U. Frevert: Die Kasernierte Nation

Cover
Titel
Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland


Autor(en)
Frevert, Ute
Erschienen
München 2001: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
458 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Hippler, Europäisches Hochschulinstitut Florenz

Die allgemeine Wehrpflicht gehört zu den „massivsten“ Institutionen des modernen Staates. Sie hatte und hat einen bedeutenden Einfluß auf das Leben von Millionen von Männern, auf ihr Selbstbild als Männer, als Staatsbürger und als Soldaten, auf ihr Verständnis von Staat, Nation und Gesellschaft, auf Ideen und Ideologien von Dienst, Opferbereitschaft, Kameradschaft und Solidarität. Sie ist darüber hinaus ein interessanter Fall, wie eine „totale Institution“ wie die Armee ihr Sozialisierungsmodell über ihre Binnengrenzen hinweg in die zivile Gesellschaft diffusiert und eröffnet somit Einblicke in das Verhältnis zwischen Institutionen des modernen Staates und bürgerlicher Gesellschaft. Trotzdem ist die allgemeine Wehrpflicht bisher von den Historiker sträflich vernachlässigt worden. Ute Frevert hat mit ihrer Monographie über Militärdienst in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert somit Pionierarbeit geleistet. Herausgekommen ist ein sehr material- und kenntnisreiches Werk, dessen lebhafter Stil und klare Gliederung das Buch zu einer anregenden Lektüre machen.

Die Autorin geht mit drei systematischen Fragestellungen an ihr Objekt heran und thematisiert in fünf chronologisch angeordneten Kapiteln den Einfluß der Wehrpflicht auf politischen Bürgerstatus, gesellschaftliche Nationsbildung und Geschlechterverhältnisse. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit den Diskursen über Staatsbürgerschaft und Nationsbildung im Wechselspiel mit Klasseninteressen und –identitäten, sowie mit dem Verhältnis der Geschlechter zu Krieg und Nation bis 1813/15. Daran an schließt sich ein Abschnitt über Reglementierung und Implementierung der Wehrpflicht in Preußen bis 1848/49, bevor im dritten Teil die „Militärischen Sonderwege des »Dritten Deutschlands«“ bis zur Reichsgründung thematisiert werden. Darauf folgt ein viertes Kapitel über das Kaiserreich, und am Schluß werden die Weimarer Republik, der NS, die Bundesrepublik und die DDR in einem Abschnitt behandelt. Es gilt also zu konstatierten, daß das „lange 19. Jahrhundert“ mit vier von fünf Kapiteln und dreihundert von dreihundertfünfzig Seiten den Schwerpunkt der Untersuchung darstellt, während das „kurze 20. Jahrhundert“ nur sehr kursorisch abgehandelt wird („stärker pointierend als differenzierend, skizzenhaft statt quellengesättigt flächig statt detailgenau“ wie die Autorin einräumt; S. 303). Die Arbeit fußt auf einer breiten Quellengrundlage, die von Verwaltungsakten und Parlamentsprotokollen, über Broschüren und Flugblättern bis hin zu Autobiographien, Tagebüchern, Briefen und Liedern reicht.

Im Vergleich zu einem langen Artikel, den die Autorin dem Thema in einem von ihr 1997 herausgegebenen Sammelband gewidmet hatte, fällt auf, daß sich die Argumentation in der jetzt vorliegenden Monographie an vielen Stellen sehr viel vorsichtiger ausnimmt.1 Stand in genanntem Artikel noch ein Verständnis der Wehrpflicht als Institution zur „Sozialdisziplinierung“ im Vordergrund, so werden Argumente für das im Konzept der Volksbewaffnung zweifellos auch vorhandene politische Emanzipationspotential jetzt stärker gewürdigt. Allerdings mit einer symptomatischen geographisch-politischen Verortung der Argumentation: Preußen wird einerseits (völlig zu Recht) als Modellfall der Wehrpflicht in Deutschland in den Vordergrund gerückt, aber andererseits werden die der Disziplinierungsthese widersprechenden Aspekte fast nur in Bezug auf Süddeutschland behandelt.

Man mag auch bedauern, daß die vergleichende Perspektive nicht stärker herangezogen wird. Der Autorin ist natürlich Recht zu geben, wenn sie ausführt, daß „die aktuelle Forschungslage und die Komplexität der Fragen, die den Zusammenhang von Militärverfassung und gesellschaftlicher Gewalt- und Kriegsbereitschaft fokussieren, gegen ein solches Unterfangen [sprechen]. Bislang liegen weder für Deutschland noch für die meisten anderen europäischen Staaten Studien vor“ (S. 13). Trotzdem erscheit insbesondere die Tatsache, daß die moderne Wehrpflicht auf die Selbstbewaffnung des Volkes in der Französischen Revolution zurückgeht, einen vergleichenden Blick westlich des Rheins zu erfordern.2 Gegen Ende ihres Buches kommt die Autorin zu dem Schluß, „daß die deutsche Staatsfixierung, die durch die Wehrpflicht nachhaltig unterstützt worden ist, der Ausbildung zivilgesellschaftlicher Kommunikations- und Kooperationsweisen nicht zuträglich war“. Hier kann man einwenden, daß Staatsfixierung in anderen europäischen Staaten keineswegs geringer war als in
Deutschland: es gibt sogar gute Argumente dafür, daß das Staatsbürgerschafts- und Nationalitätsverständnis Frankreichs wesentlich stärker „staatszentriert“ war als das Deutschlands.3

Es bleibt festzuhalten, was schon eingangs festgestellt wurde: Ute Freverts Studie der Wehrpflicht in Deutschland ist nicht nur ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der Institutionalisierung von Gewalt- und Kriegsbereicht in Deutschland, sondern eröffnet darüber hinaus einen erhellenden Blick in das noch lange nicht ausreichend erforschte Verhältnis von Staat, Zivilgesellschaft, politischer Individualität und Geschlecht. Die Wehrpflicht ist hierfür ein Paradebeispiel und es war deshalb an der Zeit, sie der historischen Forschung zugänglich zu machen.

Anmerkungen:
1 Frevert, Ute, „Das jakobinische Modell: Allgemeine Wehrpflicht und Nationsbildung in Preußen-Deutschland” in: Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. hg. v. Ute Frevert. (=Industrielle Welt 58) Stuttgart, Klett-Cotta, 1997; S. 17-47. In diesem ebenfalls sehr sorgfältig gearbeiteten und differenziert argumentierenden Artikel wird von der Wehrpflicht als „Erziehungsdiktatur“ (S. 25) zur „Produktion obrigkeitshöriger, gehorsamer Untertanen“ (S. 38) gesprochen und die Institution als „Motor innerer Nationsbildung unter konservativ-obrigkeitlichem Vorzeichen“ beschrieben.
2 „Die kanalisierte Form der Volksbewaffnung im Rahmen der allgemeinen Wehrpflicht war somit in ihrem Ursprung die militärische und ordnungspolitische Antwort auf das Phänomen der kriegerischen Selbstmobilisierung des Volkes. Sie war der von der politischen und militärischen Führung organisierte Versuch, das staatliche Gewaltmonopol auch im Zeitalter des Volkskriegs durch Integration von ziviler Gesellschaft und militärischer Anstalt zu retten.” Förster, Stig, “Militär und staatsbürgerliche Partizipation. Die allgemeine Wehrpflicht im Deutschen Kaiserreich 1871-1914” in: Die Wehrpflicht: Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-militärische Wirkung. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hg. v. Roland G. Foerster. (=Beiträge zur Militärgeschichte 43) München, Oldenbourg, 1994, S. 57.
3 Vgl. Brubaker, Rogers, Citizenship and Nationhood in France and Germany. Cambridge & London, Harvard University Press, 1992.

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