U. Reuter: Paul Singer (1844-1911)

Cover
Titel
Paul Singer (1844-1911). Eine politische Biographie


Autor(en)
Reuter, Ursula
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 138
Erschienen
Düsseldorf 2004: Droste Verlag
Anzahl Seiten
674 S.
Preis
€ 74,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Keßler, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Als in den 1970er-Jahren die akademische Linke der Bundesrepublik heiße Debatten über das politische Mandat der Intellektuellen führte, stießen mit der Wiederentdeckung der Arbeiterbewegung auch die vor 1914 in ihr wirkenden politischen Denker und Schriftsteller auf ein gesteigertes Interesse. Wilhelm Liebknecht und August Bebel, Karl Kautsky und Eduard Bernstein, Franz Mehring und natürlich Rosa Luxemburg fanden ihre Verleger und zumeist auch ihre Biografen. Um Paul Singer, den immerhin langjährigen Vorsitzenden der SPD im Kaiserreich, blieb es hingegen ruhig. Er hatte keine theoretischen Schriften verfasst, die noch Jahrzehnte später als Argumentationshilfe beim Aufspüren der einzig richtigen „Linie“ hätten dienen können, noch erlangte er als schillernder Wortführer einer Fraktion zwischen „Reformismus“ und revolutionärer Linken Bedeutung. Dass aber, jenseits politischer Instrumentalisierung, dem Lebensweg Paul Singers auch heute noch nutzbringende Erkenntnisse abgewonnen werden können, beweist die neue Biografie von Ursula Reuter über ihn.

Auf Paul Singer passt recht gut die von Hans Mayer gegebene Charakterisierung des doppelten – existentiellen wie intentionellen – Außenseiters. Als Angehöriger der jüdischen Minderheit erfuhr Singer, wie Ursula Reuter erstmals in dieser Deutlichkeit nachweist (vgl. z.B. S. 111), sein ganzes öffentliches Leben hindurch antisemitische Anfeindungen, manchmal in grobschlächtiger, manchmal in subtiler Art. Die Partei, der er sich dann zuwandte, die SPD, war, ungeachtet mancher Entgleisungen einzelner ihrer Mitglieder, bemerkenswert frei von Judenfeindschaft. Auch dies war ein wichtiges Kapitel der sozialdemokratischen „Gegenkultur“ zur offiziellen Nationalkultur des Kaiserreiches.

Auf diese existentielle Außenseiterrolle hatten die deutschen Juden in verschiedener Weise reagiert. Die Mehrheit suchte sich den herrschenden Normen anzugleichen, oft unter Ablehnung der aus Osteuropa nach Deutschland vor Pogromen geflohenen Glaubensgenossen, durch deren Existenz in Deutschland sie ihre eigene „Assimilation“ gefährdet sahen. Eine Minderheit erkannte die Vergeblichkeit der Anpassung an eine vom Antisemitismus mit geprägte Offizialkultur und sah ihren Ausweg im Zionismus, zog allerdings nur selten die Konsequenz, in das erstrebte jüdische Nationalheim, nach Palästina, auszuwandern. Zionistische Einflüsse waren auch in der deutschen Sozialdemokratie seit etwa 1900 nachweisbar, doch die Partei verfocht prinzipiell die Idee einer gleichberechtigten Integration der Juden in die Gesamtgesellschaft. Eine solche Integration sei jedoch erst im Sozialismus möglich. Durch ihr Bestreben, die kapitalistische Gesellschaft mitsamt ihrem autoritären Gepräge aufzuheben, zog sich die Sozialdemokratie die erbitterte Feindschaft beinahe aller anderen gesellschaftlichen Gruppen des Kaiserreiches zu. Wer sich ihr anschloss, wurde zum intentionellen Außenseiter und hatte die Konsequenzen zu tragen.

Für die wenigen dem Bürgertum entstammenden SPD-Mitglieder bedeutete die Entscheidung für die Arbeiterbewegung oft den Bruch mit ihrer Familie und ihrem Herkunftsmilieu. Dies war bei Paul Singer, wie Reuter detailliert aufzeigt, so nicht der Fall. Der nach erzwungenem vorzeitigen Abgang von der Realschule früh aufs Geld Verdienen angewiesene Singer (der unverheiratet blieb) hielt nach dem Tod der Eltern engen Kontakt zu seinen vielen Geschwistern. Er blieb in ein Umfeld integriert, in dem sich familiäre und berufliche Beziehungen auf oft glückliche Weise miteinander verbanden. Beruflich war er lange als Kaufmann in der Konfektionsindustrie tätig (Isidor Singer, der Erfinder der Nähmaschine, war ein Verwandter von ihm). Er brachte es zu relativem Wohlstand. Dadurch war er, anders als viele SPD-Politiker, von der Partei und ihrer Gehaltsliste unabhängig. Singer konnte somit das später von Wolfgang Abendroth aufgestellte Postulat erfüllen, der Arbeiterfunktionär solle für die Bewegung, aber nicht von ihr, leben.

Bereits mit 18 Jahren trat Singer der bürgerlich-liberalen Fortschrittspartei bei und gehörte bald zu ihrem linken Flügel. Auch in späteren Jahren suchte Singer stets nach Gemeinsamkeiten zwischen der Arbeiterbewegung und der demokratisch gesinnten Minderheit des deutschen Bürgertums. Eine Zeitlang von Lassalle politisch beeinflusst, lernte Singer am Ende der 1860er-Jahre Bebel und Liebknecht kennen. Eine enge politische Zusammenarbeit entstand, die im Buch genau nachgezeichnet wird. 1869 gehörte Singer zu den Mitbegründern der „Eisenacher“ Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, innerhalb derer er 1875 an der Vereinigung mit den „Lassalleanern“ beteiligt war. Im Oktober 1870 wandte er sich in einem Akt besonderer Zivilcourage öffentlich gegen die Annexion von Elsass und Lothringen durch Deutschland. Singers nächste Aktionen gegen die borussische Hegemonialkultur waren auf den Auf- und Ausbau einer unabhängigen sozialistischen Presse in Berlin gerichtet. Er unterstützte dabei sowohl die entstehende Arbeiterpresse als auch publizistische Organe bürgerlich-demokratischer Provenienz. Auch an der Einrichtung verschiedener Organe zur Sozialfürsorge beteiligte er sich. 1877 war er Mitinitiator des Johann-Jacoby-Fonds, einer Hilfsorganisation für politisch Verfolgte. Mit Johann Jacoby (1805-1877), auch er ein Vorkämpfer der jüdischen Emanzipation, verband Singer die Entscheidung, den Kampf für Demokratie mit dem Ringen um soziale Gerechtigkeit zu vereinen. Wie vor ihm Jacoby ging Singer den Weg vom Linksliberalismus zur Sozialdemokratie.

In der Zeit des Anti-Sozialistengesetzes (1878-1890) beteiligte sich Singer an der Herstellung und Verbreitung des illegalen Parteiorgans „Der Sozialdemokrat“, worauf Reuter ausführlich eingeht. Das Umfeld, in dem die verbotene Partei und insbesondere Singer operieren mussten, kommt in der ansonsten sehr detaillierten Arbeit etwas zu kurz. Hier wäre die Nutzung früherer Forschungsresultate durch Leo Stern, Herbert Buck und Ernst Engelberg hilfreich gewesen.1 Insgesamt ist die Darstellung aber überaus materialgesättigt und beruht auf der Verwendung zahlreicher, bislang nicht oder kaum angezapfter Archivquellen (wenngleich der gut geschriebene Text eine Straffung mitunter vertragen hätte).

1883 wurde Singer Berliner Stadtverordneter und 1884 in den Reichstag gewählt. Die Personenwahl machte eine Umgehung der antisozialistischen Gesetzgebung möglich; trotz aller Repressalien war das Kaiserreich kein totalitärer Staat. Ursula Reuter bringt zahlreiche Dokumente über Singers engagierte Tätigkeit in beiden Gremien. Doch die Auswirkungen des „Sozialistengesetzes“ trafen Singer auch persönlich, wenngleich, verglichen mit der Barbarei späterer Zeiten, in relativ milder Form: 1886 wurde er aus Berlin ausgewiesen und nahm (wie Bebel) seinen Wohnsitz im damals etwas liberaleren Sachsen, in Dresden. Im gleichen Jahr rückte Singer als Kassenwart in den Parteivorstand auf. 1890 wurde das antisozialistische Gesetz aufgehoben; Singer konnte nach Berlin zurückkehren und wurde im gleichen Jahr einer der beiden Parteivorsitzenden, seit 1892 neben August Bebel. Singers ausgeglichene, vermittelnde Art war von Nutzen, wenn August Bebel und Wilhelm Liebknecht aneinander gerieten, was nach 1880 immer häufiger vorkam. (S. 164f.)

Bereits seit den 1880er-Jahren, und dies verdient besondere Beachtung, warnte Paul Singer vor kolonialen Ambitionen des Reiches. Lange bevor die „Weltpolitik“ zur quasi-offiziellen Ideologie des Hohenzollern-Staates wurde, sah er deren inhumane Konsequenzen für die Kolonialvölker, aber auch die Unrealisierbarkeit der Ziele, denen sich die deutschen „Eliten“ zunehmend verschrieben. Singers hellsichtige Warnungen vor Zugeständnissen an die Kolonialpolitik des Kaiserreiches von Seiten der Sozialdemokratie, so bereits in seiner Rede auf dem Mainzer SPD-Parteitag 1900, wird ausführlich gewürdigt. Im Reichstag klagte Singer im Herbst 1900 eindrucksvoll die militärische Aggression der europäischen Mächte gegen China an.

Auch in die internationale Zusammenarbeit der Arbeiterbewegung schaltete er sich ein: Seit 1891 finden wir ihn als einen der Vorsitzenden oder Co-Vorsitzenden der Sozialistenkongresse. Innerhalb der SPD lag ihm besonders die Ausarbeitung eines Agrarprogramms am Herzen; Singer begriff, dass das Junkertum, auch als soziale Basis für den preußischen Militarismus, zum Haupthindernis der demokratischen Entwicklung Deutschland geworden war. Singer war jedoch alles andere als ein Exponent der politisch plakativen Aktion, obgleich er als Redner populär wurde. „Er war ein Mann des politischen Alltagsgeschäfts“, so seine Biografin, „der sich mit Geschick, Verantwortungsbewußtsein, Augenmaß, Ausdauer und Zähigkeit der politischen ‚Kleinarbeit‘ widmete“, ohne dabei sein Ziel, die politische und ökonomische Emanzipation der arbeitenden Klassen, aus den Augen zu verlieren. (S. 594) Er verstand sich seit 1887 eindeutig als Marxist und Anhänger der sozialistischen Revolution. Doch suchte er, taktisch geschickt agierend, die im „Revisionismusstreit“ seit der Jahrhundertwende auseinander strebenden Flügel der SPD zusammen zu halten. Die Ideen und Konzepte von Rosa Luxemburg, Karl Kautsky und Eduard Bernstein sollten in ein und derselben Partei solange ihren Platz haben, bis die Geschichte selbst über ihre Brauchbarkeit entscheiden würde.

Wissenschaftliche Spezialstudien zu Paul Singer lagen bislang nur aus der Feder des DDR-Historikers Heinrich Gemkow vor, der auch die vorliegende Arbeit mit seinem Rat unterstützte. Ursula Reuters Buch ist ein wichtiger, zeitgemäßer Beitrag zur biografisch orientierten Sozialgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Vor dem Hintergrund der widersprüchlichen Entwicklungen des deutschen Kaiserreiches entsteht die Biografie eines charakterfesten, persönlich toleranten und dabei sein politisches Ziel mit Konsequenz verfolgenden Menschen. In unserer Zeit, in der viele einst linksradikal Gesonnene sich mit den bestehenden Verhältnissen völlig ausgesöhnt haben, ist die Besinnung auf Leben und Leistung von Demokraten und Sozialisten wie Paul Singer von Nutzen für die politische Kultur.

Anmerkung:
1 Vgl. Stern, Leo (Hg.), Der Kampf der deutschen Sozialdemokratie in der Zeit des Sozialistengesetzes 1878-1890. Quellenmaterial, bearb.v. Buck, Herbert (Archivalische Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 3/I), Berlin 1956; Engelberg, Ernst, Revolutionäre Politik und Rote Feldpost 1878-1890, Berlin 1959.

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