Cover
Titel
Churchill. The Unexpected Hero


Autor(en)
Addison, Paul
Erschienen
Anzahl Seiten
308 S.
Preis
£12.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Altmann, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

An Büchern zu Leben und Leistung Winston Churchills besteht kein Mangel. Schoss in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten eine wahre Churchill-Soteriologie ins Kraut, so wurden bereits einige Jahre vor dem Tod Churchills Stimmen laut, die den „Retter“ auf Normalmaß zurückschrumpfen wollten. Später entwickelte sich der Churchill-Revisionismus förmlich zu einer Wachstumsindustrie der britischen Geschichtswissenschaft: nunmehr galt vielen das Ausharren des Kriegspremiers gegen Hitlers Aggressionsmaschinerie als äußerst kurzsichtiges Unterfangen, da es Großbritannien letztlich zwischen die Mahlsteine USA und Sowjetunion trieb, die nach 1945 keine Gelegenheit ausließen, das Britische Empire zu demontieren. So klagte ein britischer Staatssekretär 1947 vor den Vereinten Nationen, die neuen Supermächte litten an einem „Salzwasser-Trugschluss“, demzufolge Imperien nur dann dem Verdikt des Anachronismus anheim fielen, wenn sie sich auf die guten Dienste einer Kriegsmarine stützen müssten. Allein: selbst den Revisionisten gelang es nicht, Churchill von jenem Sockel zu stoßen, auf dem ihn – traut man verschiedenen Umfragen – die Mehrzahl der Briten nach wie vor sehen will. Eine neue Churchill-Biografie kann daher mittlerweile kaum mehr durch extrovertierte Ausschläge zur einen oder anderen Seite Aufmerksamkeit erheischen. Paul Addison bescheidet sich deshalb mit einem soliden lebensgeschichtlichen Abriss, der sich um die – keineswegs zum ersten Mal gestellte – Frage dreht, weshalb einer politisch so geradezu unmöglichen Figur wie Churchill ein solch unvergleichlicher Nimbus zuwachsen konnte. Die Antworten Addisons verdichten sich zu einer lesenswerten Kurzbiografie, die zugleich die zeitgeschichtliche Szenerie Großbritanniens streiflichtartig erhellt.

Churchill hat im Laufe seiner sechs Jahrzehnte andauernden politischen Karriere ein bemerkenswertes Talent dafür entwickelt, Menschen vor den Kopf zu stoßen. Dies hing zum einen mit seiner Neigung zusammen, für Freund und Feind verblüffend radikal die Fronten zu wechseln. Zum anderen vertrat er bisweilen Standpunkte, die sich nach Ansicht seiner Zeitgenossen denknotwendig ausschlossen. Die anscheinend habituell verankerte Unfähigkeit zu gedanklicher Stringenz und berechenbarem Handeln weckte zudem den Verdacht, Churchill fröne als prinzipienloser Opportunist letztlich nur dem sacro egoismo. Als Born eines der edelsten Geschlechter des Königreichs trat er zunächst in die Fußstapfen seines Vaters Randolph Churchill und verdiente sich nach militärisch-journalistischem Auftakt in Übersee die ersten politischen Sporen als konservativer Unterhausabgeordneter. Doch bereits 1904 lief er zu den Liberalen über, für die er ab 1908 verschiedene Regierungsämter bekleidete. Als Verfechter des Freihandels sah er in den Liberalen offenbar ein geeigneteres Umfeld, in dem er seine politischen Ziele verwirklichen konnte. Nach dem Ersten Weltkrieg avancierte jedoch die Labour Party allmählich zur zweiten maßgeblichen politischen Kraft neben den Tories, während die Liberalen zunehmend an innerer Auszehrung litten, die sie bis in die 1990er-Jahre hinein zu einer Zuschauerrolle in Westminster verurteilte. Churchills Furcht vor sozialistischen Experimenten gewann daher die Oberhand gegenüber Fragen parteipolitischer Loyalität und bahnten seiner Rückkehr zu den Konservativen 1924 den Weg. Bereits 1907 hatte ihn, nicht zuletzt mit Blick auf den amerikanischen Zweig seiner Familie, eine Zeitschrift als „transatlantic type of demagogue“ (S. 37) apostrophiert. Fortan musste er damit leben, dass ihn selbst Parteifreunde stets misstrauisch beäugten. Schwankenden Boden betrat Churchill auch, wenn es um das Verhalten gegenüber der Sowjetunion und Deutschland ging. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, unter dem Eindruck der bolschewistischen Revolution, forderte Churchill Versöhnungsgesten in Richtung Weimarer Republik: „Kill the Bolshie, Kiss the Hun“ (S. 94). In den 1930er-Jahren indes verlangte er früh eine engere Kooperation mit dem Kreml, um das nationalsozialistische Regime rechtzeitig einzudämmen. Und schon in der Endphase des Zweiten Weltkriegs warnte er die amerikanischen Verbündeten vor den Expansionsgelüsten der Sowjetunion und kehrte damit zu seiner Haltung von 1918 zurück. Selbst wenn die Zeitgenossen die sich wandelnden außenpolitischen Rahmenbedingungen in Rechnung stellten, blieb vielen ein schaler Nachgeschmack, der es Churchill schwer machte, gerade mit seinen Kassandrarufen gegen die so genannte Appeasement-Strategie in den eigenen Reihen Gehör zu finden.

Eine besonders eklatante Aporie seines Denkens betrifft Churchills Haltung zum Krieg. Euphorisch stürzte er sich in der Phase des Hochimperialismus in kriegerische Abenteuer. Seine Flucht aus burischer Gefangenschaft während des Südafrikanischen Krieges brachte ihn frühen Ruhm. Zugleich hatte er im Sudan die Gräuel maschinellen Gemetzels erlebt. In der Folgezeit rang Churchill mit widersprüchlichen Impulsen: einerseits wollte er die Unwägbarkeiten moderner Kriege einhegen und protestierte auch gegen die auf europäischen Technologievorsprung gestützte Unterdrückung kolonialisierter Völker; andererseits glorifizierte er aber mit sozialdarwinistischem Duktus den Krieg als notwendiges Durchgangsstadium zum Fortschritt der Nationen und sanktionierte als Kolonialminister Anfang der 1920er-Jahre harsche Maßnahmen gegen aufständische Iraker. Eine weitere Facette dieser Ambivalenz spiegelt sich in Churchills viel diskutiertem imperialistischen Naturell. In den 1930er-Jahren wurde Churchill zur Galionsfigur der „Diehards“, die gegen Zugeständnisse an die indische Nationalbewegung Sturm liefen. Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg trat er, seit 1951 wieder als Premierminister, nicht als williger Dekolonisierer in Erscheinung. Dieses imperialistische Weltbild wird freilich von wenigstens zwei Aspekten getrübt. Zum einen drängte sich vielen Beobachtern in den Dreißigern der Verdacht auf, ein marginalisierter Ex-Minister wolle sich durch imperiales Getöse eine neue politische Plattform zimmern. Zum anderen stieß der Glaube an die überseeische Mission Großbritanniens dort an seine Grenzen, wo er im Mutterland selbst einen Tribut verlangte. Als nämlich nach 1945 die Zahl der Immigranten aus dem Empire und Commonwealth anstieg, vermochte sich Churchill für „Keep England White“ (S. 233) als wahlkampfkompatible Losung erwärmen. Schließlich gibt auch Churchills Rolle bei den Flächenbombardements deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg Rätsel auf. Die in jüngster Zeit aufgeflammte Debatte über die Legitimität einer Strategie, die Zivilisten ohne Ansehen der Person zur Zielscheibe zerstörerischer Luftangriffe machte, hat in Großbritannien gerade deshalb für zum Teil aufgeregte Reaktionen gesorgt, weil sie den „ungekrönten König“ (S. 4) ins Zwielicht rückt.

Politische Gegner zögerten nicht, Churchills offene Flanken für eigene Zwecke auszuschlachten. Und die historische Forschung ist diesen Attacken – folgt man Addison – zuweilen auf den Leim gegangen – so wie umgekehrt Churchills Publikationen, vor allem seine sechsbändigen, Nobelpreis-verzierten Kriegsmemoiren, wissenschaftlich angehauchten Churchill-Devotionalien Vorschub leisteten. Addison hebt besonders Churchills lange gering geschätzten Einsatz für den britischen Wohlfahrtsstaat hervor. Als Handelsminister lehrte er im Zeichen des New Liberalism gemeinsam mit David Lloyd George das Establishment das Fürchten und führte beispielsweise einen Mindestlohn für bestimmte Berufsgruppen ein. Als Innenminister blieb Churchill meist nur wegen der Intervention der Armee in Arbeitskämpfe in Erinnerung. Vergessen wurden indes sein Engagement für humanere Gefängnisse und der Umfang, in dem er von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch machte. Nach 1951 drehte Churchill im Übrigen die Uhr nicht zurück, sondern ließ das von der Regierung Attlee errichtete Fundament des britischen Wohlfahrtsstaats unangetastet.

Dass Churchill vor dem Hintergrund einer windungsreichen, für viele schlechterdings abstoßenden Laufbahn zum „Man of Destiny“ (S. 249) werden konnte, erklärt Addison mit dem außergewöhnlichen historischen Kontext. Dieser ermöglichte es Ende der 1930er-Jahre einem Mann, der zuvor als „impossibilist“ (S. 166) seine politische Frühpensionierung betrieben hatte, zu einem Symbol nationaler Einheit aufzusteigen, das bis in die Gegenwart hinein affektive Valenz besitzt. Paul Addison, der als Urheber der in der britischen Geschichtswissenschaft bis in die 1980er-Jahre quasi hegemonialen Konsensthese um die Brüchigkeit von Kompromissstrukturen weiß, kommt daher, bei aller Bewunderung für Churchill, zu dem Schluss, dass der Kriegspremier ein „Held auf tönernen Füßen“ (S. 254) gewesen sei.

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