H.-G. Haupt u.a. (Hgg.): Aufbruch in die Zukunft

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Titel
Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er-Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, CSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich


Herausgeber
Haupt, Heinz Gerhard; Requate, Jörg
Erschienen
Weilerswist 2004: Velbrück Wissenschaft
Anzahl Seiten
366 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michal Pullmann, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Karlsuniversität Prag

Die 1960er-Jahre haben einen besonderen Stellenwert in der heutigen Geschichtswissenschaft – die stetig steigende Zahl der Untersuchungen zu unterschiedlichen Aspekten dieses Jahrzehnts spiegelt die außergewöhnliche Bedeutung, die es für die Gesamtinterpretation des Jahrhunderts hat. Die Überschneidung von sozialen Wandlungsprozessen, alternativer Wertorientierung und Reformtätigkeit in der Wirtschaft verweist mit besonderem Nachdruck auf die Frage nach Ursachen und innerer Dynamik dieser Tendenzen bzw. nach der Durchsetzungskraft dieser Projekte. Die mitteleuropäische Perspektive scheint dabei umso wichtiger zu sein, da sich sowohl die intellektuellen Bewegungen als auch die Versuche um praktische Umsetzung auf beiden Seiten der Ost-West Grenze entfalteten. Die Analyse der unübersehbaren Parallelitäten, Konvergenzen, aber auch der vielen Unterschiede stellt somit eine beachtliche intellektuelle Herausforderung dar.

Im Zentrum der Aufmerksamkeit des Sammelbandes „Aufbruch in die Zukunft“ stehen die Reformprojekte und die Zukunftsrhetorik der 1960er- Jahre und deren Stellenwert im historischen Wandel. Untersuchungsgegenstände sind Wirtschaftsreformen, Sozialpolitik, kulturelle Muster sowie politische Entscheidungsprozesse in der DDR, der Tschechoslowakei und der Bundesrepublik. Ein Beitrag beschäftigt sich mit Polen. Die Beiträge widmen sich den utopischen Energien, die diesen Themenfeldern seinerzeit inhärent waren. Die kulturgeschichtliche Orientierung ermöglicht es dabei den meisten AutorInnen, das Handeln der Akteure im Hinblick auf Vorstellungen und Visionen zu interpretieren, anstatt primär utilitaristischen Logiken zu unterstellen. Anhand der kommunikativen Praxis wird rekonstruiert, wodurch die Glaubwürdigkeit der Systemrationalität bzw. die Attraktivität alternativer Projekte bedingt waren und wie der Wandel von Vorstellungen und Wertungen zu erklären ist.

Aus dieser Perspektive ergibt sich die Gliederung des Sammelbandes. Der erste Schwerpunkt liegt auf den jeweiligen ökonomischen Konzepten und Reformen der 1960er-Jahre – sowohl in den beiden deutschen Staaten (Georg Altmann über das Stabilitätsgesetz von 1967 in der Bundesrepublik und André Steiner über die Reformprojekte in der DDR), als auch in der Tschechoslowakei (Maria Köhler-Baur) und Polen (Dagmara Jajeśniak-Quast). Der Fokus bleibt allerdings keineswegs auf das Feld der Wirtschaft beschränkt, sondern nimmt auch die sozialutopischen Projekte in den Blick: Vier Beiträge des zweiten Abschnitts betrachten die Zukunftsplanung in ihrer sozial-kulturellen Dimension. Die Themen dieser Beiträge sind die Futurologie in der Bundesrepublik (Alexander Schmidt-Gernig), Science-Fiction in beiden deutschen Staaten (Hans-Edwin Friedrich), Zukunfts- und Fortschrittsauffassung in der DDR (Martin Sabrow) und die Kernenergiedebatten in der Bundesrepublik und der DDR (Albrecht Weisker). Gegenstand des dritten Abschnitts sind die Grundzüge einer Verwissenschaftlichung von Planung und Projektierung. Unter dem Stichwort „Humankapital“ werden unterschiedliche gesellschaftliche Felder untersucht, nämlich die Bedeutung von und der Umgang mit Bildung in der Bundesrepublik und der DDR (Ralph Jessen), Politikberatung in der DDR und der ČSSR (Ralf Kessler), Sozialpolitik in der DDR und der ČSSR (Christoph Boyer) und politische Planung in der Bundesrepublik (Gabriele Metzler und Michael Ruck). Im letzten Abschnitt werden dann zwei Teilaspekte des kulturellen Wandels berührt: der Generationenwechsel in der DDR (Birgit Dahlke) und der bedeutende kulturelle Aufschwung in der Slowakei (Uta Raßloff).

Die Zukunftsvisionen hatten in den demokratischen Gesellschaften und in den Diktaturen jeweils eine eigene Dynamik und eine beträchtliche (de-)legitimierende Wirkung. Der Sammelband nutzt in dieser Hinsicht die Vorteile eines Vergleichs über die Ost-West Grenze hinweg. Ähnliche Vorannahmen, wie die Vorstellung von der ökonomischen Planbarkeit oder von den spezifischen Vorteilen bestimmter Marktelemente, wurden im jeweiligen Kontext zum Anstoß unterschiedlicher Entwicklungen. Eine Konvergenz auf der Ideenebene widerlegt der Sammelband eher: Die AutorInnen dokumentieren, dass die rhetorische Abgrenzung dem konkurrierenden Modell gegenüber ein wichtiger Bestandteil politischer Legitimierung blieb. Vor diesem Hintergrund treten allerdings manche Gemeinsamkeiten oder Parallelen hervor – vor allem hinsichtlich der Themen, der Debattenteilnehmer und der Reformpläne. Besonders ausgeprägt scheint diese inhaltliche Parallelität im wechselseitigen Bezug der Markt- und Planungselemente in den wirtschaftlichen Reformprojekten.

Der Sammelband unterstreicht die außerordentliche Bedeutung, die Expertengremien (oder allgemeiner: Teilöffentlichkeiten) zukam. Auch wenn die öffentlichen Räume in ganz unterschiedlichem Maße institutionell kontrolliert wurden und daher unterschiedliche Stellenwerte hatten, ist die Stabilisierung und innere Dynamik beider Systeme ohne eine umfassende Institutionenanalyse kaum zu erklären. Im Unterschied zum westlichen Modell, in dem ein Transfer der Themen und Begriffe in die breite Öffentlichkeit nicht selten einen Wandel der politischen Kultur zur Folge hatte, konnte diese Dynamik in der Diktatur immer gebrochen oder verzerrt werden. Z.B. legt Ralph Jessen in seinem aufschlussreichen Beitrag über zwei deutsche Bildungsdebatten sehr pointiert dar, dass die Unterschiede in der Diskussionskontrolle – vor dem Hintergrund mancher überraschender Parallelen hinsichtlich der Themen und der Akteure – ganz gravierende Folgen für die Entwicklung des jeweiligen Bildungswesens nach sich zogen (S. 229f.). Trotz unbestreitbarer Restriktionen entstanden allerdings auch im Rahmen der Diktaturen und ihrer Teilöffentlichkeiten wichtige Freiräume für Eigeninitiativen, selbst dann, wenn die Gremien ursprünglich zwecks Wissenschaftssteuerung, Konsultationen, Beschlussvorbereitungen für die Partei oder zur Ausarbeitung der Reformvorschläge errichtet worden waren. Deren (de-)stabilisierende Wirkung war dabei von der Reichweite des offiziellen Orientierungsverlusts und von der öffentlichen Präsenz interner Krisen abhängig.

Diese Spannung zwischen Meinungspluralisierung und Systemkrise greifen die meisten Beiträge auf. Die konzeptionelle Verbindung von Systemzwängen und Deutungsrahmen wird im Sammelband allerdings nicht ganz einheitlich gezogen. Besonders anregend ist in dieser Hinsicht der semantisch-kritische Ansatz Martin Sabrows: In seinem Beitrag rekonstruiert Sabrow meisterhaft die Schrumpfung, ja sogar den allmählichen „Sinnverlust“ des Fortschrittsbegriffs (S. 183) in der DDR. Anhand einer Analyse des semantischen Wandels dieses Begriffs – von Visionen einer künftigen Freiheit bis zur spätsozialistischen normativen Akzeptanz der Systemzwänge – gelingt es ihm, die (de-)legitimierende Wirkung des Fortschrittsbegriffs aufzuzeigen.

Den hohen Stellenwert von Streitigkeiten und Kontroversen für die Durchsetzung alternativer Vorstellungen und die Dynamik der Zukunftsvisionen betonen André Steiner und Maria Köhler-Baur in ihren sehr wertvollen Beiträgen: Die konfliktreichen Debatten über die Wirtschaftsreformen in der DDR und in der ČSSR spiegelten die innere Spannung zwischen den Systemansprüchen und den Wertehorizonten. Gerade diese konstitutiven Spannungsfelder – den Bestrebungen um höhere Effizienz einerseits und um symbolische Verbindlichkeit einer sozial gerechten Wirtschaft anderseits, dem Streben nach Machtsicherung versus dem Zwang zu ihrer Rechtfertigung oder der Widerspruch zwischen der Förderung von Fachkompetenz und dem Primat der Politik – beförderten die Streitbereitschaft der Akteure. Dies führte zu einer Bandbreite von Stellungnahmen – von der beharrlichen Verteidigung der zentralen Leitung der Wirtschaft bis zur Kultivierung alternativer Modelle und Reformvorschläge. Unterschiedlich war hier die Reichweite der Debatten: Während die Kontroversen in der DDR auf die Parteispitze beschränkt blieben, bezogen sie in der Tschechoslowakei ein ziemlich breites Expertenpublikum ein.

Eine andere Perspektive auf das Verhältnis von Systemkrise und Zukunftsrhetorik verfolgt der an strukturfunktionalistische Begrifflichkeit angelehnte Beitrag von Christoph Boyer: In seinem Beitrag über Sozialpolitik und Gesellschaftsreform in der DDR und der ČSSR werden die Wandlungsprozesse als eine Art systemimmanente Antwort auf die Krisen und Defizite der Steuerung erklärt. In diesem Fokus ist die Gesellschaft in der Diktatur ein „Objekt der Steuerungsversuche von oben“ (S. 258) und die Sozialpolitik demzufolge eine „Pazifizierung der Bevölkerung durch Sozialleistungen und Konsum“ (S. 249). Solche strikte Unterscheidung zwischen dem Parteiregime und der „breiten Masse“ und die Annahme von strategischen Beziehungen zwischen diesen Gesellschaftsbereichen kann allerdings den zunehmenden Bezug der Akteure auf Zukunftsvisionen kaum erklären. Bleibt der Bereich der nicht-utilitaristischen Kommunikation und der unterschiedlichen Kämpfe um Anerkennung ausgeblendet, wird den historischen Akteuren die Fähigkeit, im Spannungsfeld unterschiedlicher Visionen Missstände zu identifizieren, implizit abgesprochen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass in Boyers strukturfunktionalistischer Zeitdiagnose ein utopischer „Aufbruch in die Zukunft“ entweder als eine Manipulationsstrategie oder als quasi falsches Bewusstsein, also eher als eine Randerscheinung auf einem vorbestimmten Weg zum Zusammenbruch erscheint.

In seiner Anlage und den empirischen Befunden bietet der Sammelband wichtige Erkenntnisse zum Verständnis der 1960er-Jahre. Der Einblick in die Visionen, Träume, Phantasien und Hoffnungen, die in den kulturellen Experimenten, politischen Entwürfen und wirtschaftlichen Reformen zum Ausdruck kamen, ermöglicht es, die Hauptimpulse und Artikulationsmittel des gesellschaftlichen Selbstverständnisses in dieser Zeit besser zu verstehen. Durch den Vergleich über die Ost-West Grenze hinweg werden darüber hinaus die Bedeutung der Projekte im jeweiligen Kontext und die Potentiale ihrer Umsetzung besser sichtbar. Dass der Vergleich im Sammelband nicht symmetrisch angelegt ist, stellt für seine innere Einheit kein schwerwiegendes Problem dar, da die Frage nach der Bedeutung und der inneren Struktur der Zukunftsorientierung im Vordergrund steht. Mit Blick auf die Prägung und Entfaltung dieses „Aufbruchs in die Zukunft“ in den 1960er-Jahren wäre zu hoffen, dass an den Sammelband weitere Untersuchungen über Utopien und ihre gesellschaftlichen Folgen anschließen.

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