O. Asbach: Staat und Politik zwischen Absolutismus und Aufklärung

Titel
Staat und Politik zwischen Absolutismus und Aufklärung. Der Abbé de Saint-Pierre und die Herausbildung der französischen Aufklärung bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts


Autor(en)
Asbach, Olaf
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simone Zurbuchen, Département de Philosophie, Université de Fribourg

Der Abbé de St. Pierre ist als Autor des „Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe“ (1713/17) berühmt geworden. Sein Vorschlag, den Kriegszustand zwischen den europäischen Staaten durch die Errichtung einer „union Européenne“ definitiv zu beenden, wurde bereits von seinen Zeitgenossen als „Chimäre“ bezeichnet und gilt bis heute als unrealistischer, ja widersprüchlicher Versuch, absolutistischen Monarchen von der Notwendigkeit zu überzeugen, ihre äußere Souveränität durch die Errichtung eines gemeinsamen Schiedsgerichts zu beschränken. Diese Beurteilung des Friedensprojekts ist stark durch Rousseau geprägt, der die komplexe Argumentation St. Pierres in einem „Extrait“ zusammenfasste und kritisch kommentierte. Da Rousseau (wie später Kant) die Überwindung des Absolutismus und damit die Errichtung einer republikanischen Verfassung als notwendige Bedingung einer internationalen Rechts- und Friedensordnung betrachtete, verstellt seine Kritik allerdings den Blick auf das Reformpotential, das St. Pierre der französischen Monarchie seiner Zeit nicht ohne gute Gründe zuschrieb. Mit seiner Studie „Die Zähmung der Leviathane. Die Idee einer Rechtsordnung zwischen Staaten bei Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseau“ (Berlin: Akademie Verlag 2002) schuf Olaf Asbach die Grundlage für eine Neubewertung des Friedensprojekts, indem er nachwies, dass dieses als Teil eines umfassenden, auch auf die Innenpolitik gerichteten Plans zur Reform der französischen Monarchie gesehen werden muss, den St. Pierre in enger Bezugnahme auf die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen seiner Zeit entwickelte.

Die vorliegende Untersuchung knüpft insofern an die frühere Studie an, als Asbach die intellektuelle Biografie von Abbé de Saint-Pierre zum Leitfaden einer Untersuchung der Transformationsprozesse macht, die sich in Frankreich seit dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts abzeichneten und für die Herausbildung der Aufklärung konstitutiv waren. Dieses Vorgehen rechtfertigt sich dadurch, dass St. Pierre (1658-1753) über eine außerordentlich lange Zeitspanne hinweg intellektuell aktiv war und dass sich an seinem Beispiel exemplarisch darstellen lässt, wie sich gesellschaftlich-politische Wirklichkeit auf der einen, Ideen und Praxisformen der Aufklärung auf der anderen Seite wechselseitig bedingten. Mit seiner multidisziplinären, auf der Synthese von Ideen- und Gesellschaftsgeschichte beruhenden Untersuchung zielt Asbach darauf ab, die langfristigen Entwicklungstendenzen und Umbrüche zu identifizieren, die sich in der Periode vom späten 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts vollzogen, ohne sich jedoch einer teleologischen Rekonstruktion zu verschreiben, die das politische Denken der frühen Aufklärung im Horizont des revolutionären Umbruchs von 1789 interpretieren würde. Als Resultat liegt eine innovative Studie über das spannungsreiche Verhältnis zwischen Absolutismus und Aufklärung vor, die den Reformoptimismus eines St. Pierre erklärt, gleichzeitig aber die Grenzen der Wandlungsfähigkeit des Ancien Régime aufzeigt.

Das Buch ist chronologisch strukturiert. Ein erster Teil (Kap. II-IV) erstreckt sich von den Anfängen bis zur Krise des Absolutismus unter Ludwig XIV. Kap. II konzentriert sich auf den grundlegenden Widerspruch, der sich in der Durchsetzung und Konsolidierung absolutistischer Herrschaft abzeichnete: So bedeuteten die Maßnahmen zur Vereinheitlichung des Rechts sowie die Reorganisation der Verwaltung zwar einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Überwindung der feudalen Sozial- und Herrschaftsordnung; zugleich unterstand das neue System der staatlichen Organisation aber der Logik der Steigerung monarchischer Macht, der die Interessen der Gesellschaft untergeordnet blieben. Dies zeigte sich am deutlichsten in der auf Eroberung und militärische Hegemonie zielenden Außenpolitik, die Frankreich an den Rand des finanziellen und ökonomischen Ruins brachte. Die Kriegspolitik entwickelte sich denn auch zu einem wichtigen Ansatzpunkt für die aufklärerische Kritik am System des Ancien Régime. Während Asbach im III. Kap., das die systematische Förderung von Wissenschaften und Künsten (u.a. Gründung von Akademien und Zeitschriften) thematisiert, die ‚Modernität’ des absolutistischen Herrschaftsausübung erläutert, zeichnet er im IV. Kapitel die Wendung ins Politische nach, die frühe Aufklärer wie St. Pierre vollzogen. Diesen grenzt er ab gegen den Kreis von Oppositionellen im Umfeld des Herzogs von Burgund (Enkel und mutmaßlicher Thronfolger Ludwigs XIV.), zu dem etwa Fénelon und Saint-Simon gehörten. Diese seien weder – wie manchmal behauptet wurde – Repräsentanten einer einheitlichen Bewegung noch ließen sie sich der Aufklärung zurechnen. Es handle sich bei „Burgundy circle“ vielmehr um eine „aristokratische“ Opposition, die nicht auf die Herstellung einer Gegenöffentlichkeit, sondern auf die Wiederherstellung der alten Ordnung zielte.

Das zentrale V. Kapitel ist dem Wandel von Politik und politischer Kultur in der Zeit der Regentschaft Philipp d’Orléans’ (1715-1723) gewidmet, die sich für die Herausbildung und weitere Entwicklung der französischen Aufklärung als entscheidend erweisen sollte. Asbach beschreibt zunächst die außerordentliche Öffnung des politischen Systems, die sich in der Einrichtung eines neuen Regierungssystems (System der Räte oder Polysynodie), der Reform der Wirtschafts- und Finanzpolitik (Steuerreform, Laws Projekt zur Sanierung der Staatsfinanzen) sowie der Neuorientierung der Außenpolitik (europäische Kooperation und Gleichgewichtspolitik) abzeichnete. Vor diesem Hintergrund wird der Reformoptimismus nachvollziehbar, der in den Projekten des Abbé de St. Pierre exemplarisch zum Ausdruck kommt. Neben dem „Projet de paix“, mit dem er auf die Friedensverhandlungen in Utrecht einzuwirken versuchte, sind in diesem Zusammenhang vor allem sein Vorschlag zu einer Steuerreform (Einführung einer taille proportionnelle) sowie die „Polysynodie“ zu erwähnen, mit der er sich für den Erhalt und die Weiterführung des Systems der Räte einsetzte, als dieses bereits wieder vor der Abschaffung stand. Während der Duc d’Orléans die Polysynodie eingerichtet hatte, um die Macht der Zentralgewalt durch die partielle Einbeziehung oppositioneller Gruppen wie des Hochadels abzusichern, zielte St. Pierres Vorschlag auf eine grundsätzliche Umgestaltung des Regierungssystems im Sinne einer beschränkten Monarchie. So sollten die Räte seiner Auffassung nach Institutionen darstellen, „die den Prozess der Entscheidungsfindung durch ein System der Qualifikation, der wechselseitigen Kontrolle, der Anreize und der Ämterrotation entpersonalisieren, objektivieren und rationalisieren“ (S. 148).

Da St. Pierre in der Schrift über die Polysynodie mit einer scharfen Kritik am Absolutismus Ludwigs XIV. hervortrat, geriet er immer stärker ins Kreuzfeuer der Kritik. Die Abhandlung wurde vom Regenten verboten, und St. Pierre wurde mit dem Vorwurf, er habe das Ansehen des verstorbenen Königs herabgesetzt, aus der Académie française ausgeschlossen, in der er seit 1695 Mitglied war. Wie Asbach überzeugend nachweist, sind diese Maßnahmen jedoch nicht dem Regenten, sondern vielmehr dessen Gegnern anzulasten, welche die Eröffnung eines Raumes der politischen Debatte und Kritik dazu benutzten, den eingeleiteten Reformprozess zu konterkarieren. Daraus erklärt sich die „autoritäre Wende“ der Régence, die in der Abschaffung der Polysynodie sowie in der Beschränkung der Mitwirkungsrechte des Parlement greifbar wird, dem der Regent bei seiner Einsetzung noch das Remonstrationsrecht zurückgegeben hatte. Dabei handelte es sich jedoch nicht um eine „reaktionäre“ Wende, sondern eher um einen „technokratischen Putsch“, der den Zweck hatte, die anvisierten Reformen gegen den Widerstand oppositioneller Gruppen wie des Hochadels und der Parlementaires fortzuführen und durchzusetzen (S. 176).

Der Widerspruch zwischen zentralistisch organisierter Reformpolitik (im Bereich der Steuer- und Wirtschaftspolitik, aber auch im Hinblick auf eine einheitliche Rechtsordnung) und der anti-absolutistischen Opposition von Parlementaires und Jansenisten, die eher gegen ihren Willen zur Diskreditierung der Monarchie beitrugen, ist das zentrale Thema des VI. Kapitels, das die ersten beiden Jahrzehnte unter Ludwig XV. behandelt, als der Duc de Bourbon und ab 1726 Kardinal de Fleury die Staatsgeschäfte leiteten. Im Zusammenhang der Auseinandersetzungen um die „Bulle Unigenitus“ betont Asbach die Distanz zwischen Jansenisten und Parlementaires auf der einen, Aufklärern wie St. Pierre, Fontenelle und Voltaire auf der anderen Seite. Letztere stellten sich in diesem Konflikt auf die Seite der in der Person des Königs verkörperten zentralstaatlichen Institutionen und betrachteten das Parlement als Institution, die vor allem um den Erhalt ihrer Standesprivilegien rang und sowohl die Einführung eines egalitären Steuersystems als auch einer tief greifenden Finanzreform stets zu verhindern suchte.

Diese Übereinstimmung zwischen rationalistischen Aufklärern und monarchischer Staatsgewalt war jedoch nur temporär und in Teilbereichen gegeben. Die Aufklärung etablierte sich als eigenständige geistige und soziale Bewegung, indem sie sukzessive neuartige Formen einer kritisch räsonierenden Öffentlichkeit schuf, die Asbach im abschließenden VII. Kapitel beschreibt. Seine Darstellung der Rolle von Druckmedien, der Geschichte und Praxis der Zensur sowie der Institutionen aufgeklärter Soziabilität (Cafés, Clubs, Salons) fasst die Resultate einer vielfach bearbeiteten Thematik zusammen. Sie zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass hier der Bogen zu den in den vorangehenden Kapiteln aufgewiesenen Anfängen einer kritischen Öffentlichkeit geschlagen wird, die sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in kleinen Zirkeln formierte und sich dank der Öffnung in der Zeit Régence weiter entwickeln konnte. Die Betonung der vielfältigen Bezüge zwischen aufklärerischer Kritik und absolutistischer Reformpolitik mündet in die Bestätigung der bereits von Tocqueville und anderen formulierten These, dass die Revolution „weniger Neuerin als Erbin und Vollenderin von politisch-institutionellen und sozialen Entwicklungen und Errungenschaften des Ancien Régime“ war (S. 289). Für diese These legt Asbach am Leitfaden der intellektuellen Biografie St. Pierres in einer sorgfältig recherchierten und gut belegten Analyse eine substantielle Begründung vor. Aufgrund der Fülle des Materials, das in einer konsequente Gedankenführung verarbeitet ist, stellt seine Untersuchung für die weitere Beschäftigung mit dem politischen Denken in der französischen Frühaufklärung, aber auch für die Diskussion um den aufgeklärten Absolutismus bzw. Reformabsolutismus eine unverzichtbare Grundlage dar.

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