D. Saccà Reuter: Salvatore Guiliano und die Sicilianità

Titel
Salvatore Giuliano und die Sicilianita - zwei sizilianische Mythen.


Autor(en)
Saccà Reuter, Daniela
Reihe
Internationale Hochschulschriften 448
Erschienen
Münster 2005: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Annemarie Gronover, Zeppelin-University, Friedrichshafen

Die Europäische Ethnologin Saccà Reuter untersucht in ihrer nun vorliegenden Dissertation zwei in der kulturwissenschaftlich-ethnologischen sowie historischen Sizilien-Forschung ebenso anspruchsvolle wie herausfordernde Themen: die Mythenbildung um den Banditen und Volkshelden Salvatore Giuliano und das Konzept der Sicilianità.

Salvatore Giuliano, der dynamisch junge und attraktive Bandit und Prototyp südländischer Maskulinität, steht für Familismus, Heldentum und Rebellion gegen die italienische Regierung in den 1940er-Jahren. In dieser Zeit wird er als gesetzloser und gewalttätiger Heroe vom Volk akzeptiert, das gegen Armut, Zukunftsangst und die Abhängigkeit vom Norden Italiens kämpft. Die Vorstellung von einer Sicilianità wurde seit dem 19. Jahrhundert von unterschiedlichen Interessengruppierungen zur Verfolgung politischer Ziele instrumentalisiert. Sie steht einerseits für historisch politische und ideologische Bedeutungen, etwa für essentialistische und ethnisierte Bilder von Sizilien, vom Mannsein und vom Familienleben. Andererseits steht die Sicilianità gegenwärtig für einen modo di vivere, einen Lebensentwurf oder eine condizione, eine Denkweise, ein Bedürfnis, ohne das dies notwendig auf ideologischen Hintergründen basiert.

Die Sicilianità ist seit den 1940er-Jahren untrennbar mit der Figur des Giuliano Salvatore verwoben, sodass die beiden Mythen im Kontext der Unabhängigkeitsbestrebungen Siziliens nicht einzeln betrachtet werden können. Saccà Reuter legt mit ihrer Dissertation eine äußerst überzeugende Forschung über Hintergründe, Politisierung und Mythologisierung der beiden Phänomene vor. Sie leistet damit für die Europäische Ethnologie und die von ihr geführte Debatte über die Topoi der sizilianischen Gesellschaft im engeren und die Gesellschaften des Mittelmeerraums im weiteren Sinne einen gewinnbringenden Beitrag.

Die Arbeit zeigt, dass nach der poststrukturalistischen Kritik an den Konzepten des Familismus, Klientelismus, der Mafia sowie von Ehre und Maskulinität ethnologische Forschung in Sizilien möglich ist, ohne diese Konstrukte erneut hervorzubringen. Vielmehr betont die Autorin, dass diese in ihrer kulturellen Bedeutung ernst genommen werden müssen, und plädiert daher für eine reflexive Auseinandersetzung mit alten und neuen Diskursen über diese Konzepte und deren Zusammenhang. Dies führt sie beispielhaft vor auf der Basis einer komplexen Quellenanalyse der damals wichtigsten sizilianischen Tageszeitungen und mit Hilfe einer Feldforschung, die vor allem auf Experteninterviews basiert.

Um das dichte Mythengewebe zu analysieren, fragt Saccà Reuter im einleitenden ersten Kapitel, wann der Giulianomythos genau entstanden ist und welche „sozialen Muster und kulturellen Identitätsfolien“ (S. 12) dabei entwickelt wurden. 1943 regierten die Alliierten Sizilien; die separatistische Bewegung Siziliens setzte sich gleichzeitig für ein von Italien unabhängiges Sizilien ein. Der Sozialrebell im Sinne von Hobsbawm verkörperte eine „ethnisierte Identitätsfestschreibung, die unter dem Namen Siciliantà zwischen 1943 und 1946 zum populistischen Hauptargument der separatistischen Bewegung in Sizilien geworden war“ (S. 11). Als Sizilien 1946 seinen regionalen autonomen Status innerhalb des italienischen Staates erhielt, war die Bewegung der Separatisten bereits gescheitert, Giuliano zum Mythos geworden und der politisierte Mythos der Sicilianità verlor zugleich seine Bedeutung. Saccà Reuters These resultiert aus der Untersuchung dieses kurzen historischen Moments, der Schnittstelle beider Mythen, wenn sie sagt: „Giuliano ist Sizilien ist Giuliano“ (S. 17).

Diese Tautologie entschlüsselt die Autorin, indem sie im zweiten Kapitel zunächst die Geschichte des Helden (20.11.1922 - 5.7.1950) erzählt. Die Erzählung ist weniger historisch und biographisch angelegt als eine Spurensuche nach spezifischen Erzählmustern und Bildern, die Giulianos Charakter und sein Schicksal hervorheben. Saccà arbeitet dabei mit Roland Barthes semiologischen Interpretationsebenen von Mythen. Im dritten Kapitel führt sie aus, dass die Produktion des Helden durch das öffentliche Medium der Zeitungen nur möglich war, weil es einen sizilianischen Mythos der Sicilianità bereits gegeben hat. Dies wird durch die synchrone und diachrone Analyse der Tageszeitungen im Zeitraum von 1945 und 1954 deutlich. Giuliano nutzte einerseits die Medien zur Konstruktion seiner Person und andererseits schufen die Medien seine Figur. Sehr gelungen ist die synchrone Analyse der Argumentationen von Journalisten, die aufzeigt, wie die oben erwähnten sizilianischen Topoi für je eigene Interessenlagen politisiert wurden. Die diachrone Betrachtung der Rezeption Giulianos hebt die Veränderungen der medialen Darstellungen hervor: Giuliano wurde unter mysteriösen Umständen von einem Freund nachts im Schlaf erschossen. Dieses gewaltsame Sterben und die Feier der Polizei, die sich für diesen Sieg rühmen lies, ist ein doppeltes Sterben, das Saccà um ein drittes erweitert: die von den Medien vorgenommene Demontage des von ihnen selbst geschaffenen Helden. Ihre These belegt sie im Rückgriff auf das Konzept der Liminalität von Victor Turner. Das gewalttätige und gesetzlose Verhalten des Banditen wurde von der breiten Bevölkerung in den 1943/1944er-Jahren deshalb toleriert, weil die politische und ökonomische Unabhängigkeit vom Norden ebenso überwunden werden sollte wie das durch den Krieg verursachte Elend. „Giulianos Schicksal war deckungsgleich mit der sizilianischen Realität jener Zeit“ (S. 112). Die Bevölkerung versteht die Autorin als eine für den Heroen empfängliche Communitas. Bevor Saccà die Sicilianità untersucht, greift sie im vierten Kapitel auf ihre These der Tautologie „Giuliano ist Sizilien ist Giuliano“ (S. 134) zurück. Der Zustand „zwischen Faktum und Fiktion“ ist ein „Spannungsfeld von Information und Imagination“ (S. 130). Mythen leben von Tautologien, wie die Verkörperung populistischer Ideen der separatistischen Bewegung in Gestalt Giulianos deutlich machen. Vor diesem Hintergrund analysiert die Ethnologin das Konzept der Sicilianità Schritt für Schritt: Sie zeigt seine Entstehungsgeschichte als politischer Mythos und die damit verbundenen ideologischen Diskurse vom 19. bis zum 20. Jahrhundert auf, die einem „kollektive[n] Bedürfnis nach Identitätsfestschreibungen“ folgen (S. 138). Dabei dringt sie in den Bereich der sizilianischen Literatur ein, befasst sich mit der historischen Frage der „Nazione Siciliana“ und diskutiert die „südliche Frage“. In Anlehnung an ihre bisherigen Ausführungen macht sie plausibel, weshalb der Separatismus dafür verantwortlich ist, dass ab 1943 die Sicilianità als populäres Instrument derart inflationär und unverantwortlich gebraucht wird, dass sie „heute oftmals als Inbegriff von separatistischem Aktionismus und Agitation verstanden wird“ (S. 150).

Im sechsten Kapitel, das die als Frage formulierte Überschrift „Nach der Sicilianità?“ trägt, reflektiert Saccà die Methoden ihrer Feldforschung in Bezug auf die von ihr analysierten Diskurse. In den von ihr durchgeführten Experteninterviews mit Journalisten und Wissenschaftlern wird deutlich, dass die alten Diskursmotive auch gegenwärtig wirksam sind und eine anhaltende Auseinandersetzung provozieren. In den Interviews selbst erhält Saccà als Halbsizilianerin eine spezifische Rolle: Sie ist ‚insider‘ und ‚outsider‘ und in der Reflexion dieser Forschungsposition zeigt die Autorin auf, wie auch sie die Rede über die Sicilianitá durch ihre Forschung mitgestaltet. Als ‚halfie‘ akademisch ausgebildet fungiert sie ebenso wie die Experten als Multiplikatorin der Diskurse und folgert daraus, dass Experten „Akteure und Definitionseliten [sind], die die kollektiven Selbstbilder bestimmen, umkämpfen und nach außen multiplizieren.“ (S. 168) So werden Vorstellungen des Familismus, von Mafia und in diesem Zusammenhang auch der Antimafia, öffentliches und privates Schweigen, Geschlechterrollen als Handlungsstrategien und essentialistische Bilder über Sizilien aus gegenwärtiger Perspektive beleuchtet und um einen wesentlichen Aspekt bereichert: dem Aufbegehren, der Veränderung bzw. der Enträumlichung der Grenzen Siziliens und der Sicilianità, die nun im Kontext der Europäisierung eine neue Rolle erhält. Sicilianità, so eines der Ergebnisse Saccàs, wird in der „Auseinandersetzung mit bereits vorhandenen Modellen, Stereotypen und alten Idealen“ stets neu verhandelt (S. 198f.) – dies geschieht interpretativ intellektuell und als Reflex auf die von außen kommenden Fremdbilder.

Die Argumentationsweise der Autorin ist schlüssig, und ihr Ansatz – die Dekonstruktion von Mythen, ohne diese zugleich zu bestätigen – wird überzeugend umgesetzt. Die Grenzen der Arbeit liegen in der Fokussierung auf Journalisten- und Elitendiskurse begründet, mit der allein die Diskurse, die in Zeitungen und durch „Deutungseliten“ über Giuliano Salvatore und die Sicilianità geführt werden, in den Blick genommen werden. Andere Teile der Gesellschaft, vor allem die Unterschichten, die damals wie heute ebenfalls Bedeutungsträger und Akteur der Diskurse sind, kommen lediglich als Aussage „über sie“, nicht jedoch durch Selbstaussagen zur Sprache. Doch ist dies nicht negativ auszulegen, sondern spricht für die Stringenz der Untersuchung, die sowohl für Sizilieninteressierte als auch für das Fachpublikum der Europäischen Ethnologie sehr zu empfehlen ist.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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