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Titel
Kulturgeschichte. Fragestellungen, Konzepte, Annäherungen


Herausgeber
Lutter, Christina; Szöllösi-Janze, Margit; Uhl, Heidemarie
Reihe
Querschnitte 15
Erschienen
Wien 2004: StudienVerlag
Anzahl Seiten
209 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Zahlmann, Fachgruppe Geschichtswissenschaft, Universität Konstanz

Im Zuge des wachsenden interdisziplinären Interesses an Fragestellungen und Themen der Kulturwissenschaften genießt auch die Kulturgeschichte in den vergangenen Jahren eine verstärkte Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt das große Interesse, das Ute Daniels „Kompendium Kulturgeschichte“1 fand, verdeutlicht die wachsende disziplinäre Bedeutung der Kulturgeschichte. Für die an einer übersichtlichen Einführung in den aktuellen Stand der Kulturgeschichte interessierten LeserInnen bietet sich der von Christina Lutter, Margit Szöllösi-Janze und Heidemarie Uhl herausgegebene Sammelband als anregende Lektüre an. Der sprachlich und inhaltlich durchweg lesenswerte Band erfüllt zwei Erwartungen, die man an eine solche Einführung stellt (von den Herausgeberinnen bescheiden als „Annäherungen“ bezeichnet, S. 12): Zum Einen bietet er eine Einordnung der Disziplin in die aktuelle Wissenschaftslandschaft und erleichtert zum Anderen die Übersicht über den Forschungsstand und die Ansätze der Kulturgeschichte durch verschiedene exzellente Einführungen in einige ihrer zentralen Themengebiete.

Die Kulturwissenschaften stehen angesichts des breiten Spektrums ihrer Themen, Perspektiven und Methoden vielfach im Verdacht, den Kulturbegriff zu einer wissenschaftlich irrelevanten, da beliebigen Größe zu machen. Die verschiedenen Beiträge des Bandes konzentrieren sich deshalb nicht zuletzt darauf, aus diesem heterogenen Feld die Bereiche zu bestimmen, in denen die Kulturwissenschaften der Geschichtswissenschaft Anschlussmöglichkeiten eröffnen und neue Erkenntnisgewinne aufzeigen. Ohne den programmatischen Plural, der bereits in dem Begriff „Kulturwissenschaften“ liegt, zu einer eindimensionalen Beschreibung des praktischen Nutzens zu reduzieren, haben die Beiträge des Bandes einen gemeinsamen Nenner in der Wahrnehmung von Menschen, „die als symbol- und sinnbildende Akteurinnen und Akteure, als animalia symbolica“ (S. 8) aufgefasst und in ihren historischen Handlungsspielräumen vorgestellt werden.

Der Band bietet eine Auswahl theoretisch orientierter Beiträge, denen praxisbezogene Texte zur Seite gestellt worden sind. Den ersten beiden Aufsätzen von Reinhard Sieder und Silvia Serena Tschopp kommt in diesem Zusammenhand ein einleitender Charakter zu: Ausgehend von Fragen und Theorien der Kulturwissenschaften bietet Sieder eine Gesamtschau auf die wichtigsten kulturtheoretischen Positionen, ihre zentralen Begriffe, Medien und Praktiken und ihre Anschlussmöglichkeiten für eine sich innerhalb der Kulturwissenschaften neu konstituierende Kulturgeschichte, die sich für ihn – als historische Kulturwissenschaft – zur Lösung der „Sinnkrise der historischen Wissenschaften mit der Geschichte in ihrem Zentrum“ anbietet (S. 25). Tschopp kontextualisiert in ihrem Beitrag die aktuellen kulturgeschichtlichen Positionen in den europäischen Wissenschaftstraditionen und bietet hierzu einen Einblick in die deutsche Kulturphilosophie (am Beispiel Webers und Cassirers), in die vor allem mit der Zeitschrift „Annales“ verbundene französische Mentalitätengeschichte sowie in die britischen „Cultural Studies“, die auf Richard Hoggart und andere führende Literaturwissenschaftler der 1950er-Jahre zurückgeführt werden.

Einige der in den beiden Aufsätzen vorgestellten Positionen finden sich auch in den übrigen Beiträgen des Bandes wieder, wie überhaupt die einzelnen Artikel sich in einigen Sichtweisen überschneiden und auch dadurch das produktive inter- und intradisziplinäre Potential der Kulturgeschichte verdeutlichen – etwa bei dem Schwerpunkt, den Heidrun Zettelbauer, Martina Kessel und Christina Lutter am Beispiel der Kategorie „Geschlecht“ setzen: Zettelbauer verbindet eine kritische Analyse der historischen Frauen- und Geschlechterforschung überzeugend mit programmatischen Anforderungen an die zukünftige wissenschaftliche Praxis. Am Beispiel der Figur des „humorigen Soldaten“ (S. 112) stellt Kessel nicht nur eindrucksvoll unter Beweis, dass sich eine historische Geschlechterforschung ohnehin längst von einer vor allem auf eine Analyse weiblicher Körperlichkeit konzentrierten Perspektive verabschiedet hat, sondern bietet mit ihrer Untersuchung der Formen deutschen Humors in Kriegzeiten auch selbst eine kulturgeschichtliche Analyse der gesellschaftlichen Muster, sich über nationale Identität zu verständigen. Körperliche Ausdrucksformen und Gefühle werden hier keinesfalls als ahistorische Phänomene betrachtet, sondern durch eine kulturhistorische Perspektive als „zeit- und gesellschaftsabhängige, kulturspezifische Kommunikationsformen interpretiert“ (S. 99). Dass der Zugang zur neuzeitlichen Geschichte durch die „’modernen’ analytischen Begriffe Geschlecht und Wissen“ (S. 124) wichtige Erkenntnisse erbracht hat, ist unbestritten. Lutter fragt deshalb nach dem Verhältnis dieser beiden Begriffe zu vergleichbaren Größen in mittelalterlichen Quellen. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen zu Konzepten und Formen von Wissen im 12. Jahrhundert sowie deren zeitgenössischer Kopplung mit Geschlechterbildern zeigen das große Potenzial einer Mediävistik, die als historische Kulturwissenschaft des Sozialen verstanden und betrieben wird.

Die von Lutter aufgeworfene Frage nach den Praktiken und Konzepten der Wissensproduktion und -weitergabe ist der zweite Schwerpunkt des Sammelbandes, der in drei Beiträgen zum Komplex der Erinnerungskultur konkretisiert wird. Heidemarie Uhl eröffnet die Diskussion des Gedächtnis-Begriffs, den sie im Anschluss an Aleida Assmann als „Leitbegriff der kulturwissenschaftlichen Wende“ (S. 143) in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft versteht, mit einer historischen Betrachtung vorangegangener gedächtnistheoretischer Ansätze (Aby Warburg, Maurice Halbwachs, Pierre Nora), vor deren Hintergrund sie dem von Jan und Aleida Assmann entwickelten Konzept eines „kulturellen Gedächtnisses“ einen besonderen Stellenwert einräumt. Der von Uhl nachdrücklich vertretene Anspruch, ein solches Gedächtnis nicht als fest gefügten Formenbestand, sondern als dynamischen Faktor der Identitätskonstruktion zu verstehen, lässt für sie den Begriff „Palimpsest“ zur geeigneten Charakterisierung der vielfältigen Formen und Veränderungsmöglichkeiten des kulturellen Gedächtnisses werden. Hedwig Röckelein stellt mit Aby Warburgs Konzept kultureller Erinnerung eine klassische gedächtnistheoretische Position in den Mittelpunkt ihres Beitrags. Die von Warburg formulierten Überlegungen skizziert sie anhand seines Mmemosyne-Konzepts, das sie wiederum in drei Konzepte des kulturellen Gedächtnisses und des Kulturaustauschs unterteilt (S. 172f.). Ihre Ausführungen lassen Warburgs Eingebundenheit in die wissenschaftlichen Denktraditionen von Jacob Burckhardt oder seine Nähe zum Positivismus der Naturwissenschaften deutlich werden, fordern jedoch auch dazu auf, sein Werk in kulturwissenschaftlicher Perspektive neu zu erschließen. Den mit dem Gedächtnis einer Gemeinschaft verbundenen Gedanken des „Bildes“ von der eigenen Vergangenheit stellt Marion G. Müller am Beispiel einer bildwissenschaftlich ausgerichteten Kulturwissenschaft vor. Wiederum ausgehend von Überlegungen zu Aby Warburg verlässt Müller den Bereich der kunstgeschichtlichen Perspektive auf Bilder und plädiert für eine Analyse visueller Kommunikation, die kollektive Denkbilder als Konstruktionen sozialer Wirklichkeit in den Mittelpunkt rückt und kulturwissenschaftliche Perspektiven damit zugleich für die sich als „Wirklichkeitswissenschaften“ (S. 185) verstehenden Sozialwissenschaften anschlussfähig macht.

Stehen in den Beiträgen des Sammelbandes vielfach die Ansätze und Fragestellungen im Vordergrund, die der traditionellen Geschichtswissenschaft zugleich neue Erkenntnisse und neue Quellen erschließen, so verdeutlicht der Text von Johannes Paulmann, dass auch traditionelle Themen der politischen Geschichte mit einer kulturgeschichtlich ausgerichteten Perspektive neue und umfassendere Erkenntnisse versprechen. Am Beispiel der Geschichte transnationaler Beziehungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts leitet Paulmann aus dem Konzept des interkulturellen Transfers verschiedene kulturgeschichtliche Perspektiven auf die historische Beziehung internationaler Entwicklungen ab. Dass Paulmann nach einer schlüssigen Darstellung dieser Perspektiven sehr selbstbewusst Fragen für künftige Forschungsprojekte aufwirft – was zudem den Abschluss des Bandes bildet –, unterstreicht die zukunftsoffene Entwicklung der aktuellen kulturgeschichtlichen Ansätze, die in allen Beiträgen des Sammelbandes deutlich wird.

Das durchweg hohe Reflexionsniveau der einzelnen Beiträge, die klare Positionierung der verschiedenen Forschungsperspektiven und die gelungene Verdeutlichung der Vielseitigkeit kulturhistorischer Forschung macht dieses Buch zu einer empfehlenswerten Einführung in zentrale Fragestellungen und Ansätze der modernen Kulturgeschichte.

Anmerkung:
1 Daniel, Ute, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt am Main 2001.

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