: Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF. . Hamburg 2005 : Hamburger Edition, HIS Verlag, ISBN 3-936096-54-6 143 S. € 12,00

: Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF in Deutschland. Berlin 2004 : Argon Verlag, ISBN 3-87024-673-1 863 S. € 24,90

Proll, Astrid (Hrsg.): Hans und Grete. Bilder der RAF 1967-1977. Berlin 2004 : Aufbau Verlag, ISBN 3-351-02597-1 157 S. € 19,90

: Die Rote Armee Fraktion - RAF. 14.5.1970 bis 20.4.1998. Baden-Baden 2004 : Nomos Verlag, ISBN 3-8329-0533-2 207 S. € 19,80

: Die dritte Generation der "Roten Armee Fraktion". Entstehung, Struktur, Funktionslogik und Zerfall einer terroristischen Organisation. Wiesbaden 2005 : VS Verlag für Sozialwissenschaften, ISBN 3-531-14114-7 426 S. € 39,90

: Rechtsanwälte - Linksanwälte. 1971 bis 1981 - Das Rote Jahrzehnt vor Gericht. Frankfurt am Main 2004 : Eichborn Verlag, ISBN 3-8218-5586-X 397 S. € 22,90

: "Zieht den Trennungsstrich, jede Minute". Briefe an ihre Schwester Christiane und ihren Bruder Gottfried aus dem Gefängnis 1972-1973. Hamburg 2005 : Konkret-Literatur-Verlag, ISBN 3-89458-239-1 198 S. € 15,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Scheiper, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Mit dem Ende der Ausstellung zur Roten Armee Fraktion in den Berliner Kunst-Werken haben wir (vorerst) auch die Grabenkämpfe um ihre Bedeutung aus den Feuilletons verabschiedet. Was bleibt, ist die Gewissheit, dass die RAF und ihr Mythos die deutschen Gemüter noch immer erregen. Ein Wiedersehen mit denselben Bildern und Polarisierungen erwartet uns voraussichtlich im Jahr 2007. Die Diskussionsrudimente aus den 1970er-Jahren verschwinden bis dahin in den jahrzehntealten Schubladen und werden auch bei der nächsten Reanimation wieder durch den Filter medialer Imagination gejagt.

„Der Staat“ bot stets den Widerpart in einer die gesamte Gesellschaft beschäftigenden Schreckensgeschichte. Gut und Böse wechselten darin je nach Standpunkt des Betrachters. Vor allem kostete das Handeln der RAF zahlreiche Menschen das Leben, was offensichtlich noch immer betont werden muss. Dies verlangt nach einem nüchternen Blick auf die jüngsten Veröffentlichungen. Schließlich dringt die RAF nicht nur in die Kunst vor, sondern soll spätestens seit ihrer Auflösung 1998 zunehmend zeithistorisch analysiert werden. Dafür bot das Gezänk um das Konzept und die Finanzierung der Ausstellung einen zusätzlichen Anlass.

Zum Linksterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland entstand zu Beginn der 1980er-Jahre im Auftrag des Bundesinnenministeriums eine maßgebende Studie.1 In den 1990er-Jahren setzte Peter Waldmann durch überzeugende internationale Vergleiche neue Forschungsstandards.2 In der Mehrzahl orientieren sich seit Mitte der 1980er-Jahre aber viele Publikationen an Stefan Austs zuerst 1985 erschienener Erzählung vom „Baader-Meinhof-Komplex“ und führen seither seinen „Kampf um die Wahrheit“ weiter.

Dies gilt besonders für Butz Peters, der bereits 1991 mit einem Werk aufwartete, das die Ereigniskette der 1970er und 1980er-Jahre nachzeichnete. Nun hat er unter dem Titel „Tödlicher Irrtum“ eine um 300 Seiten erweiterte Neuauflage vorgelegt, die nicht als solche gekennzeichnet ist, aber in unzähligen Passagen bereits Niedergeschriebenes übernimmt. Peters bedient den lesebegeisterten Kunden, erhebt jedoch nicht den Anspruch, die Ereignisse in einen breiteren historischen Kontext zu setzen. Der Autor möchte erzählen, wie es eigentlich gewesen ist – was gegenwärtig en vogue zu sein scheint. Schwungvoll wird man in die Thematik eingeführt und erkennt auch ohne Hintergrundwissen über den Autor auf den ersten Seiten, wie fernsehtauglich die Sprache gewählt ist und die Szenen zusammengestellt sind. Peters ist Rechtsanwalt, ehemaliger Redakteur und Fernsehmoderator der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“. Er beginnt seine „Zeitreise durch drei Jahrzehnte deutscher Nachkriegsgeschichte“ folglich mit den unverwechselbaren Sätzen: „Der 2. April [des Jahres 1968] ist ein nasstrüber Tag. Der Beginn eines neuen Kapitels der deutschen Geschichte. An diesem Dienstag ahnt allerdings niemand etwas davon.“ (S. 37)

Peters’ Sprache ist nicht nur für Linguisten zum Teil unzumutbar. Das Prädikat als den Satz tragendes Element hat bei ihm ausgedient. Man muss zuweilen froh sein, ein Subjekt zu finden: „Am Morgen der Tat waren die vier in Frankfurt angekommen. In aller Herrgottsfrühe, um fünf Uhr dreißig. Aus München. Letzte Station einer Reise durch die halbe Republik. Einer Abenteuer-Tour im wahrsten Sinne des Wortes.“ (S. 44) Zudem entbehrt Peters’ Buch jeglicher Quellennachweise, und der wissenschaftliche Apparat im Anhang birgt nur ergänzende Fakten. In den verhältnismäßig knappen Darstellungen der staatlichen Reaktionen gerät einiges durcheinander. Die gesetzliche Regelung zum Verteidigerausschluss vom Dezember 1974 wird kurzerhand zum ersten Anti-Terror-Paket erklärt, und die weitreichende strafrechtliche Bedeutung des Paragraphen 129a seit dem 18.8.1976, der – was Peters unterschlägt – neben der Gründung auch die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung unter Strafe stellt, blendet der gelernte Jurist völlig aus. Sämtliche Entwicklungshintergründe der RAF werden aus einigen Gerichtsverfahren und den überlieferten Schriften der Terroristen übernommen. Daher bietet das Buch auf seinen 863 Seiten auch keine neuen Erkenntnisse zur Geschichte der RAF und erst recht nicht zur deutschen Nachkriegsgeschichte. Populärwissenschaftliche Literatur ist in dieser Form schlicht zeitraubend.

Für weniger Geld und Lesezeit bekommt man mit Klaus Pfliegers Buch „Die Rote Armee Fraktion – RAF“ eine deutlich pointiertere Studie. Pflieger benötigt nur gut 200 Seiten, um wesentlich stichhaltigere Informationen über die Geschichte der RAF zu liefern. Er gliedert das Buch nach RAF-Standard in drei Großkapitel zu den einzelnen Generationen und besticht durch kriminalistische Akribie. Pflieger ist Generalstaatsanwalt am Oberlandesgericht Stuttgart und Zeitzeuge, weshalb die juristisch relevanten ballistischen und anatomischen Beschreibungen relativ viel Raum einnehmen (S. 28, 51, 58f.). Es scheint gar, als führe er erneut Prozess gegen die einzelnen Gruppen; damit verharrt er leider auch in der von Polarisierungen geprägten Atmosphäre der 1970er-Jahre.

Dies vermittelt auch die Hauptthese des Buches, der Staat habe den erklärten Krieg niemals angenommen und daher die Aktionen der RAF auf das reduziert, was sie tatsächlich gewesen seien: Verbrechen. Gegen Pfliegers Interpretation spricht allerdings die überaus treffende Wertung der Kinkel-Initiative des Jahres 1992. Diese sollte die Möglichkeit der vorzeitigen Haftentlassung „auch bei Terroristen [einräumen], die zu lebenslanger Haft verurteilt sind“, und verdeutlichte die bis dahin vorhandene Sonderstellung der RAF-Häftlinge. Pflieger schärft das Bild der judikativen Auseinandersetzung mit der RAF. Sein Hauptziel, sich „in Zeiten von Al Quaida“ zu vergegenwärtigen, „dass eine solche Serie von menschenverachtender Gewalt auch wieder ein Ende finden kann“, basiert auf der Überzeugung, den Tätern sei „bewusst gemacht“ worden, „dass sie mit ihren kriminellen Aktionen die Welt nicht verändern können“ (S. 13). Hier muss aus historischer Sicht ein Fragezeichen gesetzt werden. Aus beiden genannten Terrorismusphänomenen erwuchsen bzw. erwachsen Veränderungen in Politik und Gesellschaft, die man in Rechnung stellen muss, um den Gegenstand differenziert zu historisieren.

Den Anspruch, die Geschichte der RAF zu verstehen, erhebt explizit das Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) in einem kleinen dreiteiligen Sammelband, der sich unterschiedlichen Abschnitten des „roten Jahrzehnts“ widmet. Zunächst behandelt Wolfgang Kraushaar neben anderen Dokumenten eine 2002 durch Sigward Lönnendonker und Jochen Staadt ausgehobene Quelle, welche Rudi Dutschkes positive Haltung zum bewaffneten Kampf und seine Konzeption einer Stadtguerilla aus dem Jahr 1966 belegt. In Abgrenzung von Gerd Langguth3 möchte Kraushaar keine Kausalkette von Dutschke, der Studentenbewegung und der Frankfurter Schule zum Terrorismus der RAF konstruieren. Er ermittelt allerdings einen bisher „sträflich vernachlässigten“ (S. 50) Baustein in der Geschichte des Konzepts Stadtguerilla und dem Verhältnis Dutschkes zur Gewalt. Durch die handschriftlichen Notizen vom Februar 1966, das Organisationsreferat vom Juni 1967 und diverse Querverbindungen versucht Kraushaar nachzuweisen, Dutschke habe noch weit vor Carlos Marighelas „Minihandbuch des Stadtguerilleros“ (1970) Che Guevaras Guerillatheorie auf die West-Berliner Verhältnisse übertragen. Bei der konkreten Verhältnisbestimmung von Dutschke zur Gewalt hält sich Kraushaar dann aber doch zurück, weil ihm die verstreuten Quellen keine stringente Argumentationskette erlauben. Er betont lediglich, dass sich in einer weiteren Schrift Dutschkes „in der Schale des Rebellen die Figur des Kriegers bzw. des Guerilleros zu erkennen“ gebe (S. 37). Kraushaar bilanziert, Dutschke sei dem Projekt des bewaffneten Kampfes bereits vor 1968 sehr nahe gekommen, und die Stadtguerilla stamme als genuiner Bestandteil der „68er“ aus dem Zentrum der antiautoritären Bewegung.

Den Hauptakteur der RAF beleuchtet Karin Wieland im selben Bändchen unter dem Titel „a.“. Es geht um Andreas Baader, einen der von Wieland schon früher abgehandelten „deutschen Dandys“.4 Die biografische Skizze verzichtet bewusst auf Vergleiche mit anderen RAF-Terroristen und zieht im Anschluss an Kraushaar stärker die Verbindungslinie von antiautoritärer Avantgarde und Dieter Kunzelmann zum Terrorismus der RAF. Wieland wählt eine Variante der bereits von Jillian Becker 1977 vertretenen Interpretation, die RAF-Terroristen und ihr unmittelbares Umfeld seien in die Tradition antibürgerlich-extremistischer Jugendbewegungen Deutschlands einzuordnen, die Wegbereiter des Nationalsozialismus gewesen seien.5 Baader steht für Wieland im Mittelpunkt; er habe sich auf den Gewinn von Macht sowohl in der Gruppe als auch nach außen fixiert.

An diese Machtorientierung schließt Jan Philipp Reemtsma an. Seine Frage „Was heißt ‚die Geschichte der RAF verstehen’?“ beantwortet er durch die Feststellung, die Machterfahrung sei das entscheidende Charakteristikum der Lebensform RAF gewesen (S. 113). Die tiefenpsychologisch anmutende und stilvoll soziologisch ummantelte These bezieht Reemtsma aus der Interpretation eines Gesprächs zwischen dem Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter und der zu lebenslanger Haft verurteilten Birgit Hogefeld. Indes stellt sich die Frage, ob die Sucht nach Macht über Leben und Tod nicht jedem Verbrechen gegen Freiheit und Leben eines Menschen innewohnt. Wieviel dies zum Verständnis der RAF und ihrer Bedeutung für die bundesdeutsche Gesellschaft beitragen kann, erfährt der Leser besonders dort, wo Reemtsma auf die „Selbstexplikationen“ Jan-Carl Raspes eingeht (S. 128f.). Neben der Machterfahrung dienten gerade solche mit Todesteleologie und Eindeutigkeitssehnsucht angereicherte Erklärungen und ihr konsequentes öffentliches Ausleben der zeitweiligen Attraktivität der Lebensform RAF. Laut Reemtsma bewunderte die gesamte Linke in den 1970er-Jahren diese Lebensform und goutierte deren vermeintliche Authentizität. Schließlich folgert Reemtsma: „Keine terroristische Gruppe könnte sonderlich erfolgreich sein ohne solche verständnisvollen Dritten, die die Sehnsüchte nach Authentizität, unentfremdetem Leben sive Undifferenziertheit und Dummheit teilen, sich aber nicht trauen, selber zuzuschlagen, und darum von der terroristischen Gruppe verachtet werden.“ (S. 142)

Reemtsma sitzt damit keineswegs dem Sympathisantensumpfgerede der 1970er-Jahre auf. Vielmehr erteilt er jenen Linken eine schallende Ohrfeige. Hier schließt sich der Kreis der drei Aufsätze: Die Geschichte der RAF wird als Geschichte derjenigen verstanden, die als einzige „die Idiotie“ konsequent lebten und für ihre Konsequenz bis zum Tod beneidet und bewundert wurden. Der Sammelband des HIS wartet mit dem Vorwurf der Heuchelei auf und richtet ihn gegen nahezu die gesamte radikale Linke der 68er- und Post-68er-Jahre – bis hin zu jenen, die sich heute in Amt und Würden befinden. Es bleibt fraglich, ob diese Art der Betrachtung den linken Selbstzerfleischungsprozessen der 1970er-Jahre nicht eher ein weiteres Kapitel hinzufügt.

Eine Rehabilitationsschrift für Teile der Linken bieten der Rechtsanwalt Hellmut Brunn und der Journalist Thomas Kirn. Bereits 1974 strahlte der NDR eine Sendung mit dem Titel „Rechtsanwälte – Linksanwälte“ aus6, die auf heftige Kritik stieß. Die Autoren des gleichnamigen Bandes treten durch ausgewählte Beispiele von annähernd 300 als „Linksanwälte“ eingestuften Juristen den Beweis an, dass diese Anwälte einer bereits damals kritisierten Hexenjagd ausgesetzt waren. Neben Otto Schily und Christian Ströbele zählen hier Kurt Groenewold, Siegfried Haag, Klaus Croissant und Rupert von Plottnitz zu den wichtigsten politischen Anwälten. Aus deren Sicht werfen Brunn und Kirn Schlaglichter auf das „Rote Jahrzehnt“, wobei sie eine wissenschaftliche Untersuchung explizit vermeiden. Das Buch soll vielmehr die schwierige und undankbare Position der gegen alle Widrigkeiten um den Rechtsstaat bemühten Anwälte darlegen. Schließlich sahen sich die Verteidiger in Stammheim „nicht nur letztlich ungerechtfertigtem Misstrauen ausgesetzt, sondern auch vielfältigem Druck von Seiten der Mandanten“ (S. 66).

Zu jeder Behauptung und Hypothese rund um die RAF nimmt das Buch aus der Linksanwalt-Perspektive Stellung, rollt Gerichtsurteile noch einmal auf (S. 95) und rechnet mit der damaligen Justiz ab, die es bis zum Auftritt der Linksanwälte versäumt habe, „fanatische Nazi-Staatsanwälte oder ihre Richterkollegen, die für ungezählte Justizmorde verantwortlich waren, ihrer Bestrafung zuzuführen“ (S. 118). Obendrein warf ihnen „die Justiz“ Prozessverschleppung, „die Mandantenschaft Obrigkeitsgläubigkeit und das Publikum Komplizenschaft“ vor (S. 133). Die Gefahr der kriminellen Instrumentalisierung wurde aber ebenso gebannt wie die unmittelbare Existenzbedrohung vieler Verteidiger in der „bleiernen Zeit“. Zu Beginn der 1980er-Jahre lösten sich die Fronten auf, wofür der 5. Strafverteidigertag als Grund angefügt wird. So erfrischend ein Perspektivwechsel in der RAF-Literatur wirkt, so sehr wird die gesellschaftliche, politische und gerichtliche Rolle der Linksanwälte überstrapaziert. Die gravierenden Veränderungen in der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz werden nahezu ausschließlich auf das politische Engagement dieser Anwälte zurückgeführt. Das schmälert den Erkenntnisgewinn dieses Bandes für die Geschichte der 1970er-Jahre leider erheblich.

Alexander Straßner wagt den Schritt in die 1980er und 1990er-Jahre. Seine Studie über die „dritte Generation“ der RAF ist als politikwissenschaftliche Dissertation an der Universität Regensburg entstanden und versteht sich als Beitrag zur Extremismusforschung. Ziel der Arbeit ist es, den Zerfallsprozess einer terroristischen Organisation idealtypisch darzustellen und die bestimmenden Muster zu analysieren. Seine Hypothese leitet Straßner aus strukturellen Mängeln terroristischer Gruppen ab, die ihre Ziele weder erreichen könnten noch dauerhaft überlebensfähig seien, „da sie die Anforderungen an ihre Eigenschaft als soziale Systeme nicht zu erfüllen vermögen“ (S. 62). Folgerichtig bedient sich Straßner systemtheoretischer Prämissen, um diese Hypothese zu verifizieren und dabei explizit auf die Wechselwirkungen zwischen dem sozialen System RAF und seiner Umwelt einzugehen. Er greift auf Gespräche mit Experten vom Bundeskriminalamt, dem Bundesamt für Verfassungsschutz und Angehörigen der Länderpolizeien zurück, aber auch auf Analysen von Bekennerschreiben. Seine argumentative Linie verläuft überzeugend von den Analysen der einzelnen Akteure in den RAF-Kommandos zum Dilemma der auf eindimensionaler Wahrnehmung beruhenden Interpretation der politisch-gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wirklichkeit. Durch den polizeilichen Fahndungsdruck und die Isolation auch von einem vorher existierenden Unterstützerfeld entwickelte sich die Gruppe zu einer klandestinen Organisation, die die Bedürfnisse und Integrationsnotwendigkeiten eines sozialen Systems durch die völlige Exklusion aus gesellschaftlichen Zusammenhängen nicht erfüllen konnte. Dies lief nach Straßner zwangsläufig auf eine Auflösung der terroristischen Organisation hinaus.

Die Schlussfolgerungen sind überzeugend, haben aber einige Schönheitsfehler, da die konsequente Anwendung systemtheoretischer Prämissen durch die Integration der Akteursebene aufgeweicht wird. Die Zugehörigkeit zur dritten Generation der RAF ist für viele der genannten Personen kaum nachweisbar und kann daher eigentlich nicht als Argumentationsfundament dienen. Dass die dritte Generation den Zuspruch in ihrem Umfeld erst im Laufe ihrer weiteren, als Professionalisierung interpretierbaren Radikalisierung in den 1980er-Jahren verloren habe, ist ebenso wenig haltbar wie der für diesen Zeitraum behauptete Wandel von einer Gruppe mit ideologischer Zielrichtung zu einer Häftlingsbefreiungsorganisation. Diese Schritte hatte die RAF bereits in den 1970er-Jahren vollzogen, wobei die Relevanz der ideologischen Motivation selbst für den Beginn ihrer Aktionen nach wie vor überbewertet wird. Trotz dieser Einwände basiert die Arbeit auf einer vorbildlichen Erschließung und Analyse der Quellen. Für die Erforschung der (genauer zu bestimmenden) dritten Generation ist Straßners Werk ein Meilenstein.

In einer Sammelrezension zum Phänomen RAF dürfen Beiträge ehemaliger Aktivisten nicht fehlen. Astrid Proll hat einen runderneuerten Erlebnisbildband zusammengestellt, den sie „Hans und Grete“ widmet.7 Die „Tarnnamen“ für Andreas Baader und Gudrun Ensslin symbolisieren Prolls enge Verbundenheit, die sie trotz der frühen Abkehr von der RAF weiterhin verspürt. So reiht sich der Bildband in die lange Reihe der Bewältigungsliteratur ein. Proll bietet romantische Reminiszenzen an eine „wilde Jugend“ und erkennt doch, dass die RAF kaum mehr war als eine „Befreit-Baader-Fraktion“ (S. 11). Der obligatorische Faschismusvorwurf ist in der Beschreibung Ensslins während der Untersuchungshaft zu bewundern: „In Kittel und Sandalen erscheint Gudrun wie ein dressiertes Kind in einem Nazi-Heim.“ (S. 15) Zuletzt wird noch ein Vergleich mit Al Quaida angeführt, der zeigen soll, wie harmlos die RAF und ihre Helden doch eigentlich gewesen seien. Die Fotografien sind chronologisch angeordnet, wobei der Prolog den Titelhelden gewidmet ist. Über diesen Bestand hinaus sind die abgebildeten Fotos bekannt. Ein gewisses Maß an distanzierter Reflexion wäre für die Autorin und den interessierten Leser von Vorteil gewesen. Als Quellenfundus für die mediale Fremd- und Selbstinszenierung der ersten Generation der RAF ist die Fotosammlung aber brauchbar.

Schließlich möchten Christiane und Gottfried Ensslin ihre Schwester Gudrun selbst zu Wort kommen lassen. Deren Briefe aus der Untersuchungshaft von der Inhaftierung am 7. Juni 1972 bis zum 21. November 1973 sind von beiden als Ergänzung zur Ausstellung in Berlin herausgegeben worden. Im Anhang zu den Briefen finden sich die für den familiären Kontakt zentralen Gerichtsurteile und einige Fotos aus der Vita Gudrun Ensslins. Die Kommentare zu den einzelnen Briefen sind sehr ausführlich, pflegen indes weiterhin die politische Argumentation Ensslins. Die Briefe ermöglichen einen tiefen Einblick in die zum Hass gesteigerte Abneigung aller Bürgerlichkeit und die sich im Laufe eines Jahres, nicht zuletzt durch die Haft, verstärkende Neigung zu Verschwörungstheorien. Das BGH-Urteil zur formalen Überwachung des Schrift- und Besucherverkehrs ist Orientierungs- und Kernpunkt aller Kritik der Geschwister. Die Zielsetzung des Urteils, die Untersuchungsgefangene mit dieser Maßnahme „auf die Familie zurückzuwerfen“ (S. 7) und so zu resozialisieren, deuten die Herausgeber wie seinerzeit ihre Schwester als repressive Zwangsmaßnahme und offensichtliche Schwäche der demokratischen Fundamente in der Bundesrepublik (S. 11). Auch wenn hier Denkprozesse der führenden RAF-Terroristin zum Vorschein kommen – in einer Phase, die noch nicht von Hungerstreik und Strafprozess gekennzeichnet war –, bleiben die Briefe Agitation der Geschwister. Die Taten und die Opfer finden keinerlei Erwähnung.

Die Bücher zur RAF umfassen Beteiligtenliteratur, Ereignisdarstellungen und erste analytische Ansätze, die noch immer an den Arbeiten Peter Waldmanns und den „Analysen zum Terrorismus“ gemessen werden müssen. Zumeist kommen die neueren Publikationen nicht darüber hinaus. Erfreulich ist vor allem Straßners Versuch, systemtheoretisch ein wenig Licht in das Dunkel der dritten Generation zu bringen. Der Schritt von der Ursachenforschung hin zu den Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlicher Realität und klandestiner Gruppe ist auch für die aktuelle Extremismusforschung ungeheuer wichtig, um die möglichen Zerfallsparameter terroristischer Organisationen zu beleuchten. Der Perspektivwechsel von Brunn und Kirn auf die Sicht der juristischen Akteursgruppe „Linksanwälte“ bei der Auseinandersetzung zwischen der RAF und dem politischen Gemeinwesen der Bundesrepublik Deutschland verschafft ebenfalls neue Erkenntnisse, ist aber zu stark von einer Opfermentalität geprägt.

Es bleiben genügend Forschungsdesiderata, zumal die staatlichen und parteiinternen Akten selbst für die 1970er-Jahre noch nicht vollständig zugänglich sind. Klaus Weinhauer hat bereits für eine „Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit“ plädiert.8 Diese zu schreiben wäre eine große Herausforderung: Man müsste den internationalen Strukturwandel in Politik und Gesellschaft der 1960er-Jahre in Rechnung stellen, anstatt ihn auf die Chiffre „1968“ und die Studentenbewegung zu reduzieren. Auf diesem Weg wäre es möglich, sich den Veränderungen im Territorialstaat der 1970er-Jahre in internationaler Perspektive zu nähern sowie die Entstehung von und Auseinandersetzung mit Gewaltkriminalität in den westlichen Staaten entsprechend einzuordnen. Nach der Frage, wie Gewaltkriminalität entstehen konnte, sollte man sich verstärkt der Frage zuwenden, weshalb sie in dem einen oder anderen Staat zu solch großer Bedeutung gelangt ist. Zudem müssen größere zeitliche Längsschnitte durch das 20. Jahrhundert gezogen werden, um die Besonderheiten der 1970er-Jahre herauspräparieren zu können. Das Verhältnis des Staats zu Wirtschaft und Gesellschaft wäre eine zentrale Achse, an der sich die zeithistorische Forschung orientieren könnte. Die Auseinandersetzung mit der RAF ist also noch immer nicht beendet; für die Geschichtswissenschaft beginnt sie eigentlich erst jetzt.

Anmerkungen:
1 Bundesministerium des Innern (Hg.), Analysen zum Terrorismus, 4 Bde., Bonn 1981-1984.
2 Waldmann, Peter, Beruf: Terrorist. Lebensläufe im Untergrund, München 1993; Ders., Terrorismus. Provokation der Macht, München 1998.
3 Langguth, Gerd, Mythos ‘68, Bonn 2001.
4 Wieland, Karin, Deutsche Dandys, in: Kursbuch 127 (1997), S. 45-58.
5 Becker, Jillian, Hitler’s children. The story of the Baader-Meinhof terrorist gang, London 1977.
6 Bundesarchiv Koblenz, Bundesministerium der Justiz B 141/48332, Bl. 17f.
7 Erweiterte Neuausgabe von Proll, Astrid (Hg.), Hans und Grete. Die RAF 67-77, Göttingen 1998.
8 Weinhauer, Klaus, Terrorismus in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre. Aspekte einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 219-242, online unter URL: <http://www.zeitgeschichte-online.de/zol/_rainbow/documents/pdf/raf/weinhauer_as.pdf>.

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