E. Nickel: Politik und Politikwissenschaft in der Weimarer Republik

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Titel
Politik und Politikwissenschaft in der Weimarer Republik.


Autor(en)
Nickel, Erich
Erschienen
Berlin 2004: Rotschild Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Vetter, Podelzig

Erich Nickel untersucht am Beispiel zweier wissenschaftlicher Institutionen die Entwicklung der Politikwissenschaft in Deutschland von den Anfängen der Weimarer Republik bis zum Jahre 1933. Es handelt sich zum einen um die 1920 in Berlin von Mitgliedern eines eingetragenen Vereins gegründete „Deutsche Hochschule für Politik“, die auch Unterstützung von Reichsministerien und preußischen Ministerien fand; zum anderen um das „Institut für Auswärtige Politik“, das als Stiftung mit Förderung norddeutscher Wirtschaftskreise und des Hamburger Senats 1923 in Hamburg eröffnet wurde. Diese beiden nichtstaatlichen Lehr- und Forschungseinrichtungen blieben in der Weimarer Republik die einzigen, „die Politik auf wissenschaftlicher Grundlage vermittelten“ (S. 13).

Bei der Lektüre der Einleitung des – das sei vorweggenommen – sehr gelungenen Buches ist man zunächst etwas verwundert. Man liest anfangs wenig über Politikwissenschaft, sondern vor allem eine prägnante Analyse der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse sowie des politischen Denkens in den deutschen Staaten und im Deutschen Reich von der Mitte des 19. Jahrhundert bis zur Novemberrevoluition. Dabei erfahren die Entstehung, Ausprägung und Differenzierung des politischen Liberalismus und liberalen Denkens besondere Aufmerksamkeit. In diesen Rahmen wird dann die Entwicklung der Politikwissenschaft eingeordnet. Seine Herangehensweise, die Nickel auch in den Hauptkapiteln konsequent beibehält, führt zu bemerkenswerten, zu weiterem Nachdenken anregenden Sichtweisen.

Nickels Untersuchung stützt sich auf die gründliche Auswertung der relevanten Fachliteratur, von Quelleneditionen und vor allem auf Archivmaterial, das neu erschlossen oder neu interpretiert wurde (benutzt wurden Bestände des Bundesarchivs Koblenz, des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts, des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, des Staatsarchivs Hamburg, des Robert-Bosch-Archivs Stuttgart und der Archive der Johann Wolfgang von Goethe Universität Frankfurt am Main, der Humboldt-Universität zu Berlin und des Instituts für Sozialgeschichte Frankfurt am Main).

Da die Vor- und Gründungsgeschichte der politologischen Institutionen der Weimarer Republik in der Literatur bisher fast durchweg vernachlässigt und unterschätzt worden ist, schließt Nickel mit seinen ersten drei Kapiteln (Ausgangsbedingungen für die Gründung politologischer Institutionen in der Republik; Vorformen institutionalisierter Politologie in der Konstituierungsphase der Republik; Die Gründerjahre der Deutschen Hochschule für Politik. 1920-1923) und dem ersten Abschnitt des dem Institut für Auswärtige Politik gewidmeten 6. Kapitels (Gründerkreise und politische Interessen an der Entstehung und Förderung des Instituts) eine Lücke.

Das Gewicht der Darstellung liegt – sachlich sicher vertretbar – bei der Deutschen Hochschule für Politik, der neben dem 3. Kapitel über die Gründerjahre noch zwei weitere Kapitel gewidmet sind (Die Deutsche Hochschule für Politik in der Phase der relativen Stabilisierung der Republik. 1924-1929; Die Deutsche Hochschule für Politik in der Endphase der Weimarer Republik. 1930-1933), während zu dem Hamburger Institut nur ein spezielles Kapitel enthalten ist (Das Institut für Auswärtige Politik in Hamburg. 1923-1933).

Nickel beschäftigt sich gründlich mit Entwicklungsfragen der Deutschen Hochschule für Politik, wobei er immer bemüht ist, den Zusammenhang zwischen Politik und Politikwissenschaft in den verschiedenen Existenzphasen der Weimarer Republik zu verdeutlichen. Nach der Überwindung von Anfangsproblemen – so mussten moderne theoretische Grundlagen einer Politologie erst erarbeitet werden – formierte sich die Hochschule seit Mitte der 1920er-Jahre zu einem Wissenschafts- und Lehrzentrum von beachtlichem Format, das sich auch dank der Publikationen einer Reihe jüngerer Wissenschaftler (z.B. Hermann Heller, Hajo Holborn, Eckart Kehr und Siegmund Neumann) einen guten Ruf erwarb. Auch im Ausland gelangte die Hochschule zu Ansehen und gewann zunehmend enger werdende Kontakte, die in Kooperationsbeziehungen mündeten. Nickel bemerkt, dass dies, besonders was die Beziehungen zu Einrichtungen in angelsächsischen Ländern angeht, in der neueren Literatur zwar „zuweilen erwähnt, aber auch unterschätzt wird“ (S. 23). Die Ausführungen Nickels über die internationalen Beziehungen der Hochschule hätten sicher noch gewonnen, wenn er über die Darstellung der Organisation und der Institutionalisierung dieser Beziehungen hinaus auf die Einflüsse der angelsächsischen Politikwissenschaft, namentlich die der USA, auf die Konzeptionsbildung an der Deutschen Hochschule für Politik näher eingegangen wäre.

Nickel belegt überzeugend, dass das politisch liberale Konzept der Weimarer Republik auch zum Gründungskonsens der Deutschen Hochschule für Politik wurde. Diesem Konzept, so Nickel, blieb die Hochschule auch in der Zeit zunehmender Rechtsenwicklung in der Weimarer Republik treu und profilierte es in der Auseinandersetzung mit antidemokratischen und antiliberalen Kräften, die mit der Etablierung des politischen Kollegs im November 1920 eine Gegengründung versucht hatten (Mit dem Politischen Kolleg beschäftigt sich Nickel im Kapitel 4 seines Buches). Wahrscheinlich ist dies das wichtigste Ergebnis der vorliegenden Untersuchung, mit dem Nickel in die seit längerem unter Politologen geführte kontroverse Debatte um die Kontinuität politologischer Einrichtungen in der Weimar Republik und im nationalsozialistischen Deutschland eingreift. Er konzediert, dass es an der deutschen Hochschule für Politik einen „rechten Rand“ gegeben habe, kann aber nachweisen, dass dieser nie einen entscheidenden Einfluss erlangte. Damit nimmt er der Behauptung einiger Autoren den Boden, dass an der Deutschen Hochschule für Politik völkisch und deutschnational orientierte Mitarbeiter konzeptionsbildend und dominierend wirksam gewesen seien.

Von diesem Ergebnis abgeleitet ist ein zweites Anliegen Nickels, das, obwohl nicht deutlich ausgesprochen, in der Darstellung immer wieder durchschimmert: der Nachweis, dass die von den beiden politikwissenschaftlichen Institutionen der Weimarer Republik begründete Tradition von den Wiederbegründern der Politologie in der Bundesrepublik aufgegriffen und fortgeführt wurde. Es wäre sicher nützlich gewesen, wenn Nickel diese nicht unumstrittene These schon im Laufe der Darstellung deutlicher hätte aufscheinen lassen und ihrer Erläuterung in der Zusammenfassung mehr Raum gegeben hätte, in präziser Auseinandersetzung mit konträren Auffassungen, über die im Folgenden zitierte zusammenfassende Bemerkung hinaus: „Die Gründerkreise der nach dem zweiten Weltkrieg mit überwiegender Zustimmung durch die Abgeordneten des Berliner Abgeordnetenhauses errichteten Hochschule für Politik um Otto Suhr waren teilweise noch durch persönliches Erleben mit der Weimarer Einrichtung verbunden. Sie hatten mehrheitlich im sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Widerstand gegen das NS-Regime gestanden und entschieden sich im Nachkriegs-Berlin und im beginnenden Kalten Krieg für das Konzept einer demokratischen Hochschule für politische Bildung in Abgrenzung von der nach 1933 eröffneten NS-Einrichtung. In der Rückbesinnung auf die Anfänge der mit der Weimarer Republik untergegangenen verfassungskonformen Institution nahmen sie – zumindest symbolisch – unter veränderten nationalen und welthistorischen Bedingungen deren Tradition auf. Sie stellten damit die Pluralität politologischer Lehrkonzepte, die im Laufe der Entwicklung in der Hochschule angesiedelt worden waren, in den Mittelpunkt ihrer Erneuerungsbestrebungen.“ (S. 210f.)

Das vorliegende Buch beruht auf einer Dissertationsschrift, mit der der ausgewiesene Historiker und langjährige Hochschullehrer Erich Nickel zum zweiten Mal promovierte. Es ist, wie Hajo Funke im Vorwort formuliert, „für die Selbsteinschätzung der deutschen Politikwissenschaft von erheblicher Bedeutung“ (S.8).

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