Titel
Nazi Terror. The Gestapo, Jews, and ordinary Germans


Autor(en)
Johnson, Eric A.
Erschienen
New York 1999: Basic Books
Anzahl Seiten
636 S.
Preis
$ 35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ingrid Schupetta, Villa Merlaender, NS-Dokumentationssstelle der Stadt Krefeld

Eric A. Johnson, Professor an der Central Michigan University, stellt mit diesem Buch das Ergebnis einer sechs Jahre dauernden Recherche vor, die er seit dem Jahre 1989 im Rheinland durchgeführt hat. Er beschäftigt sich mit der Gestapo und ihren Opfern - insbesondere Juden, Linken, Geistlichen beider Konfessionen und Zeugen Jehovas. Eingebettet in diesen Komplex sind weitere Fragen, die sich auf das generelle Verhalten der Durchschnittsdeutschen gegenüber dem nationalsozialistischen Staat beziehen. Er fragt, inwiefern "ganz normale Deutsche" Opfer des Terrors der Gestapo werden konnten und auf welche "Delikte" sich Verfolgung bei ihnen bezog (z. B. "Rundfunkverbrechen"). Breiten Raum nimmt bei Johnson die Darstellung des Weges zum Holocaust ein. Dies umfasst auch die Frage, was die Durchschnittsbürgerinnen und -bürger über die Ermordung der deutschen und europäischen Juden wissen konnten und wußten.

Grundlage seiner Studie bilden etwa 100 Sondergerichtsakten, die den Ort Bergheim bei Köln betreffen, sowie eine Zufallsauswahl aus den Akten des Sondergerichtes Köln (594 Fälle entsprechend 2 %), eine Zufallsauswahl aus den Akten der Gestapoaußendienststelle Krefeld (433 Fälle entsprechend 12,5 %) und schließlich alle Krefelder Gestapo-Akten, die sich auf angebliche Gesetzesübertretungen von Juden beziehen (105 Fälle). Zusätzliches Material wurde 1993 durch eine Umfrage erhoben, bei der 300 Kölnerinnen und Kölnern mit einem Geburtsjahrgang vor 1929 ein Fragebogen zugeschickt wurde. Ungefähr 200 Personen füllten den Fragebogen aus, mit einigen wurden persönliche Gespräche geführt. Ergänzend stützt sich Johnson auf Interviews mit Juden, die die Shoah überlebten.

Die lokale Begrenzung der Studie beruht auf der Grundannahme, dass der Nazi-Terror in Köln, Krefeld und Bergheim mehr oder weniger genauso gewesen sein müsse wie andernorts in Deutschland und die Untersuchungsergebnisse deswegen verallgemeinerbar wären. Die drei Orte seien ausgewählt worden, weil sie mit ihrer unterschiedlichen Ortsgröße, dem unterschiedlichen Grad der Verstädterung und der unterschiedlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur als Ausschnitt "typisch" für Deutschland seien. Diese Begründung Johnsons berücksichtigt nicht die politischen und religiösen Besonderheiten des Rheinlandes gegenüber dem übrigen Reichsgebiet.

Grundsätzlich ist Eric A. Johnson zu danken, dass er seine Aussagen über die Deutschen auf empirisches Material zurückzuführen sucht. Es ist ein Verdienst Johnsons, dass er sich als erster Wissenschaftler an eine umfassende Darstellung der Tätigkeit der Gestapoaußendienststelle Krefeld herangewagt hat. Abweichend von der von inländischen Benutzern zu beachtenden Regelung konnte der Autor sich die Freiheit nehmen, die Namen der Gestapo-Mitarbeiter vollständig zu nennen.

Johnson nennt aber nicht nur die Namen, sondern versucht sich auch an Porträts der wichtigsten Gestapo-Mitarbeiter. Für Krefeld sind dies insbesondere der Gestapo-Chef Ludwig Jung und der Leiters des Judenreferats, Richard Schulenburg. Mehr als einmal kommt es jedoch bei den Biografien zu bedenklichen Fehlinterpretationen. Es scheint an einigen Stellen durch, dass dem Verfasser Kenntnisse über deutsche Behörden - und es ist diesem Zusammenhang notwendig zu betonen, dass auch die Gestapo eine deutsche Behörde war - fehlen. Das betrifft nicht nur die durch die Hierarchie vorgegebenen Entscheidungswege, sondern selbst allgemeine Gepflogenheiten der Verwaltung. So wird Jung als ein Mann bezeichnet, der es immer eilig gehabt habe. Der Autor stützt seine Behauptung u. a. darauf, dass der Amtsleiter interne Schreiben nur mit seinem Kürzel unterschrieb - so wie es noch heute in deutschen Amtsstuben üblich ist.

Bei dem Leiter des lokalen Judenreferats Richard Schulenburg, dem er das Hollywood-Klischee eines "good cop" anhängt, wundert er sich, wieso der Beamte, der 1939 seinen 60. Geburtstag feiern konnte, nicht der SS beitrat. Von der Verlobten Jungs meint er gar, sie hätte um Aufnahme in die SS nachgesucht; als Beleg führt es das obligatorische Heiratsgesuch für die zuständigen SS-Stellen an. Es sollte eigentlich bekannt sein, dass die SS in der Regel weder alte Männer noch Frauen aufnahm. Man könnte diese Patzer übergehen, wenn Johnson seine Theorie über die Leiter der Judenreferate nicht auf solche und andere Fehlinterpretationen stützen würde: "die Gestapo" habe gezielt für diese Funktion bewährte und gesellschaftlich gut eingebundene Beamte ausgesucht, bei denen man bewußt darauf verzichtete, sie für die SS zu rekrutieren. An dieser Stelle wird deutlich, dass Johnson Mühe hat, das Gestapa, die Gestapo, ihre Dienststellen und ihre Außendienststellen in dem komplexen Apparat der Staats- und Parteiorganisationen zu positionieren.

In seiner die Täter betreffenden Zusammenfassung kommt der Autor zu dem überraschenden Ergebnis, dass es sich bei den Gestapo-Mitarbeitern nicht um "ganz normale Männer" gehandelt haben könne. Dies erstaunt, denn seine Statistik entspricht für die Mehrheit der Gestapo Mitarbeiter - also den kleinen und mittleren Beamten - weitgehend dem bisher bekannten Forschungsstand: auch in Köln und Krefeld hatte das durchschnittliche Personal zunächst eine Karriere bei der Ordnungs- oder Kriminalpolizei gemacht. Im Zuge ihres Aufstiegs bewarben die Männer sich um Stellen bei der Staatspolizei. Für die neue Aufgabe erhielten die jüngeren Beamten eine Schulung an der Polizeiakademie in Berlin-Charlottenburg. In der Regel hielten sie sich während ihrer darauffolgenden Tätigkeit bei der Staatspolizei an ihre Vorschriften und Anweisungen - allerdings hinterfragten sie nicht deren z. T. verbrecherischen Charakter. Die Sachbearbeiter hatten ihren Spielraum, den sie mitunter zu Lasten ihrer potenziellen Opfer auslegten, mitunter auch zu deren Gunsten. Strafrechtlich relevante Verbrechen (Exzesstaten) - so auch die Ausführungen Johnsons - konnten ihnen, aber vor allem den leitenden Beamten, nach dem Krieg nur in Ausnahmefällen, insbesondere bei Einsätzen im Ausland, nachgewiesen werden. Immerhin decken sich Johnsons Beobachtungen bis zu diesem Punkt mit den in jüngerer Zeit erschienenen Forschungsarbeiten über die Gestapo (insbesondere in dem von Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann herausgegebenen Sammelband, Die Gestapo - Mythos und Realität, Darmstadt 1995). Paradoxerweise folgt der Autor jedoch in seiner Theoriebildung den eigenen empirischen Befunden - soweit sie sich mit der Forschung decken - nicht. Er begründet dies damit, dass daran etwas faul sein müsse ("there is something wrong in this", S. 79) und allzu viel Erklärung bedeuten würde, die Täter im Wortsinne zu ent-schuldigen.

Johnsons weitere Ergebnisse weichen nicht von bisherigen Erkenntnissen ab: Opfer der Gestapo und der Sonderjustiz wurden Minderheiten wie Juden, politische Gegner der Nationalsozialisten (KPD, SPD, Gewerkschafter), engagierte Christen, Zeugen Jehovas, Homosexuelle und - in den Kriegsjahren - die nach Deutschland verschleppten ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter. Regelmäßig kommt Johnson auch auf Asoziale, Behinderte sowie Roma und Sinti zu sprechen. Allerdings weist er an keiner Stelle darauf hin, dass die Verfolgung dieser Gruppen von anderen städtischen und staatlichen Organen (Sozial- und Jugendämter, Gesundheitsämter, Erbgesundheitsgerichte, Kriminalpolizei etc.) durchgeführt wurde, wie er auch auf die enge Vernetzung privater, städtischer und staatlicher Verwaltungen bei der Verfolgung der Juden nicht ernsthaft eingeht.

Gelungen ist Johnson hingegen der Nachweis, dass nur bei den stigmatisierten Gruppen die Gestapo regelmäßig von sich aus tätig wurde - auch wenn der notwendige Hinweis fehlt, dass es sich bei besonderen Kampagnen um Aktionen handelte, die aus der Zentrale in Berlin angeordnet wurden und auf lokaler Ebene nur ihre Umsetzung fanden. In diesen Fällen nutzte die Gestapo alle ihre Möglichkeiten, z. B. Befragungen, Postkontrolle, Ansetzen von Spitzeln, Verhöre, "verschärfte Verhöre" (mit Anwendung körperlicher Gewalt), Schutzhaft.

Die Normalbürger wurden weitaus seltener behelligt und noch seltener bestraft. Für die Vorkriegsjahre in Krefeld geht der Verfasser davon aus, dass weniger als 1 % der Normalbevölkerung in Konflikt mit der Gestapo kam (S. 286). Da er offensichtlich nicht berücksichtigt, dass der Zuständigkeitsbereich der Außenstelle Krefeld ein wesentlich größeres Gebiet als nur die Stadt umfasste (nämlich auch Teile des Landkreises Moers und Teile des Landkreises Kempen) dürfte diese Rate noch wesentlich geringer gewesen sein (S. 46). Johnson geht davon aus, dass das Regime mit der Bevölkerung eine Art Pakt geschlossen hatte, der beinhaltete, dass man kleine Regelverletzungen übersehen würde, solange die Bevölkerung ihrerseits bereit war, die offensichtliche Verfolgung der Juden und den weniger öffentlich stattfindenden Judenmord als Tabu zu behandeln. Die Mehrheit der Deutschen - so Johnson im Gegensatz zu Goldhagen - wäre nicht antisemitisch gewesen, sondern eher gleichgültig, teilnahmslos und uninteressiert. Als die Eliten als moralische Vorbilder versagten, sahen sich auch die einfachen Leute nicht zum Protest aufgefordert (S. 459).

Schlüssig sind die Aussagen Johnsons, wo er mit Vorurteilen über Denunziationen aufräumt. Denunzianten waren eine kleine Minderheit von 1 bis 2 % der Bevölkerung Krefelds (und des Umlandes! - siehe oben). Unter den Denunzianten befanden sich weniger Frauen als Männer. In keinem Fall denunzierten Kinder ihre Eltern. Die meisten Denunzianten waren Männer mittleren Alters. Die Denunziationen hatten nur selten einen politischen Hintergrund und blieben bei den typischen Nachbarschaftsstreitigkeiten eher folgenlos. Um so katastrophaler konnten Denunziationen allerdings sein, wenn sie jemanden trafen, den die Gestapo sowieso im Visier hatte. So wurde die größte Verhaftungswelle gegen die Zeugen Jehovas in Krefeld (1937) ausgelöst, als ein Denunziant einen Flugblattverteiler stellte und der Gestapo übergab. Hier steht Johnsons Aussage, Denunziationen hätten bei der Verfolgung der Zeugen Jehovas kaum eine Rolle gespielt (S. 249), in einem eklatanten Gegensatz zu den bekannten Fällen. Sie ist ebenso unverständlich wie seine Statistik über das weitere Schicksal der Verhafteten (S. 356). Hier gibt der Autor pauschal an, dass alle 25 Personen in Schutzhaft genommen wurden. Gerichtsurteile, Haft im Gefängnis oder im Konzentrationslager und der Tod von Karl H. im KZ Buchenwald werden in der Statistik nicht berücksichtigt.

Verfolgung durch die Gestapo wurde nach Johnson (S. 364) in mindestens 24 % der aktenkundig gewordenen Fälle durch Denunziationen aus der Bevölkerung ausgelöst; Johnson trennt hier zwischen "Zivilbevölkerung" und den Mitgliedern der NSDAP. Dass Denunziationen und andere Formen der freiwilligen Mitarbeit wesentlich zum bedrückenden "Erfolg" der Gestapo beitrugen, kann niemandem verborgen bleiben, der auch nur einmal in die Gestapo-Akten hineinschaut - auch in den Fällen, die in dem Buch referiert werden. Dennoch gelangt der Verfasser -im Widerspruch zur Fachliteratur - zu dem Schluss, dass die Gestapo auch ohne diese Form von Unterstützung hätte auskommen können (S. 375). Angesichts der dargestellten Fakten ist diese Behauptung nicht nachvollziehbar.

Johnsons Kapitel über die Deportationen folgt im wesentlichen den bereits sei langem vorliegenden Veröffentlichungen. An dieser Stelle fällt besonders auf, dass er grundsätzlich die nach 1989 zugänglich gewordenen Quellen nicht berücksichtigt; auch ignoriert er die lokale Sekundärliteratur beinahe komplett. So nimmt er zwar auf Aurel Billstein Bezug, erwähnt aber weder dessen Hauptwerk "Der eine fällt, die andren rücken nach" noch die längst publizierten und kommentierten "Billstein-Briefe". Die Arbeit von Hans Peter Hansen über die Krefelder Gestapo kennt er offensichtlich ebenfalls nicht. Den schon bei Dieter Hangebruch als Quelle angegeben Salitter-Bericht - ein seltenes und erschütterndes Dokument über die Deportation der Krefelder Juden nach Riga - ignoriert er. Längst korrigierte Irrtümer über die Todesorte der aus Krefeld deportierten Juden übernimmt er unverändert aus der älteren Literatur.

Dass Johnson zudem die bedenkliche Tendenz hat, Fakten, die nicht in sein Bild passen, wegzulassen, wird im Fall des Kindes von Lore Gabelin (im Text unnötigerweise "Lore M.") und der Familie Müller deutlich. Der Autor versucht, Gestapo-Chef Jung eine besondere Hartnäckigkeit bei der Verfolgung der Familie nachzuweisen. Wenn man Johnson folgt, dass es ein erklärtes persönliches Ziel Jungs war, den jüdischen Teil der Familie auszurotten, läßt sich nicht erklären, wieso die Krefelder Gestapo dann ausgerechnet den Sohn Lore Gabelins verschonte. Johnson erwähnt diesen Teil der Geschichte mit keinem Wort.

An einzelnen Beispielen versucht Johnson die Entnazifizierung der Gestapo-Mitarbeiter nachzuzeichnen. Er wertet zu diesem Zweck einschlägige Prozeßakten aus. In der menschlich überaus verständlichen Empörung, dass die lokalen (Schreibtisch)täter zumeist glimpflich davonkamen, versucht er sich nicht an einer wissenschaftlichen Analyse dieses Phänomens. Dabei stieße er hier u. a. auf die immer wieder aktuelle Frage der individuellen Verantwortung - und auf das Problem, ob und wie den Schergen totalitärer Systeme mit den Mitteln einer den Menschen- und Bürgerrechten verpflichteten Justiz beizukommen ist.

Insgesamt hinterläßt das populär geschriebene Buch nach der Lektüre eine gewisse Ratlosigkeit. Ohne Zweifel ist mit enormem Fleiß interessantes Material zusammengetragen worden. Viele Passagen sind spannend zu lesen. Bei genauer Hinsicht und in Kenntnis der Situation in Köln, Krefeld und Bergheim finden sich allerdings beim Forschungsansatz, bei der Auswertung der Akten und der Thesenbildung so viele - auch gravierende - Fehler, dass nach dem Verhältnis zwischen Größe des Arbeitsaufwandes und Stichhaltigkeit des Ergebnisses gefragt werden muss.

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