C. Burrichter u.a. (Hrsg.): Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000

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Titel
Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000. Gesellschaft - Staat - Politik. Ein Handbuch


Herausgeber
Burrichter, Clemens; Nakath, Detlef; Stephan, Gerd-Rüdiger
Erschienen
Anzahl Seiten
1357 S., 1 CD-ROM
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clemens Vollnhals, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V., Technische Universität Dresden

Die Publikation eines Handbuchs zur deutschen Zeitgeschichte seit 1945, das die Entwicklung der Bundesrepublik wie der DDR gleichermaßen umfassen und in der ganzen Spannbreite darstellen will – von der Außenpolitik bis zum Umweltschutz –, ist ein äußerst ambitioniertes Unternehmen. Es verlangt viel Organisationsgeschick, ein solches Werk mit rund 40 Autoren und über 1.300 Druckseiten zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Diese Leistung ist umso beachtlicher, als in diesem Fall kein etabliertes Institut mit eingespieltem Apparat als Herausgeber fungiert. Die Arbeit der Herausgeber sowie die Drucklegung des Handbuchs wurden von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert, sind aber im Wesentlichen das Ergebnis der Initiative der drei Herausgeber, die in der zeithistorischen Zunft eine Randposition einnehmen. Detlef Nakath und Gerd-Rüdiger Stephan entstammen dem DDR-Wissenschaftsbetrieb, Clemens Burrichter war in einem nun abgewickelten westdeutschen Institut tätig. Insofern mag der letztlich verklärende Blick auf die untergegangene DDR und die kritische Distanz zur Bundesrepublik auch biographisch unterlegt sein, wenngleich rund ein Drittel der Autoren aus dem Westen stammt.

Ein methodisches Grundproblem, das sich bei jedem Handbuch zur deutschen Zeitgeschichte stellt, ist die Frage, in welchem Verhältnis die Geschichte der beiden deutschen Nachkriegsstaaten zueinander steht. Ist es aus heutiger Sicht eine Kontrastgeschichte, dominiert vom Gegensatz zwischen Demokratie und Diktatur? Handelt es sich um eine gleichberechtigte Parallelgeschichte zweier von den jeweiligen Besatzungsmächten und ihrer Bündnissysteme abhängiger Staaten? Gibt es gar eine neue Nationalgeschichte im Sinne einer integrierten deutschen Nachkriegsgeschichte, wie sie im November 2006 auf einer Tagung der DDR-Forscher in Suhl thematisiert wurde?1 Oder sollen wir uns auf die salomonische Formel von der „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“2 zurückziehen?

In ihrem Vorwort betonen die Herausgeber, sie wollten mit dem Handbuch eine „analytische und keine chronologisch-kommentierende Zeitgeschichtsforschung“ präsentieren. Es gehe vielmehr um „die globale und theoriefundierte Kenntnis und Darstellung der Entwicklungslinien der beiden deutschen Gesellschaften bis 1989/90 sowie der Transformation der deutschen Gesellschaft danach“. Doch damit nicht genug: Das Handbuch möchte auch Anregung für die politische Bildung in einer Übergangsgesellschaft sein, „für die eine paradigmatisch neue Gesellschaftstheorie mit einem neu definierten Wertesystem noch aussteht. So ist im 21. Jahrhundert die politische Bildung wohl besonders als dialogischer Lernprozess zwischen den gleichermaßen betroffenen Lehrenden wie Lernenden zu begreifen. Die zu vermittelnden Inhalte sind keine reinen Lernziele, sondern als kritisch-diskursive Aneignung bei der Gestaltung der Zukunft anzusehen“ (S. 9f.). Ein hoher Anspruch, gepaart mit allerlei verquasten Formulierungen.

Das Handbuch selbst gliedert sich in drei große Teile. Im „historischen Überblick“ (S. 19-179) sticht der Beitrag Jörg Roeslers hervor, der die „Geschichte der beiden deutschen Staaten mit dem Schwerpunkt ihrer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung“ beschreibt. Er umfasst rund 140 Seiten und ist im Grunde eine selbstständige Darstellung, in der die „Entwicklung in Ost und West als spezifische – westdeutsche bzw. ostdeutsche – zeitlich begrenzte Ausprägung der grundsätzlich einheitlichen deutschen Geschichte“ erscheint (S. 19). Auf dem Feld der Wirtschafts- und Sozialgeschichte lässt sich vieles mit Gewinn lesen, auch wenn Roesler hinsichtlich des vereinten Deutschland konsequent vom „Anschluss“ der DDR spricht, nachdem die Sowjetunion ihre „Schutzfunktion“ aufgegeben habe. Die viel beschworenen Gemeinsamkeiten lassen sich jedoch nur finden, wenn man die politischen Systemunterschiede und die reale Entwicklung von Politik und Gesellschaft in beiden deutschen Staaten weitgehend ausklammert und sich auf die Bewältigung von Strukturkrisen und Anpassungsprobleme moderner Industriegesellschaften im Kontext des Weltmarktes zurückzieht – die als Forschungsperspektiven gewiss lohnend sind, aber nicht von den politischen Kontexten isoliert werden sollten. Vergleichsweise enttäuschend ist der anschließende Beitrag aus der Feder von Johannes L. Kuppe, der lediglich das zur Genüge bekannte Lamento über den Vereinigungsprozess referiert, während die enormen Transfer- und Aufbauleistungen – von der Infrastruktur bis zur Rente – unterbelichtet bleiben.

Im zweiten Hauptteil, der mit „Schwerpunkte der gesellschaftlichen Entwicklung in beiden deutschen Staaten“ überschrieben ist (S. 181-540), finden sich 9 Beiträge, wobei die Abgrenzung zum dritten Hauptteil „Entwicklung der Politikfelder“ (S. 541-1264), der nochmals 23 Aufsätze versammelt, nicht überzeugt. So hätte man die Artikel „Kunst und Kultur“, „Medien und Medienpolitik“ und „Produktivkraftentwicklung und Wissenschaft in der DDR“ wohl eher bei den einzelnen Politikfeldern vermutet, zumal dort auch „Bildungs- und Schulpolitik“, „Wissenschaftspolitik in der DDR“, „Forschungspolitik in der Bundesrepublik“ und „Rolle und Entwicklung der Kultur“ behandelt werden.

Schwerwiegender sind allerdings die Verzerrungen, die sich aus der angestrebten Parallelisierung ergeben – die Systemunterschiede werden nivilliert. So findet sich etwa in dem Beitrag von Siegfried Schwarz zur „Deutschlandpolitikproblematik im internationalen Kontext“ der Tenor, dass die USA sich frühzeitig für die Teilung Deutschlands entschieden hätten, während die UdSSR nur reagiert habe. Die massiven Eingriffe der sowjetischen Besatzungsmacht in die gesellschaftspolitischen Strukturen der SBZ firmieren in altbekannter Diktion als die „grundlegende Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens entsprechend wichtiger Festlegungen des am 2. August 1945 durch die drei Mächte unterzeichneten Potsdamer Abschlusskommuniqués“ (S. 186).

Einen wahren Eiertanz vollführt Wilfriede Otto, die den zentralen Beitrag „Die politischen Systeme“ verfasst hat. Da sie von Diktatur offenkundig nicht sprechen will, bleibt es bei beschönigenden Formulierungen, etwa derart: „Wesentliche Bestandteile des politischen Systems der beiden deutschen Staaten – die Verfassungswirklichkeit, der Charakter der Wahlsysteme, die Rolle der Parlamente, die politischen Rahmenbedingungen für das Wirken von Parteien – wurden systemintern gegensätzlich geprägt. Suprematie der SED verband sich mit dem politischen System in der DDR und Parteienpluralismus mit dem in der BRD. Jede Seite arbeitete dafür, die jeweilige gesellschaftliche Ordnung zu stabilisieren. Die Bundesrepublik, als demokratischer und sozialer Bundesstaat definiert, entwickelte sich als Gesellschaft mit einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie und kapitalistischen Wirtschaft mit Sozialstaatskompromiss. [...] Die DDR, als Arbeiter- und Bauern-Staat charakterisiert, entwickelte sich als Gesellschaft mit einer formalen parlamentarischen Demokratie mit antikapitalistisch-staatssozialistischer Wirtschaft und Sozialpolitik.“ (S. 293) In solchen Formulierungen zeigt sich die ganze Crux einer angestrebten integrierten Gesamtgeschichte, die auf Biegen und Brechen Gemeinsamkeiten betonen will und die deutliche Benennung fundamentaler Unterschiede darüber vergisst. Wer die politische Bedeutung von Bundestag und Volkskammer auf eine Ebene stellt, gleichzeitig aber die zentrale Lenkung des Staatsapparats, der Massenorganisationen und der Blockparteien durch das Politbüro der SED nur am Rande erwähnt, wird dem Leser nicht das tatsächliche Funktionieren des politischen Systems der untergegangenen SED-Diktatur erklären können. Anzumerken bleibt allerdings auch, dass Frau Otto die „friedliche Revolution“ positiv würdigt.

Ebenso deplatziert ist die Einordnung von „Opposition und Widerstand“ in den zweiten Hauptteil, der doch die Schwerpunkte der gesellschaftlichen Entwicklung in beiden deutschen Staaten abbilden soll. Immerhin ist sich Bernd Florath bewusst, dass Opposition im demokratischen Rechtsstaat etwas grundsätzlich anderes darstellt als der Widerstand gegen eine Diktatur. Eine gemeinsame Geschichte lässt sich dennoch nicht konstruieren. Dafür vermisst der Leser einen eigenständigen Beitrag zur umfassenden Repressionsgeschichte, beginnend mit den Sowjetischen Militärtribunalen über die politische Justiz der DDR bis hin zum wichtigsten Instrument der Herrschaftssicherung: dem Wirken der Staatssicherheit. Sie wird lediglich auf einer Textseite in einem Beitrag mit der Überschrift „’Innere Sicherheit’ in beiden deutschen Staaten“ (von Herbert Reinke) abgehandelt. Stärker lassen die Proportionen wohl nicht verbiegen!

Überblickt man die Beiträge zu „Politikfeldern“ im Einzelnen, so fällt das Urteil – wie bei den meisten Sammelbänden – gemischt aus. Neben sehr guten Artikeln, die ihr Thema auf der Höhe des Forschungsstandes behandeln und ein abgewogenes Urteil enthalten, stehen bloße Kompilationen, die die jeweilige Entwicklung in der Bundesrepublik und der DDR additiv nachzeichnen. Daneben gibt es Beiträge, die vor allem durch ihren apologetischen Unterton auffallen oder sich durch Unkenntnis der einschlägigen Literatur auszeichnen. Manchmal kommt auch beides zusammen: so in der von Horst Dähn und Joachim Heise zu verantwortenden Abhandlung „Kirchen und Religionsgemeinschaften“. Insgesamt überwiegt in diesem Abschnitt aber der positive Eindruck. Die Beiträge sind zumeist informativ und weniger dem Gesamtkonzept einer integrativen Nachkriegsgeschichte verpflichtet. Mit anderen Worten: Sie sind konventionell aufgebaut und behandeln – mit unterschiedlichem Kenntnisstand der Bundesrepublik- bzw. der DDR-Geschichte – jeweils separat das Thema ihres Politikfeldes. Der deutsch-deutsche Vergleich, auch im Sinne einer Verflechtungsgeschichte, ist gewiss für manche Sektoren nützlich und aufschlussreich, etwa im Bereich der Sozialpolitik.

Problematisch erscheint hingegen die Gesamtanlage des Handbuchs, das unter dem Deckmantel eines neuen methodischen Zugriffs doch unverkennbar einer Apologie der DDR, des antifaschistisch legitimierten „besseren Deutschlands“ verhaftet bleibt. Auch wenn es die Herausgeber nicht wahrhaben wollen: Der Unterschied von Diktatur und Demokratie bleibt eine zentrale Scheidelinie jeglicher Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, die sich einer kritischen Selbstbesinnung in Freiheit verpflichtet fühlt.

Der Anhang (S. 1265-1357) umfasst eine Auswahlbibliographie sowie ein Personen-, Abkürzungs- und Autorenverzeichnis. Hinzuweisen ist ferner auf eine beigefügte CD, die eine ausführliche Zeittafel, eine Bibliographie sowie Biogramme der im Handbuch erwähnten Personen der Zeitgeschichte enthält.

Anmerkungen:
1 Siehe die Dokumentation unter <http://www.bpb.de/veranstaltungen/9IDD5S,0,0,Gemeinsame_deutsche_Nachkriegsgeschichte.html> sowie auch die Beiträge von Horst Möller, Günther Heydemann, Andreas Wirsching und Martin Sabrow in: Aus Politik und Zeitgeschichte 57 (2007), H. 3: Gemeinsame Nachkriegsgeschichte?, online unter URL: <http://bpb.de/publikationen/6P89P9,0,0,Gemeinsame_Nachkriegsgeschichte.html>.
2 So bereits Kleßmann, Christoph, Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 43 (1993) H. 29-30, S. 30-41.

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