M. S. Cullen (Hg.): Das Holocaust-Mahnmal

Cullen, Michael S. (Hrsg.): Das Holocaust-Mahnmal. Dokumentation einer Debatte. Zürich/München 1999 : Pendo Verlag, ISBN 3-85842-519-2 296 S. € 10,90

Heimrod, Ute; Schlusche, Günter; Seferens, Horst (Hrsg.): Der Denkmalstreit - das Denkmal?. Die Debatte um das "Denkmal für die ermordeten Juden Europas". Eine Dokumentation. Berlin 1999 : Philo Verlag, ISBN 3-8257-0099-2 1298 S. € 75,00

Jeismann, Michael (Hrsg.): Mahnmal Mitte. Eine Kontroverse. Köln 1999 : DuMont Buchverlag, ISBN 3-7701-4820-7 330 S. € 17,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Holger Kirsch, Universität Bielefeld

"Es bedarf archivierender Anstrengungen, um alle Filiationen des Streites, die politischen und parlamentarischen Winkelzüge, die staatskünstlerischen Ambitionen, die therapeutischen Bemühungen, die medialen, methodischen, motivischen und bildsprachlichen Vorschläge, schließlich alle Eitelkeiten, Heucheleien, Bedenken und echten Bekenntnisse zu sortieren und präsent zu halten." 1

Mit diesem Stoßseufzer kommentierte Eduard Beaucamp im Frühjahr 1999 die verworrene Debatte um das geplante Berliner Holocaust-Mahnmal. Inzwischen liegen drei Dokumentationen vor, die es ermöglichen, den Verlauf und die kontroversen Aspekte dieser Diskussion noch einmal nachzuvollziehen. In einer Rezension wäre es allerdings ein aussichtsloses Unterfangen, die Vielzahl der Beiträge in Kurzform resümieren zu wollen. Hier soll das Augenmerk eher auf die unterschiedlichen Konzeptionen der Sammelbände gelenkt werden. Dies dient zunächst der formalen Information, was man von den drei Werken erwarten kann (und was nicht), leitet aber auch zu inhaltlichen Aspekten des Denkmalstreits über. So wird abschließend zu fragen sein, wozu die "archivierenden Anstrengungen" eigentlich dienen sollen.

Der in Berlin lebende amerikanische Historiker Michael S. Cullen veröffentlichte im Januar 1999 den ersten der drei vorzustellenden Bände; es ist zugleich der preisgünstigste und handlichste. Nach einem Vorwort von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der die Debatte als "ein Stück Selbstaufklärung der Gesellschaft" bezeichnet (S. 11), erläutert der Herausgeber seine Intentionen ("Gegen die Monopolisierung des Gedenkens", S. 13-19): Die Idee zu dem Band sei während der Berliner Colloquien von 1997 und im Verlauf des dubiosen Entscheidungsverfahrens von 1998 entstanden. Cullen nimmt für sich in Anspruch, als erster für einen Beschluß durch den Deutschen Bundestag eingetreten zu sein - was freilich nur bedingt zutrifft, hatte der SPD-Abgeordnete Peter Conradi doch bereits Anfang 1996 zumindest eine Beteiligung des Bundestags verlangt 2. Mit Recht übt Cullen Kritik am wiederholten Versuch der Denkmalsinitiatoren, Skeptiker des Projekts als generelle Gegner des Gedenkens zu stigmatisieren, und warnt vor einer "unproduktiven Ungeduld" (S. 18). So hat sein Buch zum einen den Anspruch, wesentliche Stellungnahmen leichter zugänglich zu machen; zum anderen trägt es den Charakter einer Streitschrift, die ein erneutes Nachdenken über die Prämissen des Vorhabens anregen soll.

Der Hauptteil umfaßt 32 Pressebeiträge, die den Zeitraum vom November 1994 bis zum August 1998 abdecken und chronologisch geordnet sind. Die Auswahl ist für die publizistische Kontroverse nicht ganz repräsentativ: Allein 14 Artikel sind der FAZ entnommen, wohingegen sich aus der taz kein einziger Text findet (obwohl dort wichtige Kommentare z.B. von Aleida Assmann und Micha Brumlik erschienen). Mit allein sechs Artikeln wird Salomon Korn etwas zu stark in den Vordergrund gerückt, während man einen der Essays von James E. Young vergeblich sucht. Dies hängt zum Teil mit Cullens Vorannahme zusammen, daß Fragen der Ästhetik in der Diskussion nachrangig seien. So verzichtet er auch auf Abbildungen der künstlerischen Entwürfe und reduziert die Kontroverse damit um einen wesentlichen Aspekt. Positiv ist jedoch hervorzuheben, daß er in den Anhang die Ausschreibungstexte von 1994 und 1997 aufgenommen hat, mit Hilfe von zwei Karten eine Übersicht der möglichen Denkmalsstandorte gibt sowie eine gründliche Chronik des Verfahrens zusammengestellt hat, die bis zum Oktober 1998 reicht.

Etwas umfangreicher (und damit auch teurer) ist die Dokumentation des FAZ-Redakteurs Michael Jeismann, die im März 1999 in den Buchhandel kam. Der Herausgeber hat sich für eine erweiterte Perspektive entschieden: In seiner nützlichen Einleitung ("Zeichenlehre. Vom nationalen Kriegsgedenken zum kulturellen Gedächtnis", S. 7-32) faßt Jeismann die Pläne für ein Bonner 'Ehrenmal' zusammen, die bis in die frühen 1960er Jahre zurückreichen und nach der deutschen Einheit schließlich zur Umgestaltung der Neuen Wache geführt haben. So sieht er zutreffend ein "Bedingungsverhältnis" (S. 31) zwischen dieser 'Zentralen Gedenkstätte', die Juden ausschließt, und dem zentralen Holocaust-Mahnmal. Sein Versuch, mit einer Textauswahl noch einmal die Kontroverse um die Neue Wache von 1993 zu dokumentieren (S. 34-53), fällt allerdings zu knapp aus, um einen wirklichen Vergleich der beiden Projekte zu ermöglichen. Leider geht Jeismann in der Einleitung auch nicht näher auf den beziehungsreichen Titel "Mahnmal Mitte" ein, der durchaus als politische Stellungnahme gegen ein Streben des vereinten Deutschlands nach Zentralität verstanden werden könnte 3. Hingegen spart er nicht mit Kritik an Lea Roshs "Prunk der Reue" (S. 29), an der Hierarchisierung der NS-Opfergruppen und an Michael Naumanns wiederholten Kompromißvorschlägen.

Der Hauptteil dieses Bandes beinhaltet 56 kommentierende Presseartikel, die vom April 1989 bis zum Januar 1999 reichen. Lediglich in sechs Fällen gibt es Überschneidungen mit Cullens Dokumentation. Während dort Salomon Korn der dominierende Autor ist, finden sich bei Jeismann allein sechs Artikel seines Redaktionskollegen Eduard Beaucamp, eines entschiedenen Befürworters des Entwurfs "Eisenman II". Auch sonst herrscht ein gewisses Übergewicht von Texten aus der FAZ, unter denen man allerdings die Stellungnahmen von Christian Meier vermissen mag. Im großen und ganzen ist die Auswahl jedoch eine hilfreiche Ergänzung zu Cullens Sammelband. Um die Beiträge übersichtlicher anzuordnen, nimmt Jeismann eine Periodisierung in vier Phasen vor: "Die erste Initiative und ihr Scheitern" (April 1989 - Februar 1996), "Die zweite Ausschreibung" (Februar 1996 - Januar 1998), "Eisenman/Serra - aber kein Denkmal" (Februar - Oktober 1998), "Die Flucht ins Museum" (Oktober 1998 - Januar 1999). Diese Einteilung ist der Aktualität verpflichtet und wird bei einem späteren Rückblick wohl anders ausfallen müssen. Schon aus heutiger Sicht ist es irreführend, die erste Phase derart auszudehnen, denn in ihr lag eine wichtige Zäsur: 1992 machten der Bund und das Land Berlin die Initiative des privaten Förderkreises zu einem staatlichen Vorhaben, was die Zweckbestimmung des Denkmals grundlegend veränderte.

Während Cullen den Planungsverlauf mit Hilfe der separaten Chronologie dokumentiert, hat sich Jeismann dafür entschieden, zwischen den Kommentaren kürzere Presseberichte zum Fortgang des Verfahrens wiederzugeben; dies macht den Band trotz der genannten Grobgliederung etwas unübersichtlich. Beide Bücher decken sich aber insofern, als auch Jeismann die Ausschreibungstexte (zumindest in Auszügen) aufgenommen hat. Im Vergleich zu Cullen räumt er der ästhetischen Dimension einen größeren Stellenwert ein. Dies zeigt sich neben der Textauswahl daran, daß in dem Band einige der mit Preisen ausgezeichneten Entwürfe abgebildet sind. So erhält der Leser eine gewisse Vorstellung davon, welche Alternativen in die engere Wahl kamen. Die Zahl der Fotos ist allerdings - vermutlich aus Kostengründen - zu gering, um einen repräsentativen Eindruck von den künstlerischen Wettbewerben zu vermitteln.

Eine gänzlich andere Kategorie der Dokumentation haben Ute Heimrod, Günter Schlusche und Horst Seferens mit ihrem monumentalen Werk vorgelegt. Sie greifen das wohl zuerst von James E. Young geprägte Diktum auf, daß die Debatte selbst das eigentliche Mahnmal sei - "eine goldene Brücke, die sich inzwischen zum Super-Highway ausgewachsen hat" 4. Ihre Intention ist es jedoch nicht, diese Debatte zum Mahnmalsersatz zu erklären; mit eigenen Bewertungen halten sich die Herausgeber im Gegensatz zu Cullen und Jeismann ganz zurück (wahrscheinlich auch deshalb, weil sie an der organisatorischen Seite des Verfahrens selbst beteiligt waren 5). Das erklärte Ziel besteht vielmehr darin, "die gesamte Debatte (...) in repräsentativem Umfang darzustellen" (Vorbemerkung, S. 7). Ob es dafür unbedingt der plakativen Werbung auf dem Buchrücken bedarf ("Ein Querschnitt durch die Seele der Nation"), ist freilich zweifelhaft. Die knappen Zusammenfassungen der Herausgeber vor jedem Kapitel sind hingegen betont sachlich gehalten.

Der im Juli 1999 erschienene Band reicht bis zu den Anhörungen im Kulturausschuß des Deutschen Bundestages vom März und April 1999. Das 'offene Ende' ist vertretbar, da dies für die Diskussion ja durchaus symptomatisch ist. Zur Dokumentation der Bundestagsentscheidung vom Juni 1999, den Reaktionen und einer eventuellen Realisierung ist bereits ein Ergänzungsband geplant (S. 8). Dem eigentlichen Textkorpus haben die Herausgeber eine Chronik vorangestellt, die den Zeitraum von 1979 bis 1999 umfaßt (S. 27-33). Hier finden sich neben den Angaben zum "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" detaillierte Hinweise zur sonstigen Entwicklung der Berliner Gedenkstättenlandschaft.

Während Jeismann den Konnex zwischen Neuer Wache und Holocaust-Denkmal betont, machen Heimrod, Schlusche und Seferens auf die Diskussion um das ehemalige Gestapo-Gelände aufmerksam, das Lea Rosh 1988 zunächst als Standort für das Mahnmal vorgesehen hatte. So ist der erste größere Abschnitt der "Entstehung des Denkmalprojekts" einschließlich seiner Berliner Vorgeschichte gewidmet. Die weiteren Kapitel folgen im wesentlichen der Chronologie, sind aber von "Exkursen" zu den Streitfragen "Konzeption", "Ikonographie" und "Standort" durchbrochen. Dies leuchtet nicht ganz ein, weil es unvermeidlich zu Überschneidungen mit den übrigen Kapiteln kommt und manche Artikel doppelt abgedruckt werden mußten.

Die Dokumentationen von Cullen und Jeismann beschränken sich weitgehend auf Presseartikel; das Quellenspektrum bei Heimrod, Schlusche und Seferens ist erheblich breiter angelegt. Neben weit über 500 (!) Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln - die Mehrzahl davon (knapp 150) aus dem "Tagesspiegel" - finden sich die früher bereits separat publizierte Kurzdokumentation des Wettbewerbs von 1994/95, das Protokoll der Bundestagsdebatte von 1996, eine vollständige Dokumentation der drei Colloquien von 1997, Erläuterungen und Abbildungen der neuen Entwürfe von 1997, die "Informationsbriefe" Peter Conradis und weitere, zum Teil bisher unveröffentlichte Briefe sowie schließlich die Stellungnahmen im Kulturausschuß des Bundestages vom Frühjahr 1999. Die Darstellung der 528 Entwürfe aus dem ersten Wettbewerb nimmt einen breiten Raum ein (S. 273-399) - nicht ganz zu Unrecht hatte Henryk M. Broder seinerzeit von einem "Steinbruch für Völkerkundler, Psychologen und Verhaltensforscher" gesprochen 6.

Natürlich wird das Werk durch die Materialfülle etwas unhandlich; das Personen- und das Quellenregister sind deshalb besonders zu begrüßen. Diese Listen bieten nicht nur eine Navigationshilfe, sondern erlauben auch einen inhaltlichen Einstieg: Wer hat sich an der Debatte wann und wo beteiligt? Welche Autoren haben ihre Position im Verlauf der Diskussion verändert, welche haben sie konsequent (oder uneinsichtig) beibehalten? Für derartige Stichproben ist der Band eine unentbehrliche Fundgrube. Die Zahl der falschen Namen, Daten und anderen Druckfehler hält sich trotz der Textmengen in einem vertretbaren Rahmen 7.

Auf den ersten Blick scheinen die 1.300 Seiten so ziemlich alles zu enthalten, was zum Holocaust-Mahnmal in Deutschland geschrieben wurde. Dies ist eine geschickte Diskursstrategie der Eingemeindung: Selbst die schärfsten Kritiker des gesamten Vorhabens oder bestimmter Entwürfe werden zum Teil des Denkmals erklärt. Doch keine noch so umfangreiche Dokumentation kann wirklich das gesamte Material enthalten - was auch nicht unbedingt sinnvoll wäre. Immerhin fünf der von Cullen und dreizehn der von Jeismann ausgewählten Texte finden sich bei Heimrod, Schlusche und Seferens nicht. Es muss hier dahingestellt bleiben, ob dies Zufall oder eine bewußte editorische Entscheidung war. Interessant ist jedenfalls, um welche Beiträge es sich im einzelnen handelt. So hat Cullen einen bedenkenswerten Essay aufgenommen, in dem Hans-Ernst Mittig die Kategorie der 'Schuld' problematisiert: Statt auf die Judenverfolgung beschränkt zu bleiben und einen ethnisch fixierten Schuldbegriff fortzuschreiben, solle die Denkmalsaussage eher die Verantwortung der heute Lebenden für eine menschenwürdige Zukunft in den Vordergrund stellen 8. Besonders wichtig ist in Cullens Dokumentation zudem ein Beitrag Heinrich August Winklers, der eine 'Holocaustfixierung' linker Intellektueller als "negativen Nationalismus" und "pseudoreligiös" bezeichnet 9. Diese Passage hat Martin Walser bekanntlich in seiner vieldiskutierten Friedenspreisrede aufgegriffen.

Auch bei Jeismann sind einige einschlägige Texte nachzulesen, die bei Heimrod, Schlusche und Seferens nicht enthalten sind; hingewiesen sei lediglich auf einen provozierenden Beitrag Karl Heinz Bohrers. Die "fehlende Formsicherheit im Gedächtnis des Holocaust" sieht er im Nichtvorhandensein eines epochenübergreifenden Langzeitgedächtnisses begründet: "Das Gedächtnis der Deutschen auf den Holocaust zu fokussieren nimmt ihnen die Kraft des Gedächtnisses als Ganzes und also auch die Kraft, den Holocaust symbolisch in ihr nationales Selbstverständnis aufzunehmen." 10

Wie immer man zu derartigen Positionen im einzelnen stehen mag - sie sind ohne Zweifel relevant, um den Stellenwert der Denkmalskontroverse aus einer allgemeineren Perspektive zu klären. Daher macht die Dokumentation von Heimrod, Schlusche und Seferens die Bände von Cullen und Jeismann keineswegs überflüssig. Wer sich einen raschen Überblick über die Hauptargumente verschaffen will, ist mit den beiden schmaleren Sammelwerken gut bedient; wer die Debatte im Detail analysieren will, kommt nicht umhin, alle drei Bücher zu konsultieren. Dies wirft indes die Frage auf, was das Erkenntnisziel derartiger Forschungen sein könnte. Alle Herausgeber haben sich weitgehend darauf beschränkt, "für zukünftige wissenschaftliche Analysen, Bewertungen und Einordnungen" das Material bereitzustellen (Heimrod/Schlusche/Seferens, Vorbemerkung, S. 8). Hier seien daher vier Vorschläge gemacht, unter welchen leitenden Hinsichten die Kontroverse genauer zu erschließen wäre:

1. In einem systematischen Ländervergleich müßte untersucht werden, welchen Stellenwert der Holocaust etwa in der deutschen und der amerikanischen Erinnerungskultur besitzt und wie sich dieser Stellenwert im Zeitverlauf gewandelt hat. Die einschlägige Studie von James E. Young ist additiv und nicht eigentlich vergleichend angelegt 11. Mit dem Hinweis, daß in den USA zuerst ein Holocaust-Mahnmal geplant war, bevor man sich für ein Museum entschied, läßt sich m.E. nicht hinreichend begründen, daß dies in Deutschland auch so sein müsse - die nationalen Besonderheiten werden dabei zu wenig berücksichtigt 12.

2. Aus kommunikations-, medien- und politikwissenschaftlicher Sicht wäre es lohnend, die Mobilisierungsstrategien der Akteure, die unterschiedlichen Darstellungsformen in der Presse und die generelle Konfliktlogik eines solchen Streitthemas in Deutschland zu analysieren. Wie wurde die relativ spezielle Frage eines Holocaust-Denkmals zu einem derart herausgehobenen Gegenstand? Ergeben sich die Blockaden des Entscheidungsverfahrens aus den Schwierigkeiten gerade dieses Themas oder aus generellen Fehlentwicklungen des politischen Systems? Ignatz Bubis' nicht ganz ernstgemeinter Hinweis auf Analogien zur Debatte um das Ladenschlußgesetz 13 sollte durchaus einmal überprüft werden.

3. Um die aktuelle Geschichtspolitik genauer beurteilen zu können, ist ein historischer Längsschnitt erforderlich: Stimmt es, daß die Denkmalsdebatte eine "Zäsur im Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte nach Auschwitz und in der Neubestimmung ihrer Rolle in Europa und in der Welt an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts" markiert (so Heimrod/Schlusche/Seferens, Vorbemerkung, S. 7)? Wenn ja, was unterscheidet dann die Erinnerungskultur vor und nach dieser Zäsur? Wie haben sich die hegemonialen Deutungsmuster verschoben? Momentan könnte man freilich auch argumentieren, daß die Gedenkdebatten der alten Bundesrepublik in wenig veränderter Form fortgeführt werden und von der notwendigen innen- und außenpolitischen Neubestimmung ablenken 14. Dies soll nicht heißen, daß die Erinnerung an den Nationalsozialismus künftig in den Hintergrund treten darf; aber es sollte zumindest nachdenklich stimmen, daß sich die gegenwärtige deutsche Selbstverständigung vorwiegend im Medium von Gedenkdebatten vollzieht.

4. Im Rahmen solcher Gedenkdebatten tauchen immer wieder Schlagworte wie 'Normalität', 'Trauer', 'Betroffenheit', 'Tätergesellschaft', 'Instrumentalisierung' usw. auf, die anklagend, ironisch oder bloß unreflektiert verwendet werden. Da die Beteiligten der Kontroverse nur selten ausdrücklich aufeinander Bezug nehmen, ist der sachliche Ertrag der Auseinandersetzungen bisher gering geblieben. Hier wären Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen gefordert, für begriffliche Differenzierungen zu sorgen, die im publizistischen Tagesgeschäft selbst nicht zu erbringen, für die dort verhandelten Themen aber unbedingt notwendig sind 15.

Das Verdienst der drei Dokumentationen ist es, auf derartige Desiderata aufmerksam zu machen. Die konkrete Realisierung eines "Denkmals für die ermordeten Juden Europas" hat nur dann Sinn, wenn die kulturellen Formen des Gedenkens auch weiterhin von einer Kommunikation über dieses Gedenken begleitet werden. Dazu gehört, daß den "archivierenden Anstrengungen" (Eduard Beaucamp) nun historiographische folgen.

Anmerkungen
1 E.B. [= Eduard Beaucamp]: Wortgläubige, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 23.3.1999, S. 49.
2 Vgl. Peter Conradi: Bescheiden trauern, in: FAZ, 3.1.1996, S. 27; Michael S. Cullen: Laßt Bonn entscheiden!, in: Tagesspiegel, 20.2.1997, S. 25.
3 Vgl. in diesem Sinne etwa Silke Wenk: Die Mutter in der Mitte Berlins: Strategien der Rekonstruktion eines Hauptstadtzentrums, in: Gisela Ecker (Hg.): Kein Land in Sicht. Heimat - weiblich?, München 1997, S. 33-55; dies., Identifikation mit den Opfern und Sakralisierung des Mordes. Symptomatische Fehlleistungen des Berliner Denkmalsprojekts für die ermordeten Juden, in: Fritz Bauer Institut (Hg.): Überlebt und unterwegs. Jüdische Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt a.M./New York 1997 (Jahrbuch 1997 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust), S. 341-375.
4 So Ulrich Clewing: Was lange währt, wird endlich Stein, in: tageszeitung, 25.6.1999, S. 3.
5 Ute Heimrod leitet ein Büro für "Architektur- und Kulturmanagement", das vom Berliner Senat mit der Organisation der Wettbewerbe beauftragt war; Günter Schlusche ist Mitarbeiter der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur; Horst Seferens ist Sprecher der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.
6 Henryk M. Broder: Deutschmeister des Trauerns, in: SPIEGEL, 17.4.1995, S. 222 ff., hier S. 222.
7 Neben etlichen kleineren Mängeln ist mir lediglich ein sinnentstellender Fehler aufgefallen: In Hanno Loewys und Christian Staffas "Thesen zum Wettbewerb für das 'Denkmal für die ermordeten Juden Europas'" (S. 546 f.) muss es statt "keine Chance" "eine Chance" (zur Realisierung des Denkmals durch eine zweite Wettbewerbsstufe) heißen. Vgl. den Abdruck dieses Texts von 1996 bei Christian Staffa / Jochen Spielmann (Hgg.): Nachträgliche Wirksamkeit. Vom Aufheben der Taten im Gedenken, Berlin 1998 (Schriftenreihe des Institutes für vergleichende Geschichtswissenschaft Bd. 1), S. 218 ff.
8 Hans-Ernst Mittig: Von der Schuld zur Verantwortung, zuerst in: Freitag, 18.4.1997; vgl. ausführlicher ders.: Künstler in Schuldgefühlen. "Denkmal für die ermordeten Juden Europas", in: Johannes Heil / Rainer Erb (Hgg.): Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Der Streit um Daniel J. Goldhagen, Frankfurt a.M. 1998, S. 279-294.
9 Heinrich August Winkler: Lesarten der Sühne, zuerst in: SPIEGEL, 24.8.1998, S. 180 f.
10 Karl Heinz Bohrer: Schuldkultur oder Schamkultur, zuerst in: Neue Zürcher Zeitung, 12.12.1998.
11 Vgl. James E. Young: Formen des Erinnerns. Gedenkstätten des Holocaust, Wien 1997, und meine Rezension: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensio/buecher/kija1198.htm.
12 Vgl. etwa "Ein Museum kann auch Mahnmal sein", in: Tagesspiegel, 20.12.1998, S. 25 (Interview mit Michael Naumann); Walter Reich: Die große Lektion, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), 14.8.1999, S. 13 (Reich war von 1995 bis 1998 Direktor des Washingtoner Holocaust-Museums). Zur amerikanischen Debatte vgl. Edward T. Linenthal: Preserving Memory. The Struggle to Create America's Holocaust Museum, New York u.a. 1995.
13 "Der Antisemitismus braucht keine Juden", in: SZ, 21.9.1998, S. 11 (Interview mit Ignatz Bubis).
14 So etwa Sonja Margolina: Geschichte im Fluß, in: Merkur 53 (1999), S. 677-685.
15 Aleida Assmann und Ute Frevert haben ein Forschungsprojekt zu den einschlägigen Stichworten deutscher Gedenkdebatten begonnen. Zur Kategorie der 'Trauer' bereite ich selbst eine Studie vor, für die ich den Denkmalstreit in systematischer Absicht untersuche.

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