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Titel
Hörstürze. Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Gess, Nicola; Schreiner, Florian; Schulz, Manuela K.
Erschienen
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Gerrit Papenburg

Allzu provokant ist die Beschreibung der abendländischen Kultur als eine visuell dominierte sicherlich nicht. Jedoch gibt es immer wieder wissenschaftliche Versuche, die abendländische Kulturgeschichte abzuhören, ohne dabei gleich ins Feld der so genannten Kunstmusik überzulaufen. Gegenstand solcher Untersuchungen sind dann etwa die Stimme, Klanglandschaften oder eine Geschichte des Klangs.1 Die Aufsatzsammlung „Hörstürze – Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert“ versammelt Texte, die einer Dominanz des Sehsinns widerstehen. Die HerausgeberInnen stellen in ihrer Einleitung eine „willkürliche Trennung und Hierarchisierung der Sinne“ (S. 7) im Abendland fest und wollen diese über ihre Aufsatzsammlung hinterfragen, indem technische und künstlerische Codierungen von – häufig unbewusst wirksamer – akustischer Gewalt behandelt werden. Durch die Beschränkung auf elektroakustische Medien wird akustische Gewalt im Band konkretisiert, historisiert und handhabbar gemacht. Der gewählte Fokus auf Akustik erweist sich für die angestrebte transdisziplinäre Sammlung von Beiträgen als geeignet, eben weil in der Akustik verschiedenste, disziplinär gebundene klangliche Phänomene, wie etwa gesprochene Sprache oder schöne Musik, ihre Bedingung und Grenze finden.

Die in der Einleitung vertretene These, dass durch die Technisierung im 20. Jahrhundert das Gewaltpotential der Akustik ausgeschöpft worden sei, stützen die Beiträge in unterschiedlicher Form. Der Band ist in zwei Teile gegliedert, vorangestellt ist ein Prolog von Friedrich Kittler. Thema des ersten Teils ist die „akustische Schaffung und Besetzung von virtuellen Räumen“ (S. 8), mit Aufsätzen von Helmut Lethen, Inge Marszolek, Andres Bosshard, Anthony Enns und Susanne Baer. Thema des zweiten Teils sind „Strategien akustischer Gewaltdarstellung und Gewaltausübung“ (S. 9) in künstlerischen Medien, mit Aufsätzen von Lutz Koepnick, Claudia Benthien, Dörte Schmidt, Wolfgang Hagen und Bernd Blaschke. Die beiden Oberthemen bilden dabei jeweils nur eine lose Klammer für die recht heterogenen Aufsätze. Eine dem Band beigegebene CD-ROM illustriert einige der in den Beiträgen untersuchten Phänomene.

Friedrich Kittlers Prolog ist ein wilder Rundumschlag, der einen Überblick über Rückkopplungs-, Resonanz- und Echophänomene von Odysseus bis zur Popmusik der 1970er-Jahre beinhaltet. Kittler thematisiert auch die Erfindung der Elektronenröhre, die die für den Band grundlegende Elektroakustik und damit die Verstärkung von Signalen ermöglichte.

Andres Bosshard kritisiert, dass die akustische Dimension der modernen Großstadt verwahrlost sei und bloß Lärmschutzämter für den Klang der Stadt zuständig seien. Diese interessiere Ruhe im privaten Raum und nicht – wie es Bosshardt fordert – die Entwicklung eines differenzierten Raumklangs, der den Stadtraum als Klangraum erfahrbar mache. Dabei geht es Bosshardt ums Ganze: um das gemeinsame Entfalten der „Klangsphäre unserer Städte“, ja sogar um die „Klangstadt der Zukunft“ (S. 85). Bosshardt setzt dabei sehr holzschnittartig das Öffentliche gegen das Private, ohne etwa zu beachten, dass moderne Medientechnik (z.B. der iPod) komplexere Phänomene wie privates Hören im öffentlichen Raum ermöglicht.

Susanne Baer untersucht drei Formen akustischer Gewalt: den Eingriff in die Privatsphäre (Abhören), die erzwungene Auskunft (Zuhören) und die Belästigung (Mithören). Die Rechtswissenschaftlerin sieht weniger den Lauschangriff als gegenwärtiges Problem, sondern das erzwungene Mithören (z.B. von Handy-Gesprächen). Eine dramatische Geschichte des Telefons erzählt Anthony Enns und zeigt damit indirekt auch, dass das Mithören als Form akustischer Gewalt eine sehr temperierte, milde Form von Gewalt ist. Er deckt in der Entwicklungsgeschichte des Telefons verstümmelte Körper auf (z.B. verbaute Alexander Graham Bell in einer Vorform des Telefons ein Leichenohr) und erläutert, warum das Telefon in seinen Pionierjahren in die Nähe von Telepathie und Spiritismus gerückt wurde (da durch das Telefon Laute und Töne z. B. auch in Abwesenheit lebendiger Körper gehört werden können).

In Inge Marszoleks Beitrag sucht man einen direkten Zusammenhang von Akustik und Gewalt vergebens. Marszolek thematisiert, wie die medienpolitischen Diskurse der 1920er und der NS-Propaganda der 1930er und 1940er-Jahre um das Radio einen idealen Nutzer zu konstruieren versuchten. Eine solche Konstruktion schließe aber keineswegs, so Marszolek, die subversive Nutzung des Radios aus. Dennoch sei es den Nazis durch in scheinbar unpolitische Unterhaltung eingebettete Propagandastimmen gelungen, die Hörergemeinschaft als nationalsozialistische Gemeinschaft zu inszenieren. Eine genauere Bestimmung der Gewalt, die der Volksempfänger, dieses erfolgreiche Machtmittel der Nazis auf die Hörer ausübte, fehlt in Marszoleks Beitrag. Gewalt, Macht und Herrschaft werden nicht weiter unterschieden.

Wolfgang Hagen stellt in seinem Beitrag die These auf, dass die Welt, die uns die Medien zeigen, nie real werde. „Bestenfalls kann man sie hören. Aber gerade da entgeht uns das Wesentliche. Alles andere wäre – ein Hörsturz“. (S. 200) Leider geht Hagen auf den letzten – im Hinblick auf den Zusammenhang von Akustik und Gewalt interessanten – Teil seiner These nicht weiter ein. Die These, dass Medien die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern eine eigene Welt hervorbringen, veranschaulicht Hagen anhand eines langen, eleganten, die Stationen „modernen“ Spiritismus und abstrakter Malerei ablaufenden Exkurses zu Walter Ruttmanns Hörcollage „WEEKEND“ (1930). Warum jedoch ein Medium, das „jede Art von Ontologie [...] durchstreicht“ (S. 200), vor einem Hörsturz verschonen soll, bleibt unklar.

Andere Beiträge benennen die von ihnen verwendeten Gewaltbegriffe genauer. So etwa Lutz Koepnick in seiner Analyse der Tonspur des zeitgenössischen Actionkinos. Koepnick behauptet in Abgrenzung zum Gesamtkunstwerk im Sinne Richard Wagners und zum klassischen Erzählkino, dass „wir Tonspuren gerade dann als gewalttätig wahr[nehmen], wenn sie die Einheit von Bildern und Klängen aufkündigen“ (S. 137). Auch Claudia Benthien thematisiert in ihrem Beitrag – neben Theater und Konzeptkunst – das künstlerische Medium Film. Sie untersucht mit dem Entzug des Akustischen in Ingmar Bergmanns „Das Schweigen“ (1962) eine weitere Form von akustischer Gewalt.

Dörte Schmidt widmet sich vor allem der Darstellung und Ausübung von akustischer Gewalt in den Klängen der Neuen Musik seit 1960. Diese denkt Schmidt zusammen mit einer Krise der Repräsentation, die einen viel beschworenen Abschied vom Kunstwerk bedeute und durch Ereignishaftigkeit bzw. die Inszenierung realer Geschehnisse (z.B. Schreie, Musikinstrumentenzerstörungen und extreme Lautstärke) geprägt sei.

Bernd Blaschke stellt gleich zu Anfang seines Beitrags, in dem er eine Reihe von durch akustische Gewalt geprägte Motive in Salman Rushdies Romanen untersucht, klar, dass in seinem Aufsatz die Inszenierung von Gewalt in Romanen und nicht die Ausübung von Gewalt durch Romane im Mittelpunkt stehe. So kann am Ende ein „pazifistischer Vorzug des Buchmediums“ gelobt werden, der darin bestehe, „dass man Bücher, wenn sie einen verletzen, einfach zuklappen kann“ (S. 217). Damit nimmt Blaschke sich einer akustischen Gewalt an, die nichts mehr mit Akustik zu tun hat – das pazifistische Buchmedium bringt die Akustik zum Schweigen und setzt auf die stille Einbildungskraft des Lesers. Im Gegensatz zu Blaschke wagt sich Helmut Lethen an die Grenzen des symbolischen Textarchivs, indem er in Bezug auf die gestaltlosen und traumatisierenden Geräusche des Ersten Weltkriegs darauf hinweist, dass solche Geräusche schwer „schreibbar“ seien.

Das Spektrum der Konkretisierungen des Zusammenhangs von Akustik und Gewalt, die in dem Band untersucht werden, ist bemerkenswert. Diese Vielfältigkeit führt allerdings dazu, dass der Auswahl der Beiträge eine gewisse Willkür innewohnt. Warum beispielsweise die durch überlaute Anlagen beschallten Massen der Rock- oder Technokultur im Band nur stereotyp Erwähnung finden und extreme Lautstärke erst bei den „Donaueschinger Musiktagen“ einem ernsten Publikum vorgeführt werden muss, um akademisch unter dem Label „Neue Musik“ bedacht werden zu können (so geschehen im Beitrag Dörte Schmidts), bleibt unklar. Des Weiteren greifen einzelne Beiträge auf einen sehr allgemeinen, bisweilen übersensiblen Gewaltbegriff zurück. Eine schärfere Unterscheidung von Herrschaft, Macht und Gewalt hätte hier eventuell weiterhelfen können. Insgesamt ist jedoch der überaus originelle Ansatz des Bandes zu betonen, der der Diskussion um die „Gewalt der Bilder“ Untersuchungen vielfältiger Formen akustischer Gewalt entgegensetzt und somit Grenzen einer Kultur des Sehens aufzeigt.

1 Zur Stimme vgl.: Kittler, Friedrich; Macho, Thomas; Weigel, Sigrid (Hrsg.), Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin 2002; zur Klanglandschaft vgl.: Picker, John M., Victorian Soundscapes, Oxford 2003 und zur Geschichte des Klangs: Sterne, Jonathan, The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham 2003.

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