Titel
Das Soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung


Herausgeber
Welzer, Harald
Erschienen
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Krassnitzer, Historisches Seminar II, Heinrich-Heine-Universität

Die Forschungsdiskussion um die diversen Ausprägungen von Gedächtnissen boomt nach wie vor. Sie bewegt sich im wesentlichen zwischen zwei Polen: zum einen die oft empirisch orientierten Versuche einer Beschreibung und Analyse von Gedächtnisinhalten, -praktiken und –orten bestimmter sozialer Kollektive. Als aktuelles Beispiel hierfür sei das ebenso monumentale wie problematische Projekt über die „Deutschen Erinnerungsorte“ genannt. 1 Und zum zweiten die eher theoretisch ausgerichteten Bemühungen, dem in den Kulturwissenschaften relativ frei fluktuierenden Gedächtnisbegriff mit seinen zahllosen Ausprägungen wie individuelles, kollektives, kommunikatives, kulturelles oder soziales Gedächtnis ein stabiles analytisches Fundament zu verleihen. Der vom Sozialpsychologen Harald Welzer herausgegebene Sammelband über das soziale Gedächtnis ist trotz der empirischen Ausrichtung einzelner Beiträge dieser Forschungsrichtung zuzuordnen. Der Band vereint die Referate der Internationalen Konferenz „Traditions/Transitions. Communicating History and Presenting the Past“, die im September 1999 in Hannover stattfand. Und in der Tat liest sich das Autorenverzeichnis in puncto Renommee und Bekanntheitsgrad der Autoren wie die Mannschaftsaufstellung von Real Madrid. In einer bemerkenswert transdisziplinären Ausrichtung versammelt der Band Beiträge von Historikern, Psychologen unterschiedlicher Fachrichtungen, Film-, Kommunikations- und Literaturwissenschaftlerinnen sowie Literaturwissenschaftlern.

Harald Welzer unternimmt in der Einleitung den innovativen Versuch einer theoretisch-analytischen Standortbestimmung des programmatischen Konzeptes eines sozialen Gedächtnisses. Ausgehend von einer Kritik an der Intentionalität der zumindest in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisdiskussion der Bundesrepublik dominanten idealtypischen Konzepte des kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses 2, will er den Blick lenken auf die Praxis und Medien der nicht-willentlichen und meist nicht-bewußten Tradierung von kollektiven Erinnerungen. Er interessiert sich also für „all das, was absichtslos, nicht-intentional, Vergangenheit und Vergangenheitsdeutungen transportiert und vermittelt“ (12) und damit ein „Universum einer Vergangenheitsbildung en passant“ (12) konstituiert. Hierfür greift er den von Peter Burke geprägten Begriff des sozialen Gedächtnisses auf und versucht diesen auf vier Medien „der sozialen Praxis der Vergangenheitsbildung“ (16) zu konkretisieren: Interaktion, Aufzeichnungen, Bilder und Räume. Unter Interaktion subsummiert er hierbei die vielfältigen sozialen Praktiken des memory talks, der als elementarer Bestandteil jeglicher alltäglichen biographischen Kommunikation gelten kann. Obwohl Aufzeichnungen, Bilder und Räume natürlich auch wichtige Medien einer intentionalen Erinnerungsbildung darstellen, geht es Welzer um die subtextuellen Momente beispielsweise von Kriminalromanen, Filmen und Architektur, die eben auch immer absichtslos bestimmte Bilder der Vergangenheit vermitteln.

Soweit ein spannendes und vielversprechendes Konzept, das natürlich weiterer Ausführungen und empirischer Fundierungen bedarf. Bedauerlicherweise wird das in der Einleitung entworfene soziale Gedächtnis im gesamten ersten Abschnitt mit dem Titel „Geschichte und Erinnerung“ kein einziges Mal aufgegriffen. Vielmehr wird dieses Begriffspaar auf relativ allgemeiner Ebene diskutiert und dabei viel Altbekanntes reproduziert. So schließt der Psychologe Mark Freeman aus der Analogie von Prozessen der individuellen und kollektiven Erinnerung auf die Existenz von unbewußten Dimensionen der kulturellen Traditionen, die er als das „narrativ Unbewußte“ (35) bezeichnet. Seine Forderung nach einem Gedächtnisbegriff, der individuelle Erinnerung und kulturelle Tradition verbindet kann ebenso als „alter Hut“ gelten wie der Vorschlag des Anglisten James E. Young, Geschichte als Kombination von Ereignissen und ihrer Repräsentationen zu begreifen. Auch wenn Young dankenswerterweise den erinnerungshistorischen Quellenwert von Augenzeugen-berichten und autobiographischen Zeugnissen betont, erscheint seine Forderung nach einer vielstimmigen Geschichtserzählung, die eine „herkömmliche“ Geschichtsschreibung mit den Stimmen der Überlebenden kombiniert, als eine Reaktualisierung von Walter Benjamins Montagetechnik 3. Lediglich die letzten beiden Beiträge dieses Abschnitts fokussieren wieder etwas konkreter das Phänomen des kollektiven Erinnerns. Dabei wendet sich die Anglistin Aleida Assmann der Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Erinnerungen zu und verweist am Beispiel des „Fall Wilkomirski“ darauf, daß das Authentizitätsproblem auch unter den Aspekten von öffentlicher Kommunizierbarkeit und sozialer Akzeptanz von Erinnerungen gedacht werden muß. Und die Filmwissenschaftlerin Getrud Koch postuliert einen visual turn in der aktuellen Erinnerungskultur und vertritt, leider ohne Belege, die These, daß sich die visuelle Repräsentation von traumatischer Vergangenheit in Fotografien und Filmen mittlerweile fast zum „Signifikant des Wirklichen“ (123) entwickelt hat.

Erst die Beiträge im zweiten Teil des Bandes, der unter dem Motto „Das Bilden der Vergangenheit“ steht, wenden sich den Praktiken und Medien des sozialen Gedächtnisses zu, wobei die Untersuchung von Interaktionen den Schwerpunkt bildet. Ausgehend von der Überlegung, daß das soziale Gedächtnis und damit die stabile kollektive Identität von Familien auf den kommunikativen Kompetenzen ihrer Mitglieder basiert, unterscheidet die Kommunikationswissenschaftlerin Angela Keppler zwei Varianten der familiären Interaktion: zum einen die Vergangenheitsrekonstruktion en passant bei Tischgesprächen und zum anderen die formalisierte Erinnerungs-Wiederbelebung bei ritualisierten Familientreffen, was sie am Beispiel eines Dia-Abends veranschaulicht. Demnach formieren sich Familiengedächtnisse aus dialogischen Geschichten, die aus dem gesprächsförmigen Austausch individueller Geschichten reaktualisiert und neu konstruiert werden. Sie leitet daraus eine berechtigte Kritik an der unzeitgemäßen Statik der idealtypischen Unterscheidung von kulturellem und kommunikativem Gedächtnis ab und weist darauf hin, daß die alltägliche kommunikative Erinnerungspraxis von sozialen Kleingruppen und die generellen Erinnerungsmedien in einer dialektischen Beziehung stehen. Auch Harald Welzer widmet sich dem Beispiel intergenerationeller Familiengedächtnisse und zeigt auf, daß der Prozeß der Tradierung von Vergangenheit immer auf einer aktiven Aneignung der erzählten Geschichten basiert. Demnach funktionieren lebendige soziale Gedächtnisse nach dem „Prinzip der Montage“ (178), wobei die tradierten Vergangenheitsnarrative mit den „relativ autonomen Ergänzungserzählungen“ (175) der Zuhörer kombiniert werden. Der Erziehungspsychologe Sam Wineburg versucht auf Basis einer Langzeitstudie mit fünfzehn Jugendlichen der Frage nachzugehen, wie Geschichtsbewußtsein gebildet wird und welche Rollen Schule und Elternhaus dabei spielen. Mit einem sehr überzeugenden Beispiel eines Familieninterviews weist er nach, wie stark und gleichzeitig unreflektiert Vergangenheitswissen von Jugendlichen durch Filme wie „Schindlers Liste“ oder „Forrest Gump“ geprägt wird und deutet auf die herausragende Bedeutung des Mediums Video für die Vermittlung von „fiktionalisierter Vergangenheit“ (200) hin. Damit liefert er en passant einen wichtigen Beleg für die visual turn-These von Gertrud Koch. Wineburg plädiert daher für eine Gedächtnisforschung, die kulturelle Weitergabeprozesse bei „gewöhnlichen Menschen“ untersucht und damit der kategorialen Verwechslung der Produktion mit der Konsumption von Erinnerungsmedien entgeht. Ganz in diesem Sinne weist der Geschichtsdidaktiker Peter Seixas am Beispiel des Geschichtsunterrichtes darauf hin, daß jede intentionale, aber unkritische Praxis der Vermittlung von Vergangen-heit und Tradition auch immer eine nicht-intentionale Dimension und damit ein „vielleicht problematisches Erbe“ (212) beinhaltet. Etwas aus dem Rahmen fällt der Beitrag des Neuropsychologen Hans J. Markowitsch, der einen sehr komprimierten, aber instruktiven Einblick in die aktuelle neuronale Hirn- und Gedächtnisforschung bietet.

Der dritte Abschnitt mit dem Titel „Soziale Erinnerung und Erinnerungsgemeinschaften“ beleuchtet das soziale Gedächtnis größerer, meist nationaler, Kollektive aus der Makro-Perspektive. Obwohl er damit eher intentionale Erinnerungskulturen betrachtet, skizziert der Historiker Jörn Rüsen ein beachtliches Drei-Epochen-Modell der bundesrepublikanischen Identitätsbildung nach dem Holocaust. Demnach folgte auf die Phase des „Beschweigens und Exterritorialisierens“ (245) nach 1968 eine Epoche der „moralischen Distanzierung“ (251) durch die Nachkriegsgeneration, die wiederum 1989 von einer „historischen Distanzierung“ (254) abgelöst wurde, die, so seine Hoffnung, eine historisierende „Wiedervereinigung“ mit der Täter-Generation ermöglicht. Etwas absurd mutet hingegen der Versuch des Psychologen Gustav Jahoda an, die longue durée abwertender Alteritätsstereotype als konstitutives Element eines sozialen Gedächtnis der Europäer zu stilisieren. Es drängt sich die Frage auf, ob es sich dabei nicht vielmehr um anthropologische Mechanismen der Konstruktion einer superioren Wir-Identität handelt, die in anderen Kulturräumen, beispielsweise in Ostasien, ebenso anzutreffen sind. Die wohl umfassendste Umsetzung des Konzeptes eines sozialen Gedächtnisses legt der Soziologe John Borland mit seiner Analyse der loyalistischen Alltagskultur Nordirlands vor. Er zeigt auf, wie Graffiti wie „REM 1690“ als bildhafte Medien, Aufmärsche als interaktive Rituale und die Todeszone als kollektiver Erfahrungsraum die 300 Jahre alte, traditionelle Selbstwahrnehmung der protestantischen Nordiren als frontier people permanent in der Gegenwart reaktualisiert und für die Zukunft stabilisiert. Einen vergleichbar breiten, wenn auch konventionelleren Ansatz verfolgt der Historiker Moshe Zimmermann bei seiner Analyse der Bedeutung von Historikern, Lehrplänen, Festen und Gedenkorten sowie Massenmedien für die unkritische Tradierung des zionistischen Mythos einer „ewigen quantitativen Unterlegenheit“ (297) und Verfolgung des jüdischen Volkes im modernen Israel.

Insgesamt liegt hier ein gelungenes und über weite Strecken lesenswertes Kompendium vor, das definitiv eine Bereicherung der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis-Diskussion darstellt: Sein wichtigster Verdienst liegt dabei in seiner konsequent transdisziplinären Ausrichtung, die das breite Spektrum der verschiedenen theoretischen und methodischen Ansätze der Gedächtnisforschung repräsentiert und zusammenführt.

Anmerkungen

1 Etienne Francois/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001. Der erste Band ist im Frühjahr erschienen, die beiden weiteren Bände sind für den Herbst angekündigt.

2 Diese Unterscheidung geht auf die zahlreichen Arbeiten von Aleida und Jan Assmann zurück. Vgl. v.a.: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/Main 1988; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992 und Aleida Assman: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnis. München 1999.

3 Vgl. u.a.: Walter Benjamin: Denkbilder. Erinnern und Ausgraben. In: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. IV.1, Frankfurt/Main 1991, S. 305-438.

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