Archiv für Sozialgeschichte, West-Ost-Verständigung

Cover
Titel
West-Ost-Verständigung im Spannungsfeld von Gesellschaft und Staat seit den 1960er Jahren.


Herausgeber
Institut für Sozialgeschichte e.V.
Reihe
Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 45
Erschienen
Anzahl Seiten
702 Seiten
Preis
€ 68,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Gottfried Niedhart Universität Mannheim, Historisches Seminar

„Auch der Kalte Krieg fror das grenzüberschreitende Handeln nicht völlig ein. Vielmehr waren in ihm die gesellschaftlichen Akteure vieldimensional, wenngleich asymmetrisch miteinander verflochten.“ (S. 58) So resümiert Arnd Bauerkämper die Ergebnisse seiner Studie über die gesellschaftlichen und kulturellen Kontakte zwischen Großbritannien und der DDR in den Jahrzehnten zwischen 1960 und 1990. Erschienen ist der Text im neuesten Band des Archivs für Sozialgeschichte, dessen Redaktionsteam unter der Leitung von Friedhelm Boll 19 Beiträge zum Rahmenthema „West-Ost-Verständigung im Spannungsfeld von Gesellschaft und Staat“ versammelt hat. Die Beiträge erstrecken sich über den gesamten Zeitraum des Ost-West-Konflikts, wenn auch die Periode im Vordergrund steht, die auf den Kalten Krieg der „langen“ 1950er Jahre folgte und die mit dem Begriff der – allerdings keineswegs linear verlaufenden – Entspannung bzw. Détente gefasst wird.

Bauerkämpers Befund ist keineswegs auf die britisch-ostdeutsche Beziehungsgeschichte beschränkt. Vielmehr ist durchgängig zu beobachten, dass an vielen Orten und zu allen Zeitpunkten nichtstaatliche Akteure die Kommunikation über die ost-westlichen Blockgrenzen hinweg anstrebten und aufrecht zu erhalten versuchten. Dies geschah aus unterschiedlichen Motiven und mit zum Teil konträren Erwartungen. Ein gemeinsamer Nenner aber bestand darin, den auf Europa lastenden Weltkonflikt zu deeskalieren, Feindbilder abzubauen und eine europäische Friedensordnung anzustreben, die die Teilung des Kontinents erträglicher machen, vielleicht auch überwinden sollte. Welche Formen dies im einzelnen angenommen hat, wird anhand von Beispielen erörtert, die sich wie Schneisen in einem weithin unerforschten Gelände ausnehmen. Einen deutlichen Schwerpunkt des Bandes bilden die deutsch-polnischen Kontakte, auf die in zehn Beiträgen eingegangen wird. Dieter Bingen steuert dazu einen Essay bei, der überblicksartig die Spannung zwischen, wie er es nennt, Realpolitik und Moralpolitik in den Mittelpunkt stellt. Realpolitik sei durchaus erfolgreich auf der Ebene der Regierenden gestaltet worden. Eine „moralische Ostpolitik“ hingegen hätte stärker, als es geschehen ist, die „Subjektwerdung der Gesellschaft gegenüber dem Staat“ erkennen müssen und sich nicht auf die Vorstellung eines Wandels „von oben“ begnügen dürfen (S. 121).

Wie stark freilich im Prozess der wechselseitigen Zurkenntnisnahme durch Kommunikation die Gesellschaftswelt mit der Staatenwelt verflochten war, wird nicht nur von Bingen selbst aufgezeigt, sondern vor allem von den Autoren der auf Polen bezogenen Fallstudien deutlich gemacht, die sich mit den Kirchen, der journalistischen Berichterstattung, den Gewerkschaften sowie mit Begegnungs- und Bildungseinrichtungen befassen. Auch in den übrigen Beiträgen, die sich mit so unterschiedlichen Themen wie britischen Parlamentarierkontakten nach Osteuropa, deutsch-sowjetischer Wirtschaftskooperation, Friedensbewegungen in Ost und West, osteuropäischen Jugendkulturen, der Leningrader Frauenbewegung, der ungarischen KP oder westdeutschen Vertriebenenverbänden befassen, erscheinen die Ebenen staatlicher Politik und gesellschaftlichen Handelns letztlich immer aufeinander bezogen. Methodisch ergibt sich daraus die Notwendigkeit, deren Stellenwert und die Art der Interdependenz stets neu zu bestimmen und allgemeine Formeln von der gesellschaftlichen Fundierung von Politik, in Sonderheit der Bonner Ostpolitik zu vermeiden.

Es versteht sich, dass hier auf die Referierung von Einzelergebnissen dieses gehaltvollen Bandes verzichtet werden muss. Will man zu einer Konkretisierung des Befunds kommen, den Bauerkämper auf dem von ihm gewählten Abstraktionsniveau formuliert, so bietet sich zum einen die Studie von Stefan Berger und Norman LaPorte über „Britische Parlamentarierkontakte nach Osteuropa 1945-1989. Zwischen fellow travelling und ostpolitischer Erneuerung“ an, zum anderen der Beitrag von Karl-Heinz Schlarp über „Die ökonomische Untermauerung der Entspannungspolitik. Visionen und Realitäten einer deutsch-sowjetischen Wirtschaftskooperation im Zeichen der Neuen Ostpolitik“. Berger und LaPorte liefern eine instruktive Fallstudie über Funktion und Ziele kommunikativen Konfliktverhaltens. Die wenigen Mitglieder des Unterhauses, die überhaupt Verbindungen zu Ostblockländern anstrebten, wollten sich nicht damit abfinden, die Wahrnehmung des sowjetischen Imperiums auf die Formeln des Kalten Kriegs zu reduzieren. Aber selbst die fellow travellers auf dem linken Flügel der Labour Party waren in der Regel „nicht bereit, den osteuropäischen Kommunismus als Modell für die eigene Politik zu akzeptieren.“ (S. 39) Diejenigen, die sich von antiliberalen Gesellschaftsentwürfen leiten ließen, „waren am Ende ebenso isoliert und gescheitert wie die Systeme, die sie lange unterstützt haben.“ (S. 42) Bestätigt fühlen konnten sich 1989/90 diejenigen, die wie Richard Crossman Ostkontakte nutzen wollten, „um den inneren Wandel der kommunistischen Diktaturen zu beschleunigen.“ (S. 41) In völliger Übereinstimmung mit der Transformationsstrategie westdeutscher Prägung, die Egon Bahr in die bekannte Formel „Wandel durch Annäherung“ gegossen hat, sollte im Umgang mit dem Osten eine Politik verfolgt werden, die sich „zwischen Stabilisierung und Destabilisierung“ (S. 41) bewegte.

Wie es von der mit der Entspannungspolitik einsetzenden Deeskalation des Ost-West-Konflikts zu seinem Ende kam, ist in der Forschung umstritten. In diesem Band dominiert die Sicht, die von den hier behandelten Trägern ost-westlicher Kommunikation geforderte und mit dem KSZE-Prozess verstärkte Vorstellung einer erweiterten Sicherheit – und nicht in erster Linie die westliche Überlegenheit im Rüstungswettlauf – habe seine Auflösung bewirkt. Welche Bedeutung dabei die Wirtschaftsbeziehungen hatten, untersucht Schlarp am Beispiel des westdeutschen Osthandels. Er weist eine „ökonomische Interpretation der Neuen Ostpolitik“ zurück (S. 98) und ernüchtert jeden, der allzu blauäugig an Wandel durch Handel glaubt, eine Denkfigur, die seit Bestehen der UdSSR im Westen immer wieder gepflegt wurde. Auch wenn sich im Zuge von Wirtschaftsbeziehungen die Systeme berührten, war es doch ausschlaggebend, dass der Systemgegensatz erhalten blieb. Umfang und Wirkung von Osthandel blieben gleichermaßen begrenzt. Die wirtschaftliche Verflechtung, wie manchen Ostpolitikern mit dem Ziel des Systemwandels im Osten vorschwebte, stellte sich als Wunschvorstellung heraus. Dies ändert freilich nichts daran, dass Wirtschaftsakteure längst vor dem Durchbruch der Entspannungspolitik eine wichtige Rolle bei der Herstellung von Kontakten spielten. Vor allem spricht viel dafür, dass die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Westeuropa und der Sowjetunion Ende der 1970er Jahre, als sich der Ost-West-Konflikt wieder verschärfte, dazu beitrugen, einen Rückfall in den Kalten Krieg zu verhindern, wie er die 1950er Jahre bestimmt hatte. Insofern stellt sich die überfällige Frage nach einer Periodisierung der Ost-West-Beziehungen, die den gängigen Oberbegriff des Kalten Kriegs durch eine differenzierte Analyse des Verlaufs der Ost-West-Beziehungen ersetzt.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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