A. Oettler: Erinnerungsarbeit und Vergangenheitspolitik in Guatemala

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Titel
Erinnerungsarbeit und Vergangenheitspolitik in Guatemala.


Autor(en)
Oettler, Anika
Reihe
Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde 60
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Vervuert/Iberoamericana
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Berthold Molden, Ludwig Boltzmann Institute for European History and Public Spheres, Wien

„¡Nunca más!“ – „Niemals wieder!“ – lautete jene Forderung, die seit den 1980er-Jahren aus vielen Ländern Lateinamerikas zu hören war. Niemals sollten sich die systematischen Menschenrechtsverbrechen überwundener Repressionsregime wiederholen können. „¡Nunca más!“ fand sich auch in den Titeln der Berichte von Wahrheitskommissionen oder ähnlichen historischen Aufklärungsprojekten in Argentinien (1984), Brasilien (1985), Uruguay (1992) und Guatemala (1998) wieder. Auch in anderen Ländern wie Chile und El Salvador, wo die entsprechenden Untersuchungskommissionen ihren Endberichten (letztlich) andere Titel gegeben oder diese gar nicht abgeliefert hatten (Bolivien), war der Satz „Nunca más!“ präsent. Unzählige Plakate, Artikel, Konferenzen und Bücher benutzten die imperative Wendung. Dieses Postulat ging über eine rein politische Forderung hinaus. Es war vielmehr auch Ausdruck einer Hoffnung: Die Wiederholung solcher Verbrechen in der Zukunft sollte dadurch verhindert oder zumindest unwahrscheinlicher gemacht werden, dass die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit dokumentiert und aufgearbeitet würden. Die Fähigkeit einer Gesellschaft, die schrecklichsten Passagen ihrer Geschichte umfassend darzustellen und über sie zu debattieren, wurde nicht nur als unentbehrliche Voraussetzung einer echten Demokratisierung verstanden. Der emphatische Protestruf der Opfer sollte auch als eine Art konstruktiven Schlussstrichs die etwaige Wiederkehr des Terrors nachhaltig verhindern.

Auch der guatemaltekischen Nachkriegsgesellschaft bescherte das Ende der 1990er-Jahre zwei umfassende, vor allem auf Zeugen/innenaussagen basierende Berichte über die Verbrechen der Militärherrschaft, die in Guatemala zu einem 36jährigen Bürgerkrieg geführt hatte. Am 24.4.1998 präsentierte das Menschenrechtsbüro des Erzbistums Guatemala, ODHAG, den vierbändigen Endbericht des mehrjährigen Oral History-Projektes „Recuperación de la Memoria Histórica“ (REMHI), mit dem Titel „Guatemala: Nunca Más“.1 Am 25.2.1999 übergab die internationale, gewissermaßen offizielle Kommission zur Historischen Aufklärung, die „Comision para el Esclarecimiento Histórico“ (CEH), den Abgesandten der guatemaltekischen Regierung, der ehemaligen Guerilla und der UNO als Unterzeichnenden der Friedensverträge ihren zwölfbändigen Bericht „Guatemala – Memoria del Silencio“.2 Beide Dokumente entstanden aus den Bemühungen um eine Versöhnung der verschiedenen Gruppen der Kriegsgeneration. Wie es einem Prozess der Durcharbeitung von traumatisierendem Vergangenen notwendigerweise entspricht, führten sie aufgrund ihrer expliziten, vor allem die staatlichen Akteure/innen verantwortlich machenden Geschichtsinterpretation zu schmerzlichen, oft harten Kontroversen. Jene, die mit Versöhnung die verantwortungsethische Vorstellung von einem punto final verbanden, fühlten sich vor den Kopf gestoßen und fürchteten um die erreichten Straffreiheitsgarantien, die zum Teil in den Phasen des Übergangs gegeben worden waren.

Das Hamburger Institut für Iberoamerika-Kunde (IIK) hat 2004 die Dissertation der Soziologin Anika Oettler veröffentlicht, die sich eingehend mit der Bedeutung beider Untersuchungskommissionen für die guatemaltekische Vergangenheitspolitik beschäftigt. Damit liegt der deutschsprachigen Gedächtnisforschung endlich eine profunde Fallstudie zur Wirkungsweise der Wahrheitskommissionen vor. Neben dem am intensivsten untersuchten Fall Südafrikas, neben anderen Kommissionen in Afrika und Asien sowie ab Mitte der 1990er-Jahre auch in Europa entfalteten Aktivitäten wurden die Wahrheitskommissionen vor allem in Lateinamerika zu einem der wesentlichsten Instrumente transitorischer Auseinandersetzung mit den Bruchlinien nationaler Geschichten. Aus dem angloamerikanischen Sprachraum wurden hierzulande vor allem Autoren/innen wie Priscilla Hayner 3 und Timothy Garton Ash 4 rezipiert, die sich auf allgemeiner oder komparatistischer Ebene mit diesem Phänomen auseinander gesetzt hatten. 1996 gab Detlef Nolte einen Sammelband mit dem Titel „Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika“ heraus, in dem der peruanische Journalist Esteban Cuya die Thematik überblicksweise abhandelte 5, und im Oktober 2004 erschien eine unter anderem von Oettler edierte Ausgabe der „Lateinamerika Analysen“, die der lateinamerikanischen Vergangenheitspolitik gewidmet war. 6 An monografischen Fallstudien herrscht jedoch bisher ein Mangel. Arbeiten wie jene Guido Klumpps über Chile bleiben noch vereinzelt.7

Die guatemaltekische „Vergangenheitsbewältigung“ stellt dabei einen besonders interessanten Fall dar, weil hier die wichtigsten Aspekte gesellschaftlicher Kontroversen über Vergangenheit, insbesondere Geschichtsforschung, Nachkriegsjustiz und Entschädigung, eine Rolle spielten und ausführlich diskutiert wurden bzw. werden. Oettler griff für ihre Arbeit den Bereich der Erfassung der Repressionserfahrung in Form von Interviews heraus. Als teilnehmende Beobachterin an der ca. einjährigen Interviewphase des REMHI-Projektes brachte sie umfassende Kenntnisse und praktische Erfahrungen zu Methoden, Zielsetzung und Ablauf mit. Diese stellt sie ins Zentrum ihrer mnemotheoretischen Analyse. Ebenso geht sie bei ihrer Untersuchung der CEH vor. Oettler fragt nach den Mitteln, mit denen die Untersuchungskörperschaften arbeiteten. Deren „Oral-History“-Ansatz war ebenso kollektivtherapeutisch wie geschichtsdemokratisierend (diskursive Ermächtigung marginalisierter Sektoren) ausgelegt. Wie gingen sie dabei vor? Und welche Wirkungen zeitigten diese Unternehmungen in der Vergangenheitspolitik der jeweiligen Länder? Der Begriff „Erinnerungsarbeit“, im Titel dem der „Vergangenheitspolitik“ vorangestellt, deutet bereits an, dass es Oettler um das Verständnis kollektiver Gedächtnisprozesse und deren psychologischer Implikationen geht. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang ihre Analyse der beiden Berichtpräsentationen, also der „Bedeutung des öffentlichen Aktes“, der als kathartischer Schlüsselmoment der Vergangenheitspolitik verstanden werden kann.

Reizvoll an Oettlers Forschungsobjekt ist die Tatsache, dass die Nachforschungen in beiden Fällen nicht allein Quellen für spätere Mnemologen/innen sicherten, sondern selbst auf dem postkolonialen Postulat einer Ermächtigung von Nicht-Eliten fußten. Das soziale Therapeutikum „Wahrheitskommission“, das meist dokumentarische Recherche mit einer großen Anzahl von Opferinterviews kombiniert, verdankt sich also seinerseits jener Hausse der Thesen über „kollektive“ oder „kulturelle“, jedenfalls aber nicht-individuelle Gedächtnisse, deren Analyseinstrumentarium auch Oettler zu ihrer Untersuchung anwendet. Seit den 1980er-Jahren haben gerade diese Theoreme den Humanwissenschaften einen Zugang zur politischen Praxis eröffnet. In den Bemühungen der sich auf Frieden und Menschenrechte berufenden atlantischen Politik vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges, wurden die alten „Holzhammer“-Methoden der Reeducation zusehends ersetzt durch partizipative Ansätze. Die Gesellschaften, so nun die Grundannahme von Transitionspolitik, müssen sich in schwierigen Prozessen konsensuale Bezugsrahmen für ein „neues“, gemeinsames Gedächtnis schaffen, das in seiner präventiven Funktion zukünftige Repression, Gewalt und Diktatur zu tabuisieren hat („¡Nunca más!“) und in seiner fundierenden Funktion einen alle Narrative integrierenden Geschichtskonsens herstellen soll.

Anika Oettler setzt auf wissenschaftlich-analytischer Ebene ebenfalls dieses Modell voraus, vor allem in seiner im deutschen Sprachraum so populären Version des Ägyptologen Jan Assmann, der Maurica Halbwachs’ These von der sozialen Rahmung individuellen Erinnerns in verschiedene Richtungen gedehnt hat. So griffig Assmanns „kulturelles Gedächtnis“-Modell sich auch in jene Erklärung generationsübergreifender Gedächtnisprozesse fügt, zu der auch Oettler beiträgt, bleibt doch fraglich, ob es ausreicht, um die vergangenheitspolitische Dynamik der guatemaltekischen Nachkriegsgesellschaft zu erklären. Einerseits ist Jan Vansinas floating gap in Guatemala nicht nur als zeitliches Moment zu verstehen (wenngleich diesem Phänomen in einer von schnellen Generationswechseln geprägten Gesellschaft hohe Bedeutung zukommt), sondern auch als ein kommunikatives Vakuum zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Andererseits fächert – worauf Oettler hinweist – die soziale Rahmung der Gedächtnisse stark in regionale und gruppenspezifische Segmente auf, die ihrerseits wiederum auf individueller Ebene von Traumata und komplexen Loyalitäten durchsetzt sind. Oettler fängt dieses mnemotheoretische Defizit allerdings mit ihrem Fokus auf individualpsychologische Aspekte von Heilung und Versöhnung auf – ein Feld, zu dem gerade lateinamerikanische Autoren/innen wie Ignacio Martín-Baró viel beigetragen haben. 8 In der Gegenüberstellung von CEH und REMHI versucht sie sich der wichtigen Frage anzunähern, in welcher Weise Wahrheitskommissionen auf kollektive Gedächtnisse einzuwirken vermögen.

Anhand der Unterschiede zwischen CEH und REMHI thematisiert Oettler auch die Anwendbarkeit des von Norbert Frei 9 für die BRD der 1950er-Jahre geschaffenen Begriffs „Vergangenheitspolitik“ auf Guatemala. Frei ging es darum, die Bemühungen der westdeutschen Regierung um Integration und Amnestierung von ehemaligen Nationalsozialisten/innen und um normative Abgrenzung von der Epoche der NS-Herrschaft begrifflich zu fassen. Oettler argumentiert überzeugend, dass diese Kriterien auch auf das Instrument der CEH anwendbar seien. Damit bleibt sie der Freischen Bedeutung des Wortes treu und distanziert sich von dessen Verwendung durch den österreichischen Politologen Günther Sandner zur Bezeichnung für den „politischen, justiziellen und kulturellen Umgang einer demokratischen Gesellschaft mit ihrer diktatorischen Vergangenheit“ (zitiert nach S. 337, Anm. 832). Wenn Oettler schreibt, „Vergangenheitspolitik“ sei „mehr als ein Synonym für Vergangenheitsbewältigung“ (S. 337), meint sie, er sei eigentlich enger und spezifischer. Ihr ist darin zuzustimmen, dass diese Bedeutungserweiterung einen Verlust an deskriptiver Schärfe mit sich bringt. Sie selbst verwendet den Begriff nur für die, von den kriegsführenden und den Frieden verhandelnden Parteien konzipierte CEH. Zur Beschreibung des stärker gesellschaftstherapeutischen Ansatzes des REMHI-Projektes spricht sie dagegen schlüssiger Weise von „Erinnerungsarbeit“. Oettler hat so den theoretischen Mehrwert der jüngeren vergangenheitspolitischen Debatten in Deutschland in den guatemaltekischen Fall eingeführt und eine schlüssige Analyse von zwei der größten politischen Oral-History-Projekte Lateinamerikas vorgelegt.

Anmerkungen:
1 Oficina de Derechos Humanos del Arzobispado de Guatemala, Guatemala, Nunca más! Informe del Proyecto Recuperación de la Memoria Histórica (REMHI), vier Bände, Guatemala 1998.
2 Comisión para el Esclaracimiento Histórico, Guatemala – Memoria del Silencio, zwölf Bände, Guatemala 1999.
3 Hayner, Priscilla, Unspeakable Truths. Confronting state terror and atrocity, New York 2001.
4 Ash, Timothy, The Truth about Dictatorship, in: The New York Review of Books 19.2.1998, S. 35-40.
5 Nolte, Detlef (Hg.), Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika, Frankfurt am Main 1996.
6 Lateinamerika Analysen 9, Themenschwerpunkt: Vergangenheitspolitik in Lateinamerika, Hamburg 2004.
7 Klumpp, Guido, Vergangenheitsbewältigung durch Wahrheitskommissionen - das Beispiel Chile (Berliner juristische Universitätsschriften: Strafrecht; 10), Berlin 2001.
8 Martín-Baró, Ignacio, Psicología social de la guerra: Trauma y terapia, San Salvador 1990.
9 Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

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