Erforschung des Nationalsozialismus mittlerweile einen zentralen Stellenwert einnimmt und in einer erweiterten Auslegung verschiedene Bereiche der Vernichtungspolitik umschließt. Angesichts der Fülle der Forschungsliteratur kann eine solche Einführung jedoch nur die wichtigsten Aspekte der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik anschneiden und lediglich erste Literaturhinweise bieten.

Das Buch endet mit einer kritischen Darstellung der „Theorie“ des demographischen Übergangs, der die langfristige Senkung von Mortalität und Fertilität miteinander als auch mit dem beginnenden Bevölkerungswachstum im 18. Jahrhundert verbindet und als Teil eines universalen gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses darstellt und erklärt. Die Entstehung, die verschiedenen Interpretationen dieses Modells und die in der Forschung vorgebrachten Kritikpunkte werden ausführlich dargestellt. Der demographische Übergang scheint demnach als „theoretischer Rahmen“ (S. 126) der Bevölkerungsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte nicht tauglich zu sein. Für das Fach selbst konstatiert Ehmer eine fortschreitende Spezialisierung und Aufsplitterung in der Erforschung der einzelnen demographischen Teilbereiche (Fertilität, Mortalität, Heiratsverhalten, Migrationen), die diese zunehmend in den jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen verankert, anstatt die einzelnen demographischen Phänomene miteinander in Beziehung zu setzen. Sein Resümee lautet daher: „Nicht auszuschließen ist jedoch, dass eines Tages nicht nur die ‚Theorie der demographischen Transition’, sondern die Einheit der Bevölkerungsgeschichte insgesamt als bloßes Konstrukt einer Wissenschaftsdisziplin oder gar als ‚Mythos’ erscheint“ (S. 127). Der kritische Umgang mit dem Fach durchzieht den gesamten Band und gehört zu den besonderen Vorzügen des Buches, dem zahlreiche Leser zu wünschen sind.

Anmerkungen
1 Christian Pfister, Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1500-1800 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 28), München: Oldenbourg 1994.
2 Vgl. Hansjörg Bucher, Die Sterblichkeit in den Regionen der Bundesrepublik Deutschland und deren Ost-West-Lücke seit der Einigung, in: Jürgen Cromm und Rembrandt D. Scholz (Hg.), Regionale Sterblichkeit in Deutschland, Augsburg und Göttingen: WiSoMed, 2002, S. 33-38.

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