Titel
"Auserwählte Opfer?". Shoah und Porrajmos im Vergleich. Eine Kontroverse


Autor(en)
Wippermann, Wolfgang
Erschienen
Berlin 2005: Frank & Timme
Anzahl Seiten
170 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Holler, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die vergleichende Genozidforschung hat seit jeher den Holocaust als zwangsläufigen Bezugspunkt. Bei der sehr spät einsetzenden Aufarbeitung des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma war und ist dies nicht anders. Die Frage, in wie weit Letzterer mit der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden verglichen werden kann, wird dabei sowohl in der Forschung als auch in der (erinnerungs-)politischen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Wolfgang Wippermann, der den Verlauf der Kontroverse selbst mitgestaltete, hat nunmehr eine Monografie vorgelegt, die das Zusammenspiel von wissenschaftlichem und geschichtspolitischem Diskurs systematisch untersucht und bewertet.

Wippermann verwendet in seinem Titel bewusst das Wortpaar „Shoah und Porrajmos“, um sich vom inflationär gebrauchten und seiner Meinung nach ungenauen Holocaust-Begriff zu lösen. Der Gebrauch des Begriffs „Porrajmos“ ist jedoch problematisch. Zwar beruft sich Wippermann dabei ausdrücklich auf Roma-Aktivisten wie Ian Hancock und die relative Verbreitung im englischsprachigen Raum (S. 8), übergeht dabei jedoch berechtigte linguistische und kulturelle Einwände. „Porrajmos“ (von porravav: sich weit öffnen) assoziiert in Romanes eine sexuelle Handlung; nur in einem der Vlax-Dialekte wird es mit „Vergewaltigung“ in Verbindung gebracht, was indessen ebenfalls kaum die passende Bezeichnung für den nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma sein dürfte.1 Diese grundlegende Problematik hätte zumindest erwähnt werden müssen.

Die ersten beiden Kapitel – „Vorgeschichte und Verlauf“ und „Verdrängung und Aufarbeitung“ – fassen die Thesen und Darstellungen zusammen, die uns bereits in früheren Werken Wippermanns begegneten.2 Dass bei der Darstellung des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit der Verfolgung der Sinti und Roma prozentual mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird, mag im Hinblick auf den geringeren Bekanntheitsgrad der „Zigeunerverfolgung“ nicht überraschen. Routiniert und gewohnt ausdrucksstark ordnet Wippermann die Juden- wie „Zigeuner“-Verfolgung in den Gesamtkontext der allgemeinen nationalsozialistischen Rassenpolitik ein, in deren Zentrum die „rassische Neuordnung Europas“ und „Gesundung des deutschen Volkskörpers“ durch die Vernichtung „unwerten Lebens“ gestanden habe. Durch die Verortung des NS-„Asozialenbildes“ in diesen Rahmen gelingt es Wippermann ferner, die scheinbare Dichotomie zwischen angeblich „asozialen Zigeunern“ und „rassisch Verfolgten“, die der Anerkennung der Sinti und Roma als Opfer des Nationalsozialismus lange Zeit im Wege stand, aufzuheben.

Am Ende seiner geschichtlichen Ausführung gelangt Wippermann zu der Überzeugung, dass Shoah und „Porrajmos“ verglichen werden können und müssen. In beiden Fällen handele es sich eindeutig um Völkermorde (nicht nur gemäß der UNO-Völkermordkonvention von 1948), die sich darüber hinaus in punkto Intention, rassistische Motivation, totale Erfassung und Modernität (manifestiert in Bürokratie, Logistik) sehr ähnlich seien.

Der innovative Teil des Buches besteht im dritten Kapitel mit dem Titel „Leugnung und Relativierung“. Informativ und gut lesbar ist die vergleichende Darstellung über die Entstehung des „Porrajmos“-Streits in den Vereinigten Staaten anlässlich der Eröffnung des Holocaust-Memorials und der deutschen Debatte, die durch die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma angestoßen wurde. Leider zeigt sich Wippermann nicht in allen Fragen auf dem neuesten Stand. So wird das Scheitern des Denkmalprojekts für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin beklagt, obwohl mittlerweile ein künstlerischer Entwurf von Dani Caravan angenommen wurde und in erster Linie über die passende Inschrift gestritten wird.

Abschließend setzt sich der Autor mit der neueren Forschung zu „Shoah und Porrajmos“ auseinander, und zwar mit den sehr unterschiedlichen Thesen von Michael Zimmermann, Günther Lewy und Gilad Margalit. Die Zahl der relevanten Beiträge zur aktuellen Kontroverse ist demnach relativ überschaubar. Umso mehr irritiert es da, dass der innovative und glänzend argumentierende Beitrag von Martin Luchterhandt über die NS-Verfolgung der deutschen „Zigeuner“ mit keinem Wort erwähnt wird.3 Schließlich ist Luchterhandt in seinen Schlussbetrachtungen ausführlich auf die Frage des Vergleichs zwischen Juden- und Romaverfolgung eingegangen.

Berechtigte und weitestgehend überzeugende Kritik übt Wippermann an Lewy und Margalit. Beide Historiker neigen nämlich in ihrem Bemühen, die Singularität der Shoah zu untermauern, tatsächlich dazu, den Völkermord an den Sinti und Roma zu relativieren. Auf der einen Seite werden Lewys Zweifel am Genozidcharakter der NS-„Zigeunerverfolgung“ von Wippermann durch einen längeren Exkurs über die Definition von Völkermord problemlos widerlegt. Auf der anderen Seite führt er Margalits Unterstellung, die Anerkennung und verstärkte Erinnerung an den „Porrajmos“ bezwecke die Verdrängung deutscher Schuldgefühle gegenüber den Juden und stelle den Holocaust in Frage, durch eine überraschend einfache Formel ad absurdum: „Eins plus Eins ist doch nicht Null. Ein Völkermord plus ein weiterer ergeben doch nicht gar keinen Völkermord.“ (S. 140)

Eine unglückliche und inakzeptable Entscheidung war es hingegen, Michael Zimmermanns Forschungen in einem Kapitel zu behandeln, das mit „Leugnung und Relativierung“ überschrieben ist. Schließlich gilt Zimmermanns beeindruckende Habilitationsschrift bis heute zu Recht als Standardwerk über den NS-Völkermord an den Sinti und Roma.4 Bezeichnenderweise konzentriert sich die Kritik Wippermanns dann auch ausschließlich auf verallgemeinernde Hypothesen, die über die gesicherte Quellenlage hinausgehen, wie etwa geschätzte Opferzahlen oder Mutmaßungen über die Motivation der „Zigeuner“-Verfolgung.

Ein methodisches Problem in Wippermanns Gegenargumentation ist jedoch, dass er seinerseits subjektive Hypothesen bisweilen zu „Gegenbeweisen“ aufbauscht, ohne dafür einen empririschen Nachweis erbringen zu können. Die Behauptung etwa, der Hass gegen „Zigeuner“ sei unter der SS größer gewesen als der gegen die Juden, verwundert vor dem historischen Gesamtkontext und wird durch die schwachen Quellenbeispiele keineswegs gerechtfertigt (S. 41).

Ein wiederkehrender Vorwurf Wippermanns an die Adresse seiner Kollegen lautet, dass sie keinerlei osteuropäische Literatur rezipiert haben. Diese Kritik verwundert insofern, als Gleiches auch auf Wippermanns gesamte Darstellung zutrifft! Namen wie Weiss-Wendt, Bessonov oder Vestermanis sucht man im Literaturverzeichnis vergeblich. Dennoch scheut sich der Autor nicht, verallgemeinernde Urteile zu fällen, die in ihrer Radikalität mindestens fragwürdig erscheinen. Auf Zimmermanns These, wonach in der Sowjetunion vornehmlich wandernde „Zigeuner“ verfolgt worden seien, kontert Wippermann: „Tatsächlich haben die deutschen und ausländischen Täter im Osten jeden ‚Zigeuner’ ermordet, den sie als solchen identifizieren und fassen konnten.“ (S. 121) Das sei jedoch nicht so einfach gewesen, da die Roma ihre Identität zu verbergen suchten oder durch Flucht der Vernichtung entgingen.

Solange es an umfassenden empirischen Studien zu den einzelnen Ländern noch mangelt, sind solcherlei Aussagen ebenso wenig zu belegen wie die gegenteiligen. In Bezug auf die Sowjetunion besteht das Quellenproblem bislang darin, dass nur deutsche Akten zur Analyse herangezogen wurden. Kommende Veröffentlichungen, die die sehr detaillierten Bestände der „Staatlichen Sonderkommission zur Bestimmung und Aufklärung der Untaten (zlodejanij) der deutsch-faschistischen Okkupanten“5 hinzuziehen, versprechen völlig neue Einblicke in den Verlauf und das Ausmaß der Verfolgung in den besetzten Gebieten der Sowjetunion.

Festzuhalten bleibt, dass Wolfgang Wippermanns „Auserwählte Opfer“ ihre Bedeutung dadurch erlangen, dass sie sich nicht auf die wissenschaftliche Forschung über die Komparativität von Shoah und „Porrajmos“ beschränken, sondern auch die politische Dimension der Kontroverse durchleuchten. Der Autor plädiert dezidiert für die Vergleichbarkeit der beiden Völkermorde und begründet seinen Standpunkt ausführlich. Sein nachdrücklicher Verweis auf die allgemeine Rassen- und Raumpolitik der Nationalsozialisten als tertium comparationis bringt einen Aspekt zurück ins Spiel, der bei einem rein strukturalistischen Interpretationsansatz leicht aus dem Blickfeld geraten kann. Leider verleitet die Fixierung auf den „rassenideologischen Überbau“ Wippermann an manchen Stellen dazu, polemische Äußerungen und undifferenzierte Verallgemeinerungen einer empirisch gestützten Darstellung vorzuziehen.

Es bleibt zu hoffen, dass Wippermanns ideologiekritische Anmerkungen beim Leser das Gespür für die Gefahren politisch motivierter Geschichtsschreibung schärfen. Der laufenden Forschung ist indes zu wünschen, dass sie sich wieder verstärkt der Empirie zuwendet. Gerade in Osteuropa bietet sich hierfür ein weites Betätigungsfeld.

Anmerkungen:
1 Die jüngste Kritik am Porrajmos-Begriff stammt von Tcherenkov, Lev; Laederich, Stéphane, The Rroma, Band 1: History, Language, and Groups, Basel 2004, S. 236.
2 Vgl. u.a. Wippermann, Wolfgang, „Wie die Zigeuner“. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, Berlin 1997; Ders.; Burleigh, Michael, The Racial State. Germany 1933-1945, Cambridge 1991.
3 Luchterhandt, Martin, Der Weg nach Birkenau. Entstehung und Verlauf der nationalsozialistischen Verfolgung der „Zigeuner“, Lübeck 2000.
4 Zimmermann, Michael, „Rassenutopie und Genozid“. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996.
5 Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii (Staatliches Archiv der Russischen Föderation), fond R-7021.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension