S. Petersen, Benefizientaxierungen an der Peripherie

Titel
Benefizientaxierungen an der Peripherie. Pfarrorganisation - Pfründeneinkommen - Klerikerbildung im Bistum Ratzeburg


Autor(en)
Petersen, Stefan
Reihe
Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 166, Studien zur Germania Sacra 23
Erschienen
Göttingen 2001: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
498 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Willich, Thomas

Die ‚Habgier der römischen Kurie' war im spätmittelalterlichen und reformationszeitlichen Deutschland ein zentrales Thema der Rom-Kritik. In Reformschriften und Gravamina wurde beklagt, aus den nordalpinen Diözesen würden Steuern im Übermaß an den Hof des Papstes fließen. Um Steuersenkung bemühten sich die großen Reformkonzilien des 15. Jahrhunderts. In Konstanz wurden grundlegende Reformen beschlossen; die Basler Konzilsväter dekretierten 1435 die Unzulässigkeit von Steuern bei der Besetzung kirchlicher Stellen. Davon betroffen war mit den Annaten aber nicht allein einer der seit dem 14. Jahrhundert wichtigsten Einnahmeposten des Papstes 1, sondern auch eine Finanzquelle der lokalen Prälaten. Diese protestierten zwar gegen die Forderungen der Kurie, waren aber selbst auf die Besteuerung des Klerus angewiesen. Der Widerstand, der sich gegen das ‚Annatendekret' des Basler Konzils von bischöflicher Seite regte, lässt erahnen, dass die vor allem von Prälaten gegen die Kurie vorgebrachten Invektiven weniger objektive Lagebeschreibungen, sondern vielmehr Ausdruck eines erbitterten Verteilungskampfes waren 2. Untersuchungen zur Papstfinanz sowie zur Bistumsverwaltung erhellen das Verhältnis von "Aufsehen" und tatsächlichem "Aufkommen" der kritisierten Zustände 3. Studien zum Finanzgebaren der spätmittelalterlichen Kirche gehören letztlich zu einem Themenspektrum, das von der seit dem 19. Jahrhundert immer wieder kontrovers behandelten Frage nach den Voraussetzungen des reformatorischen Bruchs ausgeht. Diese Frage verliert auch dann nichts an Spannung, wenn man das 15. Jahrhundert von einer Perspektive befreit, die es als ‚Vorreformation' ausweglos auf 1517 zulaufen lässt.

Nachdem die Finanzverbindungen zwischen Ortskirchen und päpstlicher Kurie in Christiane Schuchards Buch über die Kollektoren der apostolischen Kammer unter verwaltungsgeschichtlichen und (für den deutschen Sprachraum) sozialgeschichtlichen Aspekten kürzlich grundlegend dargestellt wurden 4, liegt mit der hier anzuzeigenden Göttinger Dissertation von Stefan Petersen eine willkommene Studie zu den Steuerverhältnissen einer einzelnen Diözese, jener des Bischofs von Ratzeburg, vor. Peripher gelegen war das Bistum Ratzeburg insofern, als seine Kommunikation mit der päpstlichen Kurie im Vergleich mit den Bistümern im Westen und Süden des Reichs weniger intensiv war. Peripherie meint hier Kurienferne.

Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die Ratzeburger Überlieferung von Einkünftetaxierungen aus dem frühen 14. Jahrhundert. Für 54 der 94 Pfarreien der Diözese wird in urkundlicher Form mitgeteilt, welche Einnahmen dem Pfarrer jeweils zustanden. Des weiteren sind aus dem 14. und aus dem 15. Jahrhundert je ein Benefizienregister mit Taxangaben überliefert. An dieses Material werden Fragen nach dem historischen Kontext der ersten Taxierung, nach deren Tradierung in den späteren Registern, nach der Organisation eines päpstlichen Kollektoriums auf Diözesanebene sowie nach wirtschaftlichen Aspekten des pfarrherrlichen Lebens gestellt. Eher im Zusammenhang mit diesen Fragestellungen denn als selbsttragende Themen werden die im Titel des Buches aufgeführten Aspekte "Pfarrorganisation" und "Klerikerbildung" behandelt.

Nach akribischer Analyse der im Landeshauptarchiv Schwerin liegenden Taxurkunden hinsichtlich ihrer paläographischen Merkmale, Diktatverbindungen und Siegel gelingt Petersen der Nachweis, dass die Taxierung auf einer bislang unbekannten Ratzeburger Synode im August 1319 stattfand. Während der Anlass dieser Maßnahme unschwer in der auf drei Jahre befristeten Annatenreservation Papst Johannes' XXII. von 1316 auszumachen war, bedurfte es sorgsamer Quellenlektüre, um im Ehrgeiz bzw. im Pflichtbewusstsein der zuständigen Kollektoren die eigentliche Ursache für die umfassende Bestandsaufnahme zu erkennen. Denn der Kollektor Jacobus de Rota, der mit der Einsammlung der in der Provinz Bremen fälligen Annaten beauftragt worden war, gab sich nicht damit zufrieden, dass ihm die für seine Einnahmen interessanten vakanten oder neu besetzten Stellen gemeldet wurden. Er verlangte vielmehr, dass alle Benefizien der ihm zur Annatenerhebung zugewiesenen Diözesen geschätzt würden. In der Diözese Ratzeburg, die zum Bremer Metropolitanverband und damit zum Distrikt des Jacobus de Rota gehörte, führte dessen Unterkollektor Peter, Domherr zu Ratzeburg und Pfarrer zu Schönberg, die Befragung der Benefiziaten auf der von Petersen ermittelten Synode durch. Die Schriftstücke, in denen die Pfarrer auftragsgemäß ihre Einkünfte quantifizierten, sind die oben genannten Taxurkunden. Ein von Petersen vermutetes Register, das an die Kurie gelangt sein könnte, ist indes verloren. Der Verwaltungsaufwand der Kollektoren hatte am Ende nicht den gewünschten Erfolg: In seiner Rechnungslegung musste Jacobus de Rota feststellen, dass seine Annateneinnahmen nicht einmal sein Gehalt und die während seiner ‚Mission' entstandenen Kosten deckten. Für die Diözese Ratzeburg, in der es bis dahin offenbar kein schriftliches Verzeichnis der Pfarreinkünfte gab, stellte die Initiative des Kollektors gewissermaßen einen Impuls zur Verwaltungsmodernisierung dar.

Wie Petersen nachweisen kann, bildete die Taxierung von 1319 die Grundlage für die beiden überlieferten Ratzeburger Benefizienregister des Spätmittelalters, die jeweils im Zusammenhang mit einer außerordentlichen Steuer (subsidium caritativum) entstanden, die vom Metropoliten bzw. Bischof ausgeschrieben worden war. Das ältere Register von 1344/47 fußte auf einem Verzeichnis von 1335, das der ehemalige Unterkollektor Peter nunmehr im Auftrag des Bischofs von Ratzeburg zur Durchführung einer vom Papst ausgerufenen Erhebung des Kreuzzugszehnten angelegt hatte. Über das Register von 1335 kamen die Taxierungen der Synode des Jahres 1319 in das Register von 1344/47. In das jüngere Register, dessen Entstehung jetzt auf die Zeit zwischen Juli 1485 und März 1486 datiert werden kann, wurden die Taxwerte der in ihrer Anzahl kaum veränderten Pfarreien aus dem Register von 1344/47 übernommen. Die zahlenmäßig enorm vermehrten Vikarien (73 : 402) wurden hingegen neu taxiert. Das Beispiel der Ratzeburger Pfarreien führt damit eindringlich vor Augen, mit welcher Vorsicht Quellenaussagen zum Einkommen kirchlicher Pfründen (wie sie vor allem in den päpstlichen Registern des Vatikanischen Archivs im Zusammenhang mit Provisionen überliefert sind) gewichtet werden müssen. Eine vergleichende Betrachtung müsste zunächst prüfen, welche Schätzungen den tatsächlichen Zeitwert wiedergeben und welche Angaben längst veraltete Taxierungen fortschreiben. Für die Ratzeburger Pfarrer hatte die Praxis der Taxtradierung vermutlich angenehme Folgen, denn infolge von Zuwächsen bei den Einkünften sowie aufgrund der fortschreitenden Geldentwertung entsprach die Taxe von 1319 nicht mehr ihrer Einkommenssituation. Die dadurch entstehenden Steuerausfälle konnten wohl deshalb vernachlässigt werden, weil der Hauptanteil der Einnahmen inzwischen von den Vikaren zu erwarten war.

Für die Zusammensetzung der Pfarreinkünfte arbeitet Petersen den überragenden Anteil der Oblationen heraus. Bei den Gesamteinkünften der Vikare ist vom mittleren 14. bis zum späten 15. Jahrhundert ein geringer Anstieg festzustellen. Ein Sonderfall wie der der Georgenkirche in Wismar, deren Vikare sich trotz der Verneunfachung ihrer Stellen über bedeutsame Einkommenssteigerungen freuen durften, hätte vielleicht unter Bezugnahme auf architektur- und kunstgeschichtliche Forschungen erläutert werden können 5.

Im umfangreichen Anhang des Bandes werden die Taxurkunden von 1319 und die Register von 1344/47 und 1485/86 mit äußerster Sorgfalt ediert. Die Kommentare zu den Urkunden und deren Abbildungen bieten bestes Lehrmaterial in spätmittelalterlicher Paläographie. Eine ausführliche Prosopographie stellt die 286 Kleriker vor, die in dem Register von 1485/86 aufgeführt werden. Der dabei geleistete Aufwand ist enorm, doch wurde er im darstellenden Teil der Arbeit allein zur möglichst präzisen Datierung des Registers von 1485/86 nutzbar gemacht. Wie in diesem Fall bleibt auch in anderer Hinsicht zu hoffen, dass die Ergebnisse zu Ratzeburg künftig für übergreifende Fragestellungen herangezogen werden, von denen dem Rezensenten bei der Lektüre neben dem oben schon genannten Reformthema unmittelbar die folgenden in den Sinn kamen: Trugen Benefizienregister zu einer weit - eben bis in die Ratzeburger Peripherie - reichenden Raumerfassung durch die Kurie in Rom oder Avignon bei 6? Ist der wachsende Anteil der Oblationen an den Pfarrbenefizien auf Veränderungen in der Sakramentenpraxis zurückzuführen? Stefan Petersen hat zur Beantwortung dieser und anderer Fragen in einem gründlich gearbeiteten und ansprechend gestalteten Buch Grundlagen gelegt.

Anmerkungen:
1 Zu den Annaten vgl. auch Michele Ansani (Hg.), Camera Apostolica. Documenti relativi alle Diocesi del Ducato di Milano (1458-1471). I ‚libri annatarum' di Pio II e Paolo II, Milano 1994.
2 Johannes Helmrath, Reform als Thema der Konzilien des Spätmittelalters, in: Christian Unity. The Council of Ferrara-Florence 1438/39-1989, hg. von Giuseppe Alberigo (= Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium 97), Löwen 1991, S. 75-152; Phillip H. Stump, The Reforms of the Council of Constance (1414-1418) (= Studies in the History of Christian Thought 53), Leiden-New York-Köln 1993.
3 Arnold Esch, Rez. zu Jean Favier, Les Finances pontificales à l'Èpoque du Grand Schisme d'Occident 1378-1409 (Paris 1966), in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 221 (1969) S. 133-158, Zitat S. 143.
4 Christiane Schuchard, Die päpstlichen Kollektoren im späten Mittelalter (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 91), Tübingen 2000.
5 Steve Ludwig, St. Georgen zu Wismar. Die Geschichte einer mittelalterlichen Pfarrkirche vom 13. bis zum frühen 16. Jahrhundert, Kiel 1998.
6 Zum Thema siehe jüngst Hans-Joachim Schmidt, Kirche, Staat, Nation. Raumgliederung der Kirche im mittelalterlichen Europa, Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 37, Weimar 1999.

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