Cover
Titel
Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany


Autor(en)
Hull, Isabel V.
Erschienen
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
$45.00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Thomas Kuehne, Strassler Family Center for Holocaust and Genocide Studies, Clark University

Seit rund zwei Jahrzehnten haben Historiker, die der Vorstellung eines deutschen Sonderweges in die Moderne anhängen, einen schweren Stand. Die Sonderwegsthese selbst gilt als überholt. Inhaltlich und methodisch vielfältige, oft komparative Forschungen besonders zum Kaiserreich von 1871 haben gezeigt, dass Deutschland nicht wirklich aristokratischer, obrigkeitsergebener oder militaristischer war als die Modellstaaten Frankreich, Grossbritannien oder die USA. Die amerikanische Historikerin Isabel V. Hull hat einige Erfahrung damit, gegen den Strom zu schwimmen. Ihr erstes Buch über die Entourage Wilhelms II. erschien 1982, als gerade die Alltagsgeschichte Hochkonjunktur feierte. Ihr neues Buch nun tritt als fulminante Neuauflage der Sonderwegsthese auf. Diese stand seit 1945 im Bann der Frage, warum ein terroristisches Regime wie das der Nazis gerade in Deutschland begründet wurde und warum es gerade Deutschland war, das die Ermordung der europäischen Juden plante und durchführte. Genau diese – keineswegs überholte – Perspektive leitet Hulls “Absolute Destruction” an. Dass das Buch daneben implizite, aber doch nicht ungewollte Parallelen zur gegenwärtigen Politik der USA zieht, sei am Rande vermerkt.

Hulls These lautet: In Deutschland formierte sich spätestens mit dem Krieg gegen Frankreich 1870/71 eine “military culture”, die die Verselbständigung und Entgrenzung kriegerischer Gewalt, ihre Ablösung von politischen Zielen und selbst dem traditionellen militärischen Ziel, einen Krieg zu gewinnen, als Potential in sich barg. Sie liess nur die (physische) Vernichtung des Gegners oder den eigenen Untergang als Alternative zu. Wie sich dieses Potential zunächst im deutschen Genozid an den Herero in Südwestafrika 1904-07 entlud, zeigt das Buch im ersten Hauptteil. Der zweite blickt zurück auf die Genese der “military culture” seit 1870 im Spiegel von Kriegspraktiken und Kriegspublizistik. Der dritte Teil schliesslich gilt dem Ersten Weltkrieg, wobei auch Deutschlands Rolle beim Genozid an den Armeniern diskutiert wird.

Was ist “military culture”? Hull verwendet den Begriff als Variante der Organisationskultur, worunter Soziologen ein bestimmtes Set von Annahmen, Praktiken und Erwartungen verstehen, die eine Gruppe – nicht zuletzt aufgrund von Lehren und Erfahrungen aus ihrer Geschichte - erfunden und entwickelt hat. Da sie sich bewährt haben, werden sie für gültig erachtet und unreflektiert angewendet. Darin liegt ihre Crux. Die selbstverständlichen Handlungsanweisungen einer Organisationskultur bergen die Gefahr von Irrationalität und Dysfunktionalität. Deutschlands militärische Kultur war im Kaiserreich geprägt durch den extrakonstitutionellen Status der bewaffneten Macht und das ungeheure Prestige, das es nach den gewonnenen Reichseinigungskriegen und im Zeichen des mit der Kolonialpolitik entstehenden “doppelten Militarismus” (Stig Förster) genoss. Anders als das traditionelle Militarismus-Konzept dreht sich “military culture” jedoch nicht um das Verhältnis des Militärs zur zivilen Gesellschaft (auch wenn dieses schliesslich relevant wird), sondern um das Innenleben das Militärs. Dieses war institutionell von der Stellung des Generalstabs, kognitiv aber von dessen Fixierung auf operative und taktische Ebenen der Kriegführung und der Vernachlässigung strategischer Dimensionen – und dies im Zeitalter des industrialisierten Massenkrieges – beherrscht. Alles militärische Denken und alle militärische Planung kreiste um die Offensive und die Entscheidungsschlacht. Daraus resultierte die Stärke wie die Schwäche des deutschen Militärs, vor allem aber seine besondere Anfälligkeit für genozidale ebenso wie selbstzerstörerische Kriegführung. Das genozidale Potential zeigte sich in der Niederschlagung des Herero-Aufstandes 1904-07, das selbstzerstörerische im Ersten Weltkrieg.

In beiden Fällen vermeidet Hull dezisionistische Sichtweisen. Ihre Analysen sind darauf abgestellt, Handlungsspielräume sichtbar zu machen – vor allem soweit sie von den Zeitgenossen erwogen wurden – und gleichzeitig zu zeigen, warum die Falle der Organisationskultur schliesslich doch zuschlug. Denn die genozidale Wende der militärischen Aktion gegen die Herero war keineswegs geplant, trotz aller rassistischen Superioritätsgefühle der Deutschen und trotz der den europäischen Standards nicht entsprechenden Kriegführung der Herero (die keine Gefangenen machten und getötete Feinde oft rituell verstümmelten). Beides freilich begünstigte das Verhalten rabiater Einheitsführer vor Ort ebenso wie die Entscheidungen des Generalstabes im fernen Berlin. Jenen standen mit der “Auftragstaktik” Handlungsspielräume zur Verfügung, in denen die auf Schutz der Verwundeten und Gefangenen gerichteten Regeln schnell erstickten. So war qua militärischer Kultur vor Ort der Boden für den Auftritt des rabiaten Truppführers Lothar von Trotha bereitet, den der Generalstab nach Afrika schickte, um den moderaten Befehlshaber, Gouverneur Leutwein, abzulösen und die ersehnte Entscheidungsschlacht herbeizuführen. Sie fand am 11. August 1904 am Waterberg statt, ohne doch den Sieg im Sinne der deutschen Militärs zu bringen. Denn die Herero flüchteten zur Frustration ihrer Gegner in ein wasserloses Gebiet im Osten des Schutzgebietes. Damit begann die eigentlich genozidale Phase des Krieges, die auf die Tötung der Herero abzielte, nicht zuletzt durch Verhungern und Verdursten; erst nachdem diese Phase eingesetzt hatte, erliess Trotha seinen berüchtigten Vernichtungsbefehl.

Weder diese Ereignisse noch ihr Ende (der systematisch herbeigeführte Massentod zahlloser Herero in Konzentrationslagern zu einem Zeitpunkt, als der Aufstand längst niedergeschlagen war) waren bisher unbekannt, auch wenn der Herero-Genozid erst in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit der Historie gefunden hat. Im Prinzip dasselbe gilt für Hulls Analyse der Radikalisierung und Eigendynamik deutscher militärischer Gewalt im Ersten Weltkrieg, die im Zeichen “militärischer Notwendigkeit” auch dann noch steigerungsfähig war, als sie militärisch kontraproduktiv wurde. Sie begann mit den Verbrechen an vermeintlichen belgischen ‚Franctireurs’ und tat sich in zunehmender Gleichgültigkeit der Besatzungsmächte gegenüber dem Kriegsvölkerrecht, zumal gegenüber der Zivilbevölkerung in Belgien und Nordfrankreich, kund, um im autistischen Kult der Offensive und der voluntaristischen Apotheose des “Endkampfs” ihren Abschluss zu finden.
Hulls “Absolute Destruction” erinnert nicht nur zu recht an die (sieht man von Goldhagens reduktionistischer Antisemitismus-These ab) fast vergessene Frage nach der längerfristigen Vorgeschichte des Holocaust in Deutschland; das Buch ist auch ein energischer Aufruf, dem militärischen Entstehungskontext genozidaler Gewalt mehr Aufmerksamkeit zu widmen als ideologiegeschichtliche und sozialpsychologische Ansätze das gemeinhin tun. Das Konzept der “military culture” ist geeignet, den Blick der Militärgeschichte auf den Kern ihres Gegenstandes, nämlich das professionelle Soldatentum und die kriegerische Gewalt, zurückzulenken, richtete sich das Interesse dieser Subdisziplin doch seit rund 15 Jahren, im Zuge ihrer kultur- und geschlechtergeschichtlichen Erweiterung, immer mehr auf die zivilen Affiliationen des Militärs, auf den “kleinen”, meist zwangsweise rekrutierten Soldaten, die Institution der Wehrpflicht und die “Militarisierung” der zivilen Gesellschaft.

Allerdings birgt diese Perspektive auch eine Gefahr. Die zivile Gesellschaft und noch mehr die zivile Politik kommen bei Hull hauptsächlich als Kontrollinstanz des Militärs und der destruktiven Eigendynamik seiner Organisationskultur ins Spiel. Dies ist eine zentrale und wiederum nicht völlig überraschende These des Buchs: Das Militär selbst war in Deutschland nicht von vornherein schlechter als in anderen vergleichbaren Staaten; was ihm und seinen Gegnern zum Verhängnis geriet, war das Fehlen ziviler Gegengewichte. Diese boten der Verselbständigung der kriegerischen Gewalt etwa im britischen Burenkrieg – Hulls Vergleichsfall zum deutschen Krieg gegen die Herero – wirksam Einhalt. In Grossbritannien funktionierte, was in Deutschland fehlte: Zivile Politik und zivile Gesellschaft standen über dem Militär.

Die guten Zivilisten und die bösen Militärs – das wäre sicher eine simplifizierende Wiedergabe der Argumentation Hulls. Dichotomisch ist diese Argumentation dennoch, und insofern wird sie dem komplexen Beziehungsgefüge von Militär und Gesellschaft nicht gerecht: Die genozidale und autodestruktive Tendenz militärischer Gewalt in Deutschland kann nicht nur aus dem Militär heraus erklärt werden, sie hat ihre Wurzel auch in einer Gesellschaft, deren innere Nationsbildung weitaus brüchiger war als die Grossbritanniens um und nach 1900. Dort jedoch hatten Militär und Krieg für die Deutschen ihren Ausgangs- und Zielpunkt: im Ausbau und in der Sicherung des Nationalstaats, der ein Anliegen nicht bloss des Militärs war.

Hulls organisationskulturalistischer Ansatz hebt auf die irrationalen und dysfunktionalen Tendenzen des Militärs ab. Dieser Sichtweise wird jeder Zivilist zustimmen, weil sie militärisches Handeln an der Messlatte ziviler Werte – die um physisches Leben und Überleben kreisen – abträgt. Allerdings weist kriegerische, reguläre und genozidale Gewalt eine Funktionalität und Rationalität auf, die jene Messlatte nicht zu erfassen vermag. Gewalt ist nicht nur destruktiv, sie ist auch kreativ. Sie zerstört soziale Ordnungen nicht nur, sondern stellt sie auch erst her – in Gestalt kleiner Gruppen wie ganzer Nationen. Dieser Zusammenhang war den Zeitgenossen nicht unbekannt, er ist vielfach ideologisch überhöht worden, deswegen aber keineswegs etwa falsch. Nur wenn man ihn ernst nimmt, vermag man die soziale Sogkraft des Krieges in der Moderne zu analysieren. Die seit Mitte der 1990er Jahre entstandene “Soziologie der Gewalt” hat auf deren soziale Kreativität hingewiesen; “military culture” kann ohne sie weder gedacht noch praktiziert werden.

Solch Raisonnement tut dem wissenschaftlichen Wert dieses Buches keinen Abbruch, im Gegenteil. Die Einwände zeugen nur von der stimulierenden Wirkung, die es auslöst; weiterreichende Debatten dürften ihm sicher sein.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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