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Titel
Im Schatten des Krieges. Besatzung oder Anschluss - Befreiung oder Unterdrückung?. Eine komparative Untersuchung über die bulgarische Herrschaft in Vardar-Makedonien 1915-1918 und 1941-1944


Autor(en)
Opfer, Björn
Reihe
Studien zur Geschichte, Kultur und Gesellschaft Südosteuropas 3
Erschienen
Münster 2005: LIT Verlag
Anzahl Seiten
373 S.
Preis
€ 29.90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Das in der Folge des Berliner Kongresses 1878 als Fürstentum gegründete und 1908 souverän gewordene Königreich Bulgarien verfolgte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein eine Politik der Inkorporation derjenigen Territorien auf dem Balkan, die im – nie umgesetzten – russisch-osmanischen Präliminarfrieden von San Stefano 1878 einem zu gründenden Großbulgarien unter zarischem Patronat zugeschlagen werden sollten. Dabei handelte es sich um die Dobrudža, Vardar-Makedonien, Pirin-Makedonien, Ägäisch-Makedonien und Thrakien. Was bezüglich der Dobrudža, Pirin-Makedoniens und Teilen Thrakiens letztlich gelang – und zwar ungeachtet einer Reihe schwerer militärischer Niederlagen –, scheiterte mit Blick auf Vardar- und Ägäisch-Makedonien, zwei Territorien, die 1913 serbisch (und später jugoslawisch) bzw. griechisch wurden. Allerdings war Bulgarien in beiden Weltkriegen aufgrund seiner bündnispolitischen Orientierung auf Deutschland in der Lage, große Teile sowohl Vardar-Makedoniens mit dem Zentrum Skopje als auch Thrakiens mit Kavalla vorübergehend militärisch zu besetzen. Hier setzt die überlang betitelte Untersuchung von Björn Opfer an, die sich die beiden bulgarischen Besatzungsregime in Vardar-Makedonien in den Jahren 1915-1918 sowie 1941-1944 in vergleichender Perspektive zum Gegenstand nimmt. Dabei stützt er sich primär auf eine umfangreiche bulgarische sowie makedonisch(-jugoslawisch)e Fach- und Memoirenliteratur, desgleichen auf deutsche, österreichische und andere Publikationen zum Thema. Hinzu kommt die Auswertung von Quelleneditionen in südslawischen Sprachen sowie von Archivalien aus zwei bulgarischen Archiven samt solchen in Wien und Berlin.

Der Aufbau der Arbeit ist chronologisch: Einem weit ausholenden Einführungskapitel schließen sich umfangreiche Kapitel über die beiden Untersuchungsbeispiele an, die von einem kürzeren Kapitel über die Zwischenkriegszeit separiert werden. Beide Hauptkapitel enthalten kurze Abschnitte, in denen die bulgarische Besatzungspolitik in Vardar-Makedonien mit Okkupationsformen und Besatzungssystemen anderer Mächte im Ersten wie Zweiten Weltkrieg verglichen wird. Das mit “Fazit” überschriebene und sehr kurze fünfte Kapitel enthält dann einige Hinweise darauf, was der Verfasser unter dem im Titel seiner Arbeit auftauchenden Begriff “komparative Untersuchung” versteht. Die Binnengliederung der beiden Hauptkapitel orientiert sich an Themenfeldern wie der Wirtschafts-, Kultur- und Bildungspolitik der Besatzungsmacht, deren Verwaltungsstruktur, weiter den interethnischen Beziehungen samt Minderheitenpolitik, den konfessionellen und kirchenorganisatorischen Verhältnissen sowie den Beziehungen zum deutschen Verbündeten.

Während die Stärke der Arbeit eindeutig diese dichte Beschreibung bulgarischer Besatzungspolitik in Vardar-Makedonien in den beiden genannten Zeitabschnitten ist, ist ihre Hauptschwäche unverkennbar das Nichteinlösen des in Titel wie Einleitung dick unterstrichenen komparativen Anspruches. Die im Schlusskapitel gezogenen Parallelen zwischen beiden Besatzungszeiträumen bleiben bei bloßer Gegenüberstellung stehen, stellen also keine analytische Komparation dar. Bezeichnenderweise unternimmt der Verfasser nicht einmal ansatzweise den Versuch, den Erkenntnismehrwert des von ihm postulierten Vergleichs auch nur zu skizzieren. Deutlich komparativeren Charakter haben zwar die beiden genannten Abschnitte über Okkupationsregime und Besatzungspolitiken anderer Staaten während der beiden Weltkriege, doch führt dieser Vergleichspfad nicht wirklich weiter, fand doch die bulgarische Besatzung jeweils unter dem ganz spezifischen Rubrum “nationale Befreiung und Vereinigung” statt: Sowohl vor 1944 als auch danach betrachteten Öffentlichkeit und Regierung Bulgariens Vardar-Makedonien und die Mehrheit seiner Bewohner als genuine Teile des eigenen Staates und der eigenen Nation, nicht als eine temporär zu besetzende Region und Bevölkerung.

Erkenntnisversprechende Vergleichsgegenstände wären daher die Formen bulgarischer Besatzungspolitik in anderen Teilen Makedoniens und des Balkans während der beiden Weltkriege gewesen, also in Ägäisch-Makedonien oder in Thrakien. Ägäisch-Makedonien hätte sich dabei auch deswegen angeboten, weil hier das bulgarische Besatzungsgebiet im Zuge des Ausfalls der italienischen Okkupationsmacht im Herbst 1943 deutlich ausgeweitet wurde, also Besatzungsmuster einer 1941 beginnenden Phase mit der 1943 einsetzenden hätten kontrastiert sowie mit Vardar-Makedonien verglichen werden können. Eine solche Gegenüberstellung hätte die Kernfrage danach beantworten können, was das Spezifische an der Besatzungspolitik in Vardar-Makedonien gewesen ist bzw. ob es dergleichen überhaupt gegeben hat.

Da der Verfasser dies nicht geleistet hat, ist auch weiterhin lediglich zu vermuten, dass es aus Sofijoter Sicht deutliche Abstufungen bezüglich der territorialen Prioritäten gegeben hat: Während mit Blick auf Ägäisch-Makedonien und Thrakien die Frage eines bulgarischen Zugangs zum Meer zentral war – sogar über den Einmarsch der Roten Armee und den kommunistischen Umsturz vom 9. September 1944 hinaus bis mindestens zum 25. Oktober 1944 –, fielen bezüglich Vardar-Makedoniens vor allem historisch-kulturelle Argumente ins Gewicht. Denn im Selbstverständnis von Staat wie Gesellschaft war Bulgarien ohne die “Wiege des Bulgarentums” in Ohrid gleichsam unvollständig; die Eliten empfanden diesbezüglich einen nationalen Phantomschmerz, der seitdem zwar schwächer geworden, aber weiterhin spürbar ist. Dasselbe kann in der Perspektive des bulgarischen Nationalismus bezüglich mit Blick auf Solun (Selânik/Thessaloniki) oder Dede Agac (Dede Agaç/Alexandropoulis) sicher nicht gesagt werden, ist doch der nationale Emotionsfaktor dieser zuvor osmanischen, später griechischen Städte deutlich niedriger zu veranschlagen.

Aber auch eine Reihe weiterer Fragen bleiben in Opfers Untersuchung unbeantwortet. Während er die Spezifik der bulgarisch-deutschen Beziehungen am Beispiel der Kriegswirtschaft eingehend beleuchtet, arbeitet er die Grundzüge deutscher Makedonienpolitik nur sehr unzureichend heraus. So hat der Verfasser mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg zwei zentrale Bereiche deutscher Balkanpolitik bedauerlicherweise nicht thematisiert bzw. lediglich gestreift: die Aufstellung einer explizit makedonischen – nicht bulgarischen – Hilfstruppe im Westen des vormals italienisch besetzten Teils Ägäisch-Makedoniens namens Ohrana unter der Leitung des Reichssicherheitshauptamts der SS sowie den – fehlgeschlagenen – Versuch Hitlers, Anfang September 1944 per fernmündlichem Führerbefehl gleichsam in letzter Minute von makedonischen Akteuren einen deutschen Marionettenstaat Makedonien proklamieren zu lassen. Beide Beispiele belegen, dass die bulgarische Makedonienpolitik im Zweiten Weltkrieg im Rahmen einer übergeordneten deutschen Makedonienpolitik von statten ging und dass dort, wo die bulgarischen Interessen mit den deutschen kollidierten, die Souveränität Sofijas rasch endete. Über diese engen Spielräume und das bulgarische Vermögen, sie zu nutzen, hätte man gerne mehr erfahren.

Dasselbe gilt auch für eine noch immer nur unzureichend beantwortete Schlüsselfrage bulgarischer Okkupationspolitik in Vardar-Makedonien 1941-1944: Wurde das Besatzungsgebiet förmlich annektiert oder nicht? Während der Verfasser vage von einem “faktischen Anschluss” spricht (S. 211) und – ohne einschlägige Quellenbelege – auf einen bulgarischen Regierungsbeschluss vom 14. Mai 1941 verweist, den das Deutsche Reich “zwar toleriert, jedoch nicht ausdrücklich bestätigt” habe (S. 212), kam Siegfried Fauck bereits 1966 in einem Gutachten des Münchner Instituts für Zeitgeschichte über “Das deutsch-bulgarische Verhältnis 1939-1944” zu dem Ergebnis, durch ein Dekret des bulgarischen Ministerrates vom 9. Oktober 1942 sei mit Zustimmung der deutschen Reichsregierung das bulgarisch besetzte Territorium in Thrakien und Makedonien durch Bulgarien annektiert worden .1 Von einer Untersuchung mit dem Untertitel “Besatzung oder Anschluss?” hätte man mit einigem Recht grundlegenden Aufschluss bezüglich dieser zentralen Frage erwarten können.

Die wissenschaftliche Umschrift bulgarischer und makedonischer kyrillischer Namen und Bezeichnungen in lateinische Formen ist häufig fehlerhaft (z. B. durchgängig Inspekziska oblast statt Inspekcijska oblast), und dasselbe gilt für die Groß- und Kleinschreibung sowie für die Wiedergabe kyrillischer bibliografischer und anderer Angaben. Unklar ist, warum der Verfasser im Quellen- und Literaturverzeichnis “Literatur” (= Monografien) und “Bildbände, Überblicks- und Nachschlagewerke” von “Aufsätzen/Zeitschriften” (= Sammelbandbeiträge und Zeitschriftenartikel) trennt. Und hochgradig leserunfreundlich ist die überaus sparsame Verwendung von Druckerschwärze auf den ersten hundert Seiten des Buches.

Björn Opfer hat eine akribische und quellengesättigte Detailuntersuchung zu zentralen Aspekten bulgarischer Besatzungspolitik in Vardar-Makedonien im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg vorgelegt. Dergleichen existierte bislang weder in der bulgarischen noch in der makedonischen Fachhistoriografie, schon gar nicht in der internationalen. Ansatzweise geleistet hat er den im Titel angekündigten diachronen Vergleich beider Besatzungsregime, doch lässt er die Chance einer wesentlich größeren Aufschluss versprechenden synchron-komparativen Betrachtung bulgarischer Okkupationspolitik in Ägäisch-Makedonien und/oder Thrakien ungenutzt.

Anmerkung:
1 Fauck, Siegfried, Das deutsch-bulgarische Verhältnis 1939-1944 und seine Rückwirkung auf die bulgarische Judenpolitik, in: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte II, Stuttgart 1966, S. 46-59, hier S. 48.

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