F. Eder u.a. (Hrsg.): Historische Diskursanalysen

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Titel
Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen


Herausgeber
Eder, Franz X.; Sieder, Reinhard
Erschienen
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Pascal Eitler, SFB 584: Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte, Universität Bielefeld

Die anhaltende Auseinandersetzung um den Sinn oder Unsinn der Diskursgeschichte kreist nach wie vor um Michel Foucault und verliert sich bisweilen noch immer in einseitigen Polemiken. Die ausgeprägte Vielschichtigkeit des vorliegenden Sammelbandes ist vor diesem Hintergrund an sich überaus begrüßenswert. Sie stellt allerdings sowohl seine Stärke als auch seine Schwäche dar. Historische Diskursanalyse – das meint in den insgesamt siebzehn Beiträgen nicht nur erwartungsgemäß teilweise Unterschiedliches, sondern manchmal auch beinahe Gegensätzliches: Da geht es um Kommunikation und Sprache, um Semantiken und Narrative und mitunter sogar um Intentionen, aber nicht immer um Diskurse. Zwar liegt dem Herausgeber, Franz X. Eder, an einer "Etablierung" und "Erweiterung" der Diskursgeschichte (S. 10, 13). Im einen oder anderen Fall jedoch erkauft sich der Band eine solche auf Kosten begrifflicher Trennschärfe. Leider können an dieser Stelle aus Platzgründen nicht alle Beiträge gleichermaßen erörtert werden.

Der Band versammelt in drei Teilen sowohl theoretische, als auch theoriehistorische und historischempirische Untersuchungen. Den theoretischen Entwürfen im ersten Teil kommt im Folgenden besondere Aufmerksamkeit zu, da sie die Krux der Debatte um das Für und Wider der Diskursgeschichte mustergültig vor Augen führen.

In gewohnt abgewogener und deswegen ertragreicher Weise bemüht sich Reiner Keller um eine Vermittlung von Diskursanalyse und Wissenssoziologie. Er konstatiert zu Recht, dass Foucault zu zahlreichen, vor allem methodischen Problemen allenfalls am Rande oder gar nicht Stellung genommen hat. Ohne die bestehenden Divergenzen zwischen Diskursanalyse und Wissenssoziologie zu verkennen, zeigt Keller auf: Einige dieser Probleme lassen sich – mit etwas gutem Willen – wissenssoziologisch beheben. Auch Peter Haslinger bemüht sich um eine vielversprechende „Erweiterung“ der Diskursanalyse und entfaltet seinerseits ein ganzes Set von Anschlussmöglichkeiten, wobei insbesondere sein Verweis auf die Arbeiten Pierre Bourdieus und den Habitusbegriff weiterführend erscheint – hier hätte es sich gelohnt weiter zu bohren.

Stattdessen unterziehen Rüdiger Graf, Andreas Frings und Johannes Marx die programmatischen Arbeiten Foucaults einer meines Erachtens weitgehend fruchtlosen Kritik vermittels des Sprachphilosophen Donald Davidson. Diese verfehlt ihren Gegenstand größtenteils, insofern sie in erster Linie altbekannte und grundsätzliche Missverständnisse reproduziert.

Ein Diskurs im Sinne Foucaults ist – erstes Missverständnis – kein „Sprachsystem“, wie Graf formuliert (S. 84). Wie auch immer man zu dieser Differenzierung stehen mag: Foucault hat viel Energie darauf verwandt, Diskurs und Sprache strikt zu unterscheiden, worauf Keller in seinem Beitrag wiederholt und nachdrücklich aufmerksam macht (S. 52ff.). Diskurse markieren nicht allein die viel beschworenen Grenzen des Sagbaren oder Denkbaren. Sie sind vielmehr Praktiken, die ein bestimmtes Wissen konstituieren, strukturieren und distribuieren. Vielfach aus dem Blick gerät dabei, dass dieses Wissen Macht entfaltet, insofern es Effekte zeitigt, durchaus materielle Effekte, wie insbesondere auf dem Feld der Körper- und Geschlechtergeschichte deutlich wird. Diskurse ohne Effekte sind keine Diskurse – zumindest nicht im Sinne Foucaults. Wer Diskursgeschichte als Sprachgeschichte charakterisiert, um diese daraufhin – mit oder ohne Davidson – sprachphilosophisch zu kritisieren, zum Beispiel ob Ihres zweifelsohne eingeschränkten Interpretationsbegriffes, schießt daher auf selbstgebaute Pappkameraden.

Eine Diskursgeschichte im Sinne Foucaults ist – zweites Missverständnis – sehr wohl akteursbasiert. Sie macht allerdings einen entscheidenden Unterschied zwischen Akteuren und – das gerät wild durcheinander – Subjekten, Individuen, Personen. Claudia Bruns betont in ihrer rundum gelungenen Fallanalyse des „Männerbunddiskurses“ um 1900 zu Recht: Es geht in diesem Zusammenhang "keinesfalls um die Aufhebung handelnder Subjekte, sondern allein um deren radikale Historisierung" (S. 189). Nicht der Handlungsmacht historischer Akteure stand Foucault skeptisch gegenüber, sondern deren vermeintlich naturhaftem Subjektstatus. Statt mit Davidson an Foucault vorbei zu reden, wäre dem Band an dieser Stelle eine detaillierte Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieu und Judith Butler durchaus zu Gute gekommen.

Im zweiten Teil widmet Philipp Sarasin der „Entstehung“ der Diskursgeschichte im „Werk“ Foucaults – in Auseinandersetzung mit Roussel, Mallarmé und Nietzsche – eine sehr lesenswerte Untersuchung, die das Jahr 1963 als "Geburtsstunde" der Diskursgeschichte in den Blick nimmt. Der vollauf überzeugende Beitrag von Marcus Otto – der weit besser in den ersten Teil gepasst hätte – entwickelt eine ebenso unerwartete wie aufschlussreiche Verknüpfung von Foucault, Luhmann und Koselleck, um die radikale Performativität historischer Ereignisse zu begreifen. Diskursgeschichte definiert Otto folgerichtig als "Wiederbeschreibung performativer Selbstbeschreibungen" (S. 176).

Einer Verknüpfung von Foucault und Luhmann widmet sich im dritten Teil auch der überaus gelungene Aufsatz von Andreas Bähr. Er beschäftigt sich am Beispiel der Furcht vor Krankheit und Gewalt im Rahmen zweier Autobiografien aus dem 17. Jahrhundert mit der historischen Relevanz kommunikativer Paradoxien – hier auf dem Gebiet der Religionsgeschichte. Patrick Kury versucht sich mit Blick auf den "Überfremdungsdiskurs" in der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an einer wünschenswerten Kombination von Foucault und Bourdieu. Sehr schlüssig rekonstruiert seine Fallanalyse die Wirkmächtigkeit dieses Diskurses nicht zuletzt aus seiner „begrifflichen Ungenauigkeit“ heraus (S. 208). Es gelingt Kury in der Kürze der Zeit aber nur bedingt, den Habitus des so genannten "Schreibtischtäters" innerhalb der Fremdenpolizei zu erschließen. So bleibt es vorerst, zumindest an dieser Stelle, bei einem Postulat. Mit der Digitalisierung der Telekommunikation im Rahmen von Europäisierungs- und Ökonomisierungsdiskursen innerhalb bzw. ausgehend von der Europäischen Kommission beschäftigt sich ein informativer Beitrag von Petra Schaper-Rinkel. Zwar betont Schaper-Rinkel zu Recht die Rolle von Institutionen für die Entwicklungsgeschichte und Wirkmächtigkeit von Diskursen – sie verliert dabei aber deren öffentliche Dimension und soziale Unabgeschlossenheit weitgehend aus dem Blick.

Insgesamt präsentiert Eder einen überaus vielschichtigen Sammelband, der interessante Akzente setzt und sich dankenswerterweise jeder Form der Apologie verweigert. Aufgrund seiner beachtlichen Heterogenität aber wirft er meines Erachtens insgesamt mehr Fragen auf, als er zu beantworten vermag: Was ist ein Diskurs? Wie hält es die Diskursgeschichte mit Foucault? In diesen Fragen weisen einige Artikel beinahe in entgegengesetzte Richtungen. Zwar kann es selbstredend nicht das Ziel sein, Foucault – als einflussreichsten Stichwortgeber – von berechtigter und mannigfacher Kritik auszunehmen. Doch sollte man die historische Diskursanalyse, so wie Foucault sie – ob man will oder nicht – programmatisch geprägt hat, nicht allzu sehr verwässern und damit ihres heuristischen Nutzens berauben, indem man jede Form des Sprechens vorschnell als Diskurs bezeichnet. Begriffliche Trennschärfe hätte einen auch in diesem Fall vor theoretischen Scheingefechten bewahrt. Der mehrfach eingeklagte Versuch, diskursgeschichtliche, wissenssoziologische und habitusanalytische Fragestellungen und Arbeitsweisen miteinander zu kombinieren, erscheint mir in diesem Kontext ungleich erkenntnisfördernder. Über den Sinn oder Unsinn der Diskursgeschichte entscheidet schließlich nicht die Theorie, sondern die Praxis.

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