Cover
Titel
Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?


Herausgeber
Paul, Gerhard
Reihe
Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte 2
Erschienen
Göttingen 2002: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Laube, ETH Zürich

„Die Täter der Shoah“ ist der programmatische Titel eines von Gerhard Paul herausgegebenen Sammelbandes, der aus einer Veranstaltung im Rahmen der Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte hervorging. Nicht zuletzt die öffentlichen Turbulenzen um Goldhagens Buch und die Wehrmachtaustellung haben in den letzten Jahren die Täterforschung wieder ins Zentrum des Interesses gerückt. Motivationsanalysen – oft narrativ und anschaulich präsentiert – haben der Geschichtsschreibung zur Judenvernichtung in den letzten Jahren immer deutlicher ihren Stempel aufgeprägt. Impulse für diesen Forschungsbereich gingen vor allem von einem an der Freiburger Universität angesiedelten, von der Volkswagen Stiftung geförderten Forschungsprojekt aus sowie vom Hamburger Institut für Sozialforschung.

Ging der alle bisherige Vorstellungen sprengende Massenmord von radikalisierten Desparados (Kogon), von ganz normalen Männern (Browning) oder von fanatisierten Nazis (Goldhagen) aus? Ist diese Tat überhaupt formelhaft so zuzuspitzen, oder zeigt sich darin nur der verzweifelte Versuch der Forschung, Erklärungen für etwas zu finden, was mit wissenschaftlichen Mitteln nicht mehr adäquat erklärt werden kann? Das Buch, dass neun Beiträge vereinigt – eine Forschungsgeschichte, sechs Täterstudien und zwei Kommentare aus dem gegenwartsbezogenen, interdisziplinären Blickwinkel – kreist um diese Grundsatzfragen. Insbesondere fasst es Ergebnisse aus umfangreicheren neueren Geschichtsarbeiten zusammen, die fast alle auf umfassender Materialerschließung beruhen, nicht zuletzt aus osteuropäischen Archiven, was in dieser Form erst nach Ende des Kalten Kriegs möglich sein konnte.

Das Themenspektrum ist ausgewogen und konzentriert. So befasst sich Karin Orth mit dem Führungspersonal der Konzentrationslager, Thema von Klaus-Michael Mallmann ist die Sicherheitspolizei in Westgalizien, Jürgen Matthäus nimmt das Handeln der Ordnungspolizei ins Visier, Walter Manoschek die Rolle der Wehrmacht bei der Judenvernichtung. Bogdan Musial beschäftigt sich mit der Zivilverwaltung im Generalgouvernement, Dieter Pohl mit der Rolle ukrainischer Hilfskräfte. Diese Aufsätze betrachten in Teilaspekten aus unterschiedlichen Blickwinkeln die historische Sache selbst. Eingerahmt werden sie von Beiträgen von Gerhard Paul, Harald Welzer und Hanno Loewy über die Rezeption der Shoah in der Forschung und Gesellschaft. Diese Verknüpfung von Erinnerungspolitik und Historiografie ist sinnvoll und wünscht man sich von mehr Publikationen zur Zeitgeschichte.

Nur einige Studien seien hier ausführlicher vorgestellt:

Karin Orth von der Universität Freiburg stellt Ergebnisse aus ihrer Dissertation über das Führungspersonal der Konzentrationslager, die im Rahmen des von Ulrich Herbert geleiteten Forschungsprojekts „Weltanschauung und Diktatur“ entstanden ist, vor (S. 93-109). Nach Auswertung eines Samples von cirka 300 Personen kommt sie zu empirisch gesättigten Schlussfolgerungen von einer effizient und sachlich agierenden Expertengruppe, deren Mitglieder meist um die Jahrhundertwende geboren wurden und die sich in der Adoleszenz- und Sozialisationsphase völkisch radikalisierten. Im KZ erkennt die Autorin so etwas wie ein soziales Netz, eine durch Verbrechen konstituierte Gemeinsamkeit, die Hierarchien und Loyalitäten schuf und auch einen bestimmten Klüngel.

Klaus-Michael Mallmann, Leiter der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, setzt sich unter dem makaber-bezeichnenden Titel „Mensch, ich feiere heut´ den tausendsten Genickschuß“ mit den Handlungen und den dahinter stehenden Einstellungen der Sicherheitspolizisten in Westgalizien auseinander (S. 109-137). Er diagnostiziert dort einen „Antisemitismus der Profiteure“, eine „Beutgemeinschaft“ im „wilden Osten“. Die besetzten Ostgebiete hätten sich nach Mallmann in eine „Arena real ausgelebten Herrenmenschentums“ (S. 126) verwandelt. Die dort agierenden „Sicherungskräfte“ seien stets in der Lage und auch bereit gewesen, Befehle eigenmächtig zu erweitern oder ganz auf eigene Faust zu handeln. Die Täter könnten daher „weder Automaten und Marionetten“ (S. 126) gewesen sein. In diesem Beitrag wird deutlich, was in vergleichbaren Arbeiten meist nur blass reflektiert ist, dass der Genozid keineswegs in einer normalen Friedenszeit umgesetzt wurde, sondern in den Nischen eines Besatzungsregimes im Rahmen eines Weltanschauungskriegs bisher unbekannter Dimension mit allen verrohenden Implikationen, die sich daraus für die „conditio humana“ ergeben. Der in der aktuellen Tagespolitik immer wieder zu beobachtende Rekurs auf Auschwitz, um Kriege zu legitimieren, da angeblich erst der Krieg die KZ-Insassen befreit habe, verliert so viel an Schlagkraft.

Dieter Pohl vom Institut für Zeitgeschichte schlägt eine Bresche in noch unbekanntes Forschungsterrain. Er weist in seinem Beitrag zur Mitarbeit ausländischer Kräfte bei der Judenvernichtung darauf hin, dass die Massenerschießungen in der Ukraine ohne die tatkräftige Unterstützung ukrainischer Hilfskräfte in diesem Umfang gar nicht hätten umgesetzt werden können (S. 205-237). Mentale Aspekte, wie die schon durch Stalinismus und Hungersnöte seit den zwanziger Jahren kontinuierlich aufgestaute Gewaltbereitschaft, verdienten eine eingehende Untersuchung.

Insgesamt weisen diese Detailstudien nach, dass die Judenvernichtung keine Sache nationalsozialistischer Kerngruppen gewesen ist, sondern ebenso von Vertretern ziviler Verwaltungen und einheimischen Kollaborateuren forciert werden konnte. Bei aller Heterogenität der sozialen Herkunft und Motivationen, waren die Täter keine Randexistenzen der Gesellschaft. Schlagworte wie Psychopathen, Technokraten des Terrors oder den vielzitierten „ganz gewöhnlichen Deutschen“ können nur begriffliche Grenzmarkierungen im Rahmen einer multifaktorellen Erklärung darstellen, die sowohl intentionale als auch strukturelle Aspekte einbezieht (S. 62). Auch dieser Sammelband wirft seinen Blick ausschließlich auf uniformierte oder zivile Großgruppen. Individualbiografien werden nicht berücksichtigt. Dabei könnte bei geeigneten Quellen der konsequente Nachvollzug eines einzelnen Lebenswegs die Einsicht in die immer noch rätselhafte Dichotomie zwischen normalem Leben und Massenverbrecherexistenz erhöhen.

Der Sammelband wird durch einen ausführlichen Forschungsbericht von Gerhard Paul eingeleitet. Auf mehr als achtzig Seiten begründet der Flensburger Professor und Autor einer Monografie über die Gestapo in Schleswig-Holstein, inwiefern sich die neue Täterforschung von den bisherigen Ansätzen unterscheidet. Eindringlich und pointiert macht Paul darauf aufmerksam, wie differenziert und umfassend die Studien zur Täterforschung in den letzten Jahren geworden sind. Dabei mag man bei manchen Urteilen ein kleines Fragezeichen vermissen. Lagen Martin Broszat oder Hannah Arendt mit ihrem Modell des autoritätshörigen Täters wirklich so falsch wie der Autor apodiktisch feststellt (S. 14)? Hat Arendts These von „der Banalität des Bösen“ tatsächlich moralisch so entlastend gewirkt, wenn man bedenkt, dass diese These, die jeden einbeziehen kann, aufrüttelnder wirkt als die narrative Täteranalyse, für die der Herausgeber plädiert, die bei aller Erklärungskraft, historisiert und jeden, der sich per defintionem zum „Nichttäter“ erklärt, exkulpiert?

Pauls Einteilung der Forschungsgeschichte in fünf Phasen ist plausibel: Distanz hätten sowohl Tendenzen der „Kriminalisierung“ und „Diabolisierung“ bis Anfang der sechziger Jahre als auch die sich anschließende „Entpersonalisierung“ und „Abstrahierung“ geschaffen, inklusive der Täterdiskurse im Gefolge von Hannah Arendt und Raul Hilberg, der sich eine „Phase der zweiten Verdrängung“(S. 33) in den siebziger und frühen achtziger Jahren anschließen sollte. Bekanntlich haben erst Browning, Goldhagen und die Wehrmachtausstellung dieses starre Deutungsschema durchbrochen. Jetzt begann endlich der quellengesättigte Diskurs über das konkrete Verbrechen am Tatort. Denn der Mord geht als Tat immer von einzelnen Menschen aus und nicht von überindividuellen Strukturen. Inzwischen sei nach Paul die Forschungsarbeit mitten im Prozess der „Konkretisierung“ und „Differenzierung“, schon bald könne eine Bilanz gewagt, eine Synthese versucht werden. Der Sammelband entwickelt dazu Perspektiven.

Gegenwartsbezogene Kommentare außerhalb der archivalisch mit großen Schritten voranschreitenden Geschichtswissenschaft bieten der Sozialpsychologe Harald Welzer, der am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen die Forschungsgruppe „Erinnerung und Gedächtnis“ leitet, sowie der Frankfurter Literatur- und Filmwissenschaftler Hanno Loewy. Sie weisen auf die Gefahren einer Täterforschung hin, die sich selbst partikularisiert und Verantwortlichkeiten jenseits des Täterschemas negiert. So wird man mit dem Fokus auf die Täter allein kaum die Reichweite des antisemitischen Milieus in der deutschen Gesellschaft insgesamt erfassen können. Welzers Interesse gilt vor allem den situativen Kontexten, in denen Menschen zu Mördern werden und von denen trotz ihrer Brutalität subjektiver Sinn ausging. Tätergeschichten interessieren Loewy weniger, sondern die Geschichten und Mythen, die die Deutschen beim Umgang mit dem Genozid pflegen. Für ihn – so lautet sein skeptisch-provokantes Fazit – sind die Deutschen mittlererweile „ein aus Tat und Sühne hervorgegangenes ethnisches Kollektiv“ geworden. „Also vielleicht genau das, was die Nazis stiften wollten: ein Volk.“ (S. 260).

Obwohl das Buch mit einigen neuen Details aufwarten kann, hat man über weite Strecken nicht den Eindruck, wirklich etwas Neues zu lesen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass oft nur Kurzfassungen aus Monografien geboten werden, die schon längere Zeit bekannt sind (siehe Walter Manoschek, Bogdan Musial u.a.). Auch der Beitrag von Jürgen Matthäus über die Ordnungspolizei kann kaum als Originalbeitrag gelten, sondern erschien ebenfalls im letzten Jahr im Tagungsband von Wolf Kaiser über „Die Täter im Vernichtungskrieg“. Wenn also auch kein Experte von diesem Band große Neuigkeiten erfahren wird, ist das Buch besonders geeignet, den interessierten Laien wichtige Kurswechsel der Genozidforschung zu vermitteln. Der Band schließt trotz mancher Wiederholungen kongenial an das von Ulrich Herbert herausgegebene Fischer-Taschenbuch „Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1933-1945“ an.

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