J. Borejsza u.a. (Hrsg.): Totalitarian and Authoritarian Regimes

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Titel
Totalitarian and Authoritarian Regimes in Europe. Legacies and Lessons from the Twentieth Century


Herausgeber
Borejsza, Jerzy W.; Ziemer, Klaus
Erschienen
New York 2006: Berghahn Books
Anzahl Seiten
XVI, 607 S.
Preis
$ 89.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Der auf eine Tagung des Deutschen Historischen Instituts in Warschau und des Instituts für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaft im Jahr 2000 zurückgehende Band enthält 34 Beiträge zu Struktur und Funktionsweise autoritärer Regime im Europa des 20. Jahrhunderts, desgleichen zur einschlägigen Geschichtsschreibung sowie – besonders aktuell – zu den Spuren dieser Regime in den nationalen Erinnerungskulturen der Gegenwart. Der Fokus liegt dabei auf den Staaten und Gesellschaften des östlichen Europas, was im Vorwort mit einer Distanzierung von „para-historical accounting and assessments recently undertaken in several volumes published in Western Europe that endeavour to render judgement on Soviet Communism“ begründet wird (S. X). Allerdings wird diese implizite Abgrenzung vom „Schwarzbuch des Kommunismus“ nirgends offensiv vertreten, etwa in Gestalt einer Kritik an einem oder mehreren Kapiteln dieses Sammelwerks.

In seiner Einleitung „Italian Fascism, Nazism and Stalinism: Three forms of Totalitarianism from a Twenty-first-century Perspective“ gibt Jerzy W. Borejsza, der Altmeister polnischer Faschismusforschung, einen Forschungsüberblick, in dem er zwischen den „totalen Totalitarismen“ von Nationalsozialismus und Stalinismus, dem „partiellen Totalitarismus“ des italienischen Faschismus und anderen „autoritären Regimen“, darunter „para-faschistische“ und „para-nazistische“, unterscheidet. Sonderlich stringent geht er dabei indes nicht vor, spricht er doch etwa davon, dass der Zerfall Jugoslawiens in den 1990er-Jahren „zur Bildung weiterer […] totalitärer Systeme auf seinem ehemaligen Territorium“ geführt habe (S. 19). Und auch die Feststellung, dass „es einige Nationen gibt, die eine spezielle Prädisposition für autoritäre und totalitäre Systeme haben“ (ebenda), nimmt sich bestenfalls vorwissenschaftlich aus. Zumindest trifft der angeführte Kriterienkatalog in dieser Sache, nämlich (a) Fehlen einer parlamentarischen Demokratietradition, (b) Abwesenheit von Religions- und Gewissensfreiheit und (c) Nichtvorhandensein etablierter Mechanismen staatlicher Kontrolle, auf so viele Staaten Europas zu, dass eine differentia specifica kaum erkennbar ist. Gänzlich verschwimmt Borejszas Totalitarismusbegriff dann, wenn er nach dem Jahrhundert der „totalitären Staaten“ ein Säkulum der „totalitären Religionen“ heraufziehen sieht. Zu Hannah Arendts Eingrenzung des Totalitarismusbegriffs auf den Nationalsozialismus sowie auf die stalinistische Phase des Sowjetkommunismus äußert sich Borejsza nicht, obwohl er ihren Namen nennt (S. 6) und sich auch Mitherausgeber Klaus Ziemer im Arendtschen Sinne äußert (S. 159).

Inhaltlich fokussierter, analytisch disziplinierter und terminologisch präziser geht Dietrich Beyrau in seinem Beitrag „Approximation of a Comparison: Stalinism, National Socialism and Their Intellectual Servants“ vor. Hier führt er Stalinismus wie Nationalsozialismus auf die „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkriegs zurück und erklärt damit etliche ihrer gemeinsamen Züge. Marcello Flores gibt unter dem Titel „History and Memory: the Perception of Totalitarianism in Italy in a Comparative Perspective“ einen Überblick zu italienischen wie gesamteuropäischen Totalitarismusperzeptionen vom frühen Antifaschismus Giovanni Amendolas bis zu Aleksandr Solženicyns „Archipel GULag“. Und Klaus Ziemer beleuchtet vergleichend die Arten von Untergang und Zusammenbruch moderner nicht-demokratischer Systeme – intern/extern, konfrontativ/konsensual – sowie die Transitionsprobleme postautoritärer und posttotalitärer Gesellschaften, darunter die Herstellung von Rechtsstaatlichkeit, den Aufbau einer Zivilgesellschaft, die Entmilitarisierung der politischen Sphäre, aber auch die Auseinandersetzung mit den diktatorischen Phasen der eigenen Geschichte („Totalitarian and Authoritarian Systems: Factors in Their Decline and Hurdles in the Development of Democratic Orders“). Die übrigen Beiträge im Themenblock „Totalitarianism and Authoritarianism in Historiography“ aus den Federn von Edmund Dmitrów, Marek Kornat, Dušan Kováč, Martin Sabrow und Wolfgang Schieder behandeln Polen, Italien, Deutschland und die Slowakei.

Der Themenblock „Case Studies“ weist eine deutlich größere geografische Bandbreite auf und schließt neben Italien, Deutschland, der UdSSR und Polen auch Österreich, Kroatien, Griechenland, Litauen, Frankreich und Jugoslawien mit ein. Die Beiträge sind dabei von unterschiedlicher Qualität und stark variierendem Zuschnitt. Gerhard Botz, Hagen Fleischer, Andrej Friszke und Nicola Tranfaglia präsentieren die profunden Ergebnisse ihrer langjährigen Forschungen zu Östereich, Griechenland, Polen und Italien hier in stromlinienförmigen Kurztexten, Christoph Boyer bietet eine Quintessenz seiner Erkenntnisse zur Rolle kommunistischer Konsumpolitik am Beispiel der DDR, und Jože Pirjevec stellt den jugoslawischen König Aleksandar I. Karadjordjević sowie den „Poglavnik“ (Führer) des Ustaša-Staates von Hitlers und Mussolinis Gnaden, Ante Pavelić, in eine Traditionslinie mit Josip Broz-Tito, die er – wenig überzeugend – „totalitär“ nennt. Ebenfalls einen jugoslawischen Fall behandelt Andrea Feldman in einem Beitrag zu Kroatien. Adam Bosiacki und Dmitry B. Pavlov wenden sich sowjetischen Beispielen zu, Algimantas Kasparavičius liefert einen Überblick zu Litauen, Marc Lazar und Olivier Wieviorka behandeln Frankreich, und Szymon Rudnicki analysiert den polnischen Rechtsradikalismus, dessen Ursprünge er in der Zwischenkriegszeit verortet und den er auch für die volkspolnische Periode als politisch wirksam charakterisiert.

Insgesamt wenig Neues bietet der Teil „Legal Aspects of Coming to Terms with the Totalitarian and Authoritarian Past“, zu dem Jörg Arnold, Joachim Gauck, Hubert Izdebski, Eckhard Jesse und Andrei Pippidi Kapitel beigesteuert haben. Aus dem Teil „The Politics of Memory and the Culture of Remembrance“ stechen vor allem die Untersuchungen zur Sowjetunion bzw. zur Russländischen Föderation hervor: Aleksej Miller beleuchtet meinungsfreudig „The Communist Past in Post-communist Russia“, Igor’ V. Narskij steuert eine fesselnde Fallstudie zur erinnerungskulturellen Sowjetisierung des Ural bis 1922 bei, und Arkadij Cfasman untersucht das Stalinbild in sowjetischen wie russländischen Schulbüchern von 1930 bis 1997. Von ganz besonderem Interesse ist Heidemarie Uhls Beitrag „Landscapes of Memory: Historical Memory and Monument Culture in Austria (1945–2000)“, in dem sie den Wandel von einer opferbezogenen Geschichtspolitik samt heroisierender Memorialkultur zu einer täterbezogenen nachvollzieht. Die weiteren Beiträge in diesem Teil von Norbert Frei, Carsten Humlebæk und Jens Petersen behandeln Deutschland, Spanien und Italien.

Der durch ein Personenregister erschlossene Band lässt bei aller Fülle an länderspezifischen Informationen, aktuellen Forschungsüberblicken und umfangreichen bibliografischen Daten doch einige Wünsche offen sowie Fragen unbeantwortet. Worauf zielt etwa die Feststellung im Vorwort, zu Beginn des 21. Jahrhunderts gebe es in Europa nicht nur im GUS-Bereich Staaten „unter autoritärer und sogar totalitärer Herrschaft“ – wie etwa Belarus’ –, sondern dies treffe auch auf „einige Länder auf dem Balkan“ zu (S. IX)? Welche Staaten mögen die Herausgeber damit gemeint haben, wurde das Regime von Slobodan Milošević in Rumpf-Jugoslawien doch bereits 2000 gestürzt? Der autokratische Präsident Kroatiens, Franjo Tudjman, verstarb im selben Jahr. Bezieht sich die Passage auf die Republika Srpska oder Kosova unter Ibrahim Rugova? Gleichfalls hilfreich wären resümierende Abschnitte zu den vier Teilen bzw. zum Band insgesamt gewesen, und auch Beiträge etwa zu Portugal unter und nach Salazar sowie zu Estland, Lettland, Ukraine, Moldova, Ungarn, Bulgarien, Makedonien, Albanien und zur ČSSR bzw. Tschechischen Republik hätte man angesichts des Osteuropa-Fokus hier erwartet. Der Band enthält überdies eine Reihe sinnentstellender Druckfehler wie etwa ein „Halian Cultural Institute in Warsaw“ (S. XI), das nur mit einiger Phantasie als italienisch identifiziert werden kann. Auch die Nomenklatur ist uneben, so wenn von „the Federation of Russia“ (statt von „the Russian Federation“) oder von „Yugoslavian Wars“ (statt von „Yugoslav Wars“) die Rede ist (S. 6).

„Totalitarian and Authoritarian Regimes in Europe“ ist ein Sammelband mit allen Stärken und Schwächen dieses Genres: Seine Lektüre macht klüger und erweitert den Horizont, aber ein roter Faden ist nur vereinzelt erkennbar. Dies liegt daran, dass die Herausgeber zu vieles gleichzeitig angestrebt haben: eine Wiederaufnahme der Totalitarismus-Diskussion, eine Neuinterpretation der Geschichte europäischer Diktaturen, einen Vergleich von Übergängen zur Demokratie sowie einen Blick auf die Spiegelung untergegangener diktatorischer Regime in Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nachfolgender Demokratien – und das alles auf mehreren Zeitebenen. Die generelle Botschaft des Bandes wird davon indes nicht beeinträchtigt: Autoritäre Regime sind für die Geschichte Europas im „Zeitalter der Extreme“ typisch, und dies gilt für Ost- und Südeuropa ebenso wie für Mittel- und Westeuropa.

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