S. Müller-Rolli: Evangelische Schulpolitik

Titel
Evangelische Schulpolitik in Deutschland 1918-1958. Dokumente und Darstellung


Autor(en)
Müller-Rolli, Sebastian
Erschienen
Göttingen 1999: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
791 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Hering, Staatsarchiv Hamburg

Bildungs- und Schulpolitik steht bis heute nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland im Licht öffentlichen Interesses, weil der Ausbildung des Nachwuchses große Bedeutung für die Gestaltung der Zukunft beigemessen wird. An dieser Diskussion nehmen die großen Kirchen und Religionsgemeinschaften regen Anteil. Um so mehr überrascht es, dass eine Geschichte der Schulpolitik der evangelischen Kirchen im 20. Jahrhundert noch aussteht. Während es zur Geschichte der Religionspädagogik - auch im "Dritten Reich" - verschiedene Arbeiten gibt, besteht für die protestantische Schulpolitik eine gravierende Lücke. Daher ist es besonders erfreulich, dass jetzt der Ludwigsburger Erziehungswissenschaftler und Historiker Sebastian Müller-Rolli im Auftrag des Comenius-Instituts in Münster eine Dokumentation mit zusammenhängender Interpretation zur evangelischen Schulpolitik in den Jahren 1918 bis 1958 erstellt hat.

Die in der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 festgeschriebene (weitgehende) Trennung von Staat und Kirche bedeutete einen wesentlichen Einschnitt in der deutschen Schulgeschichte. Nachdem die Kirchen Jahrhunderte lang ausschließlicher bzw. wesentlicher Träger der Bildung waren und später noch immer eine zentrale Rolle im Schulwesen spielten, fanden sie jetzt eine grundlegend andere Situation vor. So wurde der in der Verfassung festgeschriebene Religionsunterricht nunmehr Teil der gemeinsamen Bildungsverantwortung von Staat und Kirche. Die Schulpolitik, vor allem die Auseinandersetzungen um die Konfessionsschule, bestimmte noch bis in die sechziger Jahre das Verhältnis von Staat und Kirche nachhaltig. Bei allen länderspezifischen Unterschieden bildete sich mehrheitlich die christliche Gemeinschaftsschule heraus, die heute durch die große Veränderung in der konfessionellen Zusammensetzung der Schülerschaft und durch den Beitritt der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes wieder infrage gestellt wird. Wer aber über weiterführende Problemlösungen beraten will, muss die geschichtlichen Entwicklungen der heutigen Probleme des Schulwesens kennen.

Die hier vorgelegte Quellensammlung dokumentiert die Beziehungen zwischen Staat und evangelischer Kirche im Bereich des Volksschulwesens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie konzentriert sich auf die sechs Brennpunkte: 1918-1921: Jahre der Konfrontation - Schulpolitik in der Republik, 1936: Innere Zerrissenheit - Schulpolitik im Kirchenkampf, 1941-1944: Schulpolitische Vorstellungen in den Widerstandskreisen, 1945-1948: Regionale Eigendynamik unter alliierter Kontrolle, 1948/49: Die Schulfrage in den Beratungen des Grundgesetzes und 1958: Die Schulfrage auf der Berliner Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Jedem Kapitel ist ein einordnender Text vorangestellt, der die Entscheidungsprozesse und Argumentationsmuster herausarbeitet, einen Überblick über die abgedruckten Dokumente und Hinweise auf weiterführende Literatur gibt. Sofern es erforderlich ist, werden einzelne Quellen noch eigens erläutert.

Die 95 in chronologischer Reihenfolge abgedruckten Dokumente sind sehr heterogen und umfassen Erlasse, Verlautbarungen, Anweisungen, programmatische Texte, Reden, (geheime) Denkschriften, Schriftwechsel und Berichte aus dem Alltag. Sie reichen vom Erlass des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung über den Religionsunterricht vom 29. November 1918 bis zum Wort zur Schulfrage der Synode der EKD vom 30. April 1958, in dem sich die Evangelische Kirche zu einem "freien Dienst an einer freien Schule" verpflichtete. Sie verstand und versteht ihre Mitwirkung am Bildungssystem als Dienst an den einzelnen Kindern und Jugendlichen im Blick auf ihre individuelle Bildung und als Dienst am Gemeinwesen im Rahmen einer grundlegenden, zeitgemäßen allgemeinen Bildung. Damit kam der schulpolitische Selbstklärungsprozess innerhalb des Protestantismus nach der Verabschiedung der Verfassungen und Schulgesetze in den Ländern der Bundesrepublik und der sich als langfristig abzeichnenden Teilung Deutschlands zum Erliegen.

Eine umfangreiche Einleitung des Herausgebers bietet verschiedene Lesarten und Fragestellungen an, die die Breite der Interpretationsmöglichkeiten dieser Dokumente und ihre Bedeutung im gesellschaftsgeschichtlichen Kontext deutlich werden lassen: Konfessionsschule/Bekenntnisschule, Institutionelle Bedingungen der evangelischen Kirche, Theologische und kirchenpolitische Leitorientierungen, Wandel der politischen Systeme, Schulpolitik der Alliierten, Demographischer Wandel, Demokratisierung des Schulwesens, Vom vertikalen zum horizontalen Schulsystem, Alltag und Biographie, Von der Schulpolitik zur Unterrichtspolitik. Deutlich wird daran die interdisziplinäre Dimension dieses Themas, das u.a. Kirchen- und Verfassungsgeschichte sowie historische Bildungsforschung umfasst. Nützlich sind drei hier integrierte Zeittafeln "Von der Deutschen Evangelischen Kirchenkonferenz 1852 bis zur Evangelischen Kirche in Deutschland 1945" (S. 29-33), "Von der Evangelischen Landeskirche Preußens 1817 bis zur Evangelischen Kirche der Union 1951" (S. 33-34) sowie "Gesamtkirchliche und landeskirchliche Synoden 1919-1958" (S. 35). Eine Auflistung von Desideraten wie der Geschichte des Religionsunterrichts und der Volksschullehrerschaft, der Schulpolitik der Parteien, des Elternrechts und der Beziehungen zwischen der katholischen und evangelischen Schulpolitik sowie Angaben zur Edition der Texte runden dieses Kapitel ab. Ein umfangreiches Nachwort "Die gefährdete Freiheit in Schule und Kirche" von Karl Ernst Nipkow (S. 720-733) skizziert die Entwicklung von den fünfziger Jahren bis zur Gegenwart.

Müller-Rolli stellt einleitend klar, dass nicht alle Landeskirchen gleichgewichtig behandelt werden. Besonders berücksichtigt wurden aufgrund ihres überregionalen Engagements Bayern und Baden-Württemberg. Sicherlich ist es schwierig, aufgrund der regionalen Vielfalt alle Landeskirchen gleichermaßen einzubeziehen. Dennoch führt diese Entscheidung zu einer Verzerrung des Gesamtbildes. Der völlige Verzicht auf die Darstellung der Situation in der Evangelisch-lutherischen Kirche im Hamburgischen Staate beispielsweise ist nicht nur problematisch, weil Hamburg die zweitgrößte Stadt Deutschlands war und ist, sondern auch, weil gerade an diesem Beispiel einer auf ein Stadtgebiet begrenzten Landeskirche die besondere Situation der evangelischen Schulpolitik in einer Großstadt hätte aufgezeigt werden können. Gerade hier wurden und werden die Probleme der Entkirchlichung nachhaltig deutlich und stell(t)en die Kirche vor eine besondere Situation. Aufgrund der langjährigen sehr kirchenkritischen Einstellung der Bevölkerung - selbst großer Teile des Bildungs- und Besitzbürgertums - befand sich die evangelisch-lutherische Kirche in einer sehr schwachen Position. Im Gegensatz zu Preußen und anderen deutschen Staaten bzw. Bundesländern ist es bis heute nie zu einer vertraglichen Regelung zwischen Staat und Kirche gekommen.

So wurde z.B. 1918 vom Arbeiter- und Soldatenrat der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen abgeschafft, was die aus Mitgliedern der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der Deutschen Demokratischen Partei und kooperationsbereiten Angehörigen des Vorkriegssenates bestehende Regierung übernahm. Erst ein Urteil des Reichsgerichts zwang Hamburg, 1921 den Religionsunterricht wieder einzuführen. Allerdings mussten interessierte Eltern ihre Kinder explizit für dieses Fach anmelden. Ebenso umstritten waren die Ausbildung von Lehrern für dieses Unterrichtsfach sowie die Gründung einer theologischen Fakultät. Erst 1964 wurde die "Gemeinsame Erklärung der Schulbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und der Evangelisch-lutherischen Landeskirchen auf Hamburger Staatsgebiet zur Ordnung des Religionsunterrichts" verabschiedet. Diese Andeutungen zeigen, wie ertragreich und für das Gesamtbild bereichernd ein Blick auf diese Landeskirche gewesen wäre, um die evangelische Schulpolitik im Angesicht von Entkirchlichung und gesellschaftlicher Modernisierung am Beispiel einer Millionenstadt aufzuzeigen.

Ergänzungsbedürftig ist auch das Literaturverzeichnis am Ende des Bandes, das etliche für das Thema wichtige Titel, insbesondere neuere biographische Arbeiten über zentrale Personen wie Otto Dibelius, Klara Hunsche, Helmuth Kittel und Walter Uhsadel, oder die Studie von Ludwig Richter über Kirche und Schule in den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung (Düsseldorf 1996), vermissen lässt.

Erschlossen wird das voluminöse Buch durch ein auch als Nachschlagewerk nützliches Personenregister mit biographischen Angaben. So ist - trotz der kritischen Bemerkungen - ein sehr verdienstvolles Werk entstanden, das hoffentlich weitere Arbeiten zum Bereich Kirche und Bildung/Schule nach sich ziehen wird.

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