Titel
Stalin. Eine Biographie


Autor(en)
Kellmann, Klaus
Erschienen
Darmstadt 2005: Primus Verlag
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Oberender, Britz

In einer Zeit, in der es selbst Historikern manchmal Mühe bereitet, sich über die Erkenntnisfortschritte auf ihren jeweiligen Forschungsgebieten auf dem Laufenden zu halten, ist es kein Leichtes, die Erträge der neueren Forschung in verständlicher, zugleich aber auch wissenschaftlich fundierter Weise einem nichtakademischen Publikum nahe zu bringen. Besonders schwierig ist diese Aufgabe, wenn es sich um die Geschichte eines Landes handelt, mit der das deutsche Publikum weniger vertraut ist als mit der eigenen Vergangenheit. Es ist daher grundsätzlich zu begrüßen, wenn sich ein Autor bereitfindet, die notwendige Vermittlungsarbeit zwischen Forschung und Öffentlichkeit zu leisten. Klaus Kellmann, Mitarbeiter der schleswig-holsteinischen Landeszentrale für politische Bildung, hat sich die Aufgabe gestellt, „Politik, Person und Verbrechen“ Stalins auf der Grundlage der neueren Forschung „in der Form und im Stil des biografischen Essays griffig und lesbar darzustellen“ (S. 7). Seine Biografie richtet sich ausdrücklich an „zeitgeschichtlich interessierte Leser“ jenseits der universitären Geschichtswissenschaft.

Aber auch dieser Adressatenkreis hat ein Recht darauf, ernst genommen und seriös informiert zu werden. Kein Autor sollte sich den Hochmut gestatten zu glauben, er dürfe seinen Lesern keine anspruchsvolle Kost zumuten. In einem Buch, das für Laien geschrieben wird, ist ein gewisses Maß an Vereinfachung des dargebotenen Stoffes unvermeidlich; das wird niemand bestreiten. Es sollte dabei jedoch allenfalls eine darstellerische Vereinfachung gestattet sein, also beispielsweise der Verzicht auf theoretische Reflexionen oder Fachsprache, keineswegs aber eine inhaltliche Vereinfachung, die die komplexe historische Wirklichkeit derart vereinfacht und verkürzt, dass sie sich auf ein paar plakative und plumpe Formeln reduzieren lässt. Genau das tut aber Kellmann, der, wie es scheint, viele seiner Lesefrüchte selbst nur ungenügend verdaut hat. Es ist eben ein Unterschied, ob man einen Gegenstand vermittelst eigener Forschungen durchdringt, oder ob man sich damit zufrieden gibt, einfach nur angelesene Informationen zu referieren, deren Glaubwürdigkeit und Plausibilität zudem nicht eigens überprüft wird. Manches längst widerlegte Klischee der älteren Stalin-Biografik – etwa die These, Stalin habe seine georgische Herkunft verleugnet und sei zum „Großrussen“ mutiert (S. 84) – wird auf diese Weise leider fortgeschrieben.

Kellmanns Buch ist gründlich misslungen. Es sollte allen deutschen Historikern, die sich mit der Geschichte der Sowjetunion und insbesondere des Stalinismus befassen, eine Warnung sein, die Vermittlung neuer Ergebnisse und Einsichten der Forschung an den vielzitierten historisch interessierten Laien nicht solchen Autoren zu überlassen, die dieser Aufgabe in so eklatanter Weise nicht gewachsen sind, wie das bei Kellmann der Fall ist. Es wäre ermüdend, all die Ungereimtheiten, Fehler, sprachlichen Schludrigkeiten und Stilblüten einzeln aufzuzählen, mit denen der aufmerksame Leser in diesem Buch konfrontiert wird. Hinzu kommen Vulgärpsychologie (schon die Augen des jungen Stalin sind „ebenso hellwach wie hinterlistig“, S. 17) und bisweilen ein unangenehm naivlicher Tonfall (die 25.000 Rubel, die einige Revolutionäre 1907 bei dem berühmten großen Geldraub von Tiflis erbeuten, sind für Kellmann „eine schlichtweg unvorstellbare Summe“, S. 23). Der Lektor, der das Buch zum Druck freigegeben hat, hat auf ganzer Linie versagt.

Bereits die Behandlung von Stalins Kindheit und Jugend verrät Kellmanns mangelnde Vertrautheit mit dem georgischen Kontext, in dem der spätere Diktator aufwuchs: „Josef sprach zu Hause mit seiner Mutter georgisch, genauer: ossetisch“ (S. 10). Was denn nun – georgisch oder ossetisch? Das Ossetische ist keine Spielart des Georgischen, sondern die Sprache eines mit den Georgiern nicht verwandten Volkes. Die Ölquellen in Baku standen keineswegs unter ausschließlicher Kontrolle der amerikanisch-britischen Caspian Oil Company (S. 24); es gab auch viele einheimische Unternehmer, die durch das Öl reich wurden. Lenin wird ohne jeden ironischen Unterton als „Genie“ bezeichnet (S. 61), Trotzki als „genialer Denker“ (S. 71), Bucharin als „Reformkommunist“ (S. 127).

Sowjetische Frauen, die ihre Männer im Krieg verloren haben, werden allen Ernstes „Kriegerwitwen“ genannt (S. 240). Die Umbenennung Petersburgs zu Beginn des Ersten Weltkrieges bestand laut Kellmann darin, dass einfach das „Sankt“ aus dem Namen gestrichen wurde. Bei ihm heißt die Metropole an der Newa folglich bis zu Lenins Tode Petersburg, nicht etwa Petrograd. Der berühmte jugendliche Denunziant Pawlik Morosow „verpfeift“ seine Eltern „wegen einiger Bagatellen“ (S. 94), eine Untertreibung, in der sich Kellmanns Unkenntnis der Stalinzeit drastisch enthüllt. Die neuen kommunistischen Führungskräfte in der Wirtschaft, die zu Beginn der 1930er-Jahre an die Stelle der bürgerlichen Spezialisten treten, haben „freilich von Tuten und Blasen keine Ahnung“ (S. 103).

Als Generalsekretär war Stalin nicht „Vorsitzender des Politbüros“ (S. 63); eine solche Funktion gab es gar nicht. Ebenso war Lenin niemals „Vorsitzender der Partei“ (S. 64). Das Fraktionsverbot erfährt bei Kellmann eine kuriose Deutung: Die organisatorische Einheit der Partei habe vor der ideologischen Einheit rangiert (S. 62). Ob Stalins zweite Frau Nadjeshda Allilujewa in den 14 Jahren ihrer Ehe 10 (!) Abtreibungen vornehmen ließ (S. 85), wie Kellmann irgendwo gelesen hat, darf bezweifelt werden. Hält die weibliche Physis derlei überhaupt aus? Die Ehefrau von Stalins Sekretär Poskrebyschew wurde nicht 1952, sondern schon 1941 erschossen (S. 247). Es stimmt nicht, dass „praktisch alle Mitglieder“ der Familie Allilujew auf Stalins Geheiß liquidiert wurden (S. 123); nur zwei von ihnen, Pawel Allilujew und Stanislas Redens, ereilte dieses Schicksal. Molotow hat 1943 nicht an der Konferenz von Casablanca teilgenommen (S. 213). Mitunter provoziert Kellmann den Leser ungewollt zu Ausbrüchen stürmischer Heiterkeit: „Swetlana [Stalins Tochter] erzählte, dass er [Stalin] einmal Pfeife rauchend in seinem Zimmer auf und ab ging und dabei andauernd auf den Boden spuckte. Als sein Papagei daraufhin das Spuckgeräusch nachahmte, schlug Stalin ihm die Pfeife so heftig auf den Kopf, dass der Vogel tot umkippte.“ (S. 85f.) Marx hatte also tatsächlich recht, als er schrieb, weltgeschichtliche Tatsachen ereigneten sich zweimal, einmal als Tragödie, das zweite Mal als Farce: Iwan der Schreckliche erschlägt seinen Sohn mit einem Stock; Stalin erschlägt seinen Papagei mit einer Pfeife. Manche von Kellmanns Einlassungen wirken nachgerade albern, wie etwa die Behauptung, Stalin habe während des Terrors Jelena Stassowa bereitgehalten, um die widerspenstige Krupskaja als Lenins Witwe abzulösen. Die Krupskaja habe Stalin Szenen gemacht, weil er unschuldige Leute verhaften lasse und „die politische Erbschaft ihres Mannes“ zerstöre (S. 117). Hätte sich Kellmann eingehend mit dem Februar-März-Plenum des Zentralkomitees von 1937 beschäftigt, dann wäre ihm aufgefallen, dass die angeblich so furchtlose und standhafte Frau ganz kleinlaut ihre Zustimmung zur Verstoßung Bucharins gab, obgleich dieser doch einst Lenin und ihr selbst sehr nahe gestanden hatte.

Was Kellmann über Stalin und den Terror von 1937/38 verlauten lässt, löst beim kundigen Leser abwechselnd Fassungslosigkeit und Empörung aus. Der Diktator entwickelt laut Kellmann zunächst eine „bolschewistische Identität“ (S. 36f.), durchläuft dann aber einen „skrupellosen Wandlungsprozeß vom Georgier über den Bolschewisten bis hin zum großrussischen Chauvinisten“ (S. 55). Was ihn antreibt, das ist „der Wille zur Macht“ (S. 86). Über den Terror heißt es: „Es war Wahnsinn, aber mit Methode, und es war Terror, aber mit System.“ (S. 116) Stalin verfolgt mit dem Terror das Ziel, „jeden Lebensbereich des ‚homo sovieticus“ seinem Willen zu unterwerfen (S. 133). Dass die Sowjetbürger sich nicht gegen den Terror gewehrt haben, ist Zeichen ihrer „wahnhaft-masochistischen Hörigkeit“ gegenüber Stalin, zu der sie infolge eines „gigantischen Degenerationsprozesses“ herabgesunken sind (S. 117).

Überhaupt ist der Terror „ein gigantischer Staatsstreich gegen die eigene Partei und gegen das eigene System“ (S. 133). Das hat man sich also unter „griffig und lesbar“ präsentierter Geschichte vorzustellen? Immer wieder verstrickt sich Kellmann in teils groteske Widersprüche. Erst heißt es, Stalin habe zu Beginn der 1920er-Jahre Zehntausende Funktionäre gefördert und auf wichtigen Posten installiert, „die meisten davon nach persönlicher Prüfung und Verpflichtung“. Ihre Dankbarkeit und Loyalität seien das Fundament seiner Herrschaft gewesen (S. 64). Der Terror trifft dann aber Tausende von Kommunisten, die „ohne oder sogar gegen Stalin“ in der Partei aufgestiegen sein sollen (S. 116, S. 134). Wie passt das zusammen? Laut Kellmann hat Stalin Bucharins Tod gebraucht, um ungehindert gegen die Führung der Roten Armee vorgehen zu können (S. 128), eine reichlich bizarre Behauptung. Allerdings erfolgte die Säuberung der Armeespitze bereits im Sommer 1937, während Bucharin erst im März 1938 verurteilt und hingerichtet wurde. Auch hier hätte der Lektor ein Fragezeichen an den Rand des Textes setzen müssen. Übrigens „darf“ Bucharin die sowjetische Verfassung von 1936/37 ausarbeiten, um „anschließend“ zum Tode verurteilt zu werden (S. 119). Was soll man dazu sagen?

Nirgendwo ist zu spüren, dass sich Kellmann wirklich an den Interpretationen der neueren Stalinismusforschung orientiert hat. Der Terror ist bei ihm einfach ein „Blutaustausch“ (S. 130). Zu diesem Schluss kann er nur kommen, weil er alle Opfergruppen, die nicht der Kommunistischen Partei, der Armee und den Wirtschaftsapparaten angehörten, ausblendet. Der Stalinkult trägt aus Kellmanns Sicht die „unübersehbaren Merkmale eines schlichtweg unbegrenzten babylonischen Götzenkultes“ (S. 135). Über Entstehung und Funktion des Kultes wird der Leser im Unklaren gelassen. Über das Verhältnis der Bolschewiki zur Gewalt, über das krude und zugleich folgenschwere Freund-Feind-Schema, das ihrem Weltbild zugrunde lag und ihre Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit prägte, hat Kellmann nichts zu sagen. Die alltägliche Herrschaftspraxis unter Stalin, das Nebeneinander von Institutionen und informellen Gremien der Entscheidungsfindung, interessieren ihn nicht. Schon 1929 agiert Stalin als „unumschränkter Alleinherrscher“ (S. 81ff.), und mit dieser Position verbindet sich für Kellmann offenbar die Vorstellung einer reibungslos laufenden Herrschaftsmaschinerie, auf die eigens einzugehen überflüssig ist. Gegner, mit denen sich Stalin auseinandersetzte, und vertraute Mitarbeiter, mit denen er sich umgab, tauchen nur schemenhaft auf – oder gar nicht.

Sinowjew und Kamenew treten in der ganzen Biografie kein einziges Mal (!) in Erscheinung, ebenso wie einige der engsten Mitstreiter Stalins wie Kaganowitsch, Schdanow, Malenkow und Mikojan. Da Schdanow nicht auftaucht, fallen der Kampf gegen das Kosmopolitentum und die Leningrader Affäre (1949/50) zwangsläufig unter den Tisch. Hier führt Kellmann sein eigenes Vorhaben, „Stalins Verbrechen“ zu behandeln, selbst ad absurdum. Auf Personennetzwerke, das eigentliche Fundament, auf dem Stalins Herrschaft ruhte, kommt er eigenartigerweise erst in einem längeren Epilog über Boris Jelzin und Wladimir Putin zu sprechen. Dafür behandelt er Dinge, die in einer Stalin-Biografie schwerlich etwas zu suchen haben: Das Verhältnis zwischen der „herrschsüchtigen“ Zarin Alexandra und dem Wunderheiler Rasputin, die Machenschaften Herbert Wehners in Moskau, Rudolf Heß’ Flug nach Schottland. In süffisanter Besserwisserei urteilt Kellmann über die ungenügende Kriegsvorbereitung der Sowjetunion: „Von einer verantwortungsvollen, realitätsnahen Administration bei einer der werdenden Groß- und Weltmächte wird man hier nicht gerade sprechen können.“ (S. 175) Gorbatschow wird „vom Leben bestraft“, weil er „mit allem, was er anfasste und tat, um Jahrzehnte zu spät“ kam (S. 274). So ein Pechvogel! Hier erübrigt sich jeder Kommentar.

Das Personenregister, Krönung dieses ebenso ärgerlichen wie überflüssigen Buches, spottet jeder Beschreibung; es scheint nach dem Zufallsprinzip zusammengestellt worden zu sein. Es fehlen Dutzende Personen, die im Text erwähnt werden, während andererseits die Decknamen, die Stalin vor 1917 benutzte, alle separat aufgeführt werden – aus welchem Grund auch immer.

Das Wort vom „biografischen Essay“, das Kellmann für sein Werk reklamiert, ist vollkommen deplaziert. Es erscheint angebracht, stattdessen von einer biografischen Skizze zu sprechen, und zwar von einer unbeholfen ausgeführten Skizze, die eher als grober Holzschnitt denn als subtil ausgearbeitete Radierung angelegt ist. Ein Essay hätte weitaus mehr zu leisten als ein weiteres Mal die ausgetretenen Pfade der konventionellen Stalin-Literatur zu beschreiten. Diesem Buch ist jedenfalls eine möglichst geringe Verbreitung zu wünschen.

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