E. Koulakiotis: Genese des Alexandermythos

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Titel
Genese und Metamorphosen des Alexandermythos. Im Spiegel der griechischen nichthistoriographischen Überlieferung bis zum 3. Jh. n.Chr.


Autor(en)
Koulakiotis, Elias
Reihe
Xenia 47
Erschienen
Konstanz 2006: UVK Verlag
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Müller, Historisches Seminar, Universität Hannover

Elias Koulakiotis, Dozent am Fachbereich Geschichte und Archäologie der Universität von Kreta, beschäftigt sich in seiner Dissertation mit den vielfältigen Ausgestaltungen und der Entwicklung der Alexanderbilder, die unabhängig von der offiziellen makedonischen Propaganda entstanden. Auf Grundlage der strukturalistisch-anthropologischen Methode untersucht er den "Filterungsprozess" des Alexandermythos (S. 20) in der athenischen zeitgenössischen Rhetorik, der philosophisch geprägten biografischen Überlieferung, den rhetorisch-epideiktischen Quellen der Kaiserzeit und im Alexanderroman. Zur Geschichte Alexanders und seiner Nachwirkung hat sich Koulakiotis schon früher geäußert.1

Die sorgfältige Analyse der Zeugnisse der attischen Redner ergibt, dass Alexander zur archetypischen Figur stilisiert und nicht als historisches Individuum behandelt wird. Der Konstruktion des Tyrannen wie in der pseudo-demosthenischen Rede "Über die Verträge mit Alexander", die Koulakiotis auf ungefähr 330/327 v.Chr. datiert (S. 33), steht das positive Bild Alexanders bei Aischines gegenüber. Bei ihm stelle der König in göttlichem Auftrag die Ordnung wieder her. Demosthenes' Alexanderbild erfahre dagegen eine der politischen Situation angepasste Entwicklung respektive Wendung.2 Aus dem sexuell und emotional unreifen Margites, zu dem ihn Demosthenes in seinen Regierungsanfängen gestaltet, sei der Philosophenkönig geworden, dem als solchen auch die Poliswelt nicht verschlossen geblieben sei. Die Kargheit der Spuren insgesamt, die Alexander in den zeitgenössischen attischen Reden hinterlassen hat, erklärt Koulakiotis mit der politischen Lage Athens. In Zeiten der makedonischen Hegemonie sei mutmaßlich viel über Alexander geredet, aber wenig über ihn publiziert worden (S. 26).

In der hellenistischen philosophischen Überlieferung habe das Bild Alexanders als Philosoph neben unterschiedlichen anderen Konstrukten existiert, deren Unterteilung in stoische, peripatetische und kynische Alexanderreflexionen Koulakiotis durchaus überzeugend als zu undifferenziert kritisiert. Die ältere Forschung schrieb den Peripatetikern die Begründung eines negativen Alexanderporträts zu, das als Reaktion auf die Hinrichtung des Kallisthenes, sozusagen als eine Art Abrechnung, entstanden sei.3 Koulakiotis gelingt es hingegen in Anlehnung an Ergebnisse von Mensching, Fears und Badian zu zeigen, dass sich keine generelle Verurteilung des Königs in den peripatetischen Schriften, auch nicht bei Kallisthenes' Freund Theophrast, nachweisen lässt.4 Für den kaiserzeitlichen Moralphilosophen Plutarch, der naturgemäß einen breiten Raum in der Untersuchung einnimmt, konstatiert Koulakiotis, dass sein Alexanderbild eine Entwicklung erfahren habe. In der Vita habe er Alexander am Maßstab des Sophrosyne-Ideals gemessen, in den Moralia zum platonischen Philosophenkönig erklärt. Dies könnte allerdings auch der unterschiedlichen literarischen Intention der Werke geschuldet sein. Generell habe der griechische Osten der römischen Dominanz einen idealisierten Alexander als Leitbild und Integrationsfigur entgegengesetzt, die den Griechen geholfen habe, sich in der römischen Welt zu situieren (S. 176).

Der Alexanderroman, treffend als "eine Mischung aus romanhafter Biographie, Reiseroman und mythologischem Epos" beschrieben (S. 232), habe Alexander in fiktionaler Verklärung als Kosmokrator dargestellt, dessen Figur an homerischen Helden wie Achilles und Odysseus und an Göttern wie Herakles orientiert gewesen sei. Der Fokus habe auf einem religiösen Aspekt, Alexander als ktistes, gelegen, worin sich der ptolemäische Einfluss auf sein Porträt im Roman zeige. Als grenzüberschreitender Weltherrscher habe Alexander das Ende einer historischen Entwicklung gebildet, die mit dem Trojanischen Krieg begonnen habe (S. 226, 238). In den verschiedenen Konzepten, die er anschaulich beschreibt, erkennt Koulakiotis auch einen topografischen Aspekt der Alexanderfigur. Das Bild des Tyrannen Alexander, wie es in der Polis entstand, der Herrscher im Zentrum der Welt bei Plutarch und der Weltbeherrscher des Alexanderromans würden die griechischen Raumkonzepte widerspiegeln (S. 237). Man kann polisübergreifende Alexanderbilder hinzufügen, etwa das von den Makedonen während des Persienkriegs entwickelte, worin Alexander als Tyrann stilisiert und mit dem geradezu mythisierten Philipp II. als makedonischem Musterkönig negativ verglichen wurde.5 Das Weltherrschaftsmodell könnte auch Teil von Alexanders Selbstdarstellung nach den Eroberungen gewesen sein.

In summa bietet das Buch einen sehr fundierten, anschaulichen Überblick über stark verstreutes Quellenmaterial, beleuchtet die bekannte Thematik aus anregenden Perspektiven und liefert schlüssige Ergebnisse. Die differenzierte Quellenarbeit und die umfassende Dokumentation der Forschungsliteratur gestalten die Studie um so nützlicher. An Einwänden ergibt sich nicht viel. So kommt die Ikonografie des Alexanderbildes, die als Referenz angekündigt wird (S. 21), etwas zu kurz.6 Auch hätte die in den Fußnoten ausführlich dokumentierte Forschungsliteratur nach den darin vertretenen Positionen deutlicher voneinander abgegrenzt werden können. Nicht unbedingt anzuschließen braucht man sich Koulakiotis' Definition des Einführungsversuchs der Proskynese. Im Kontext der Debatte um Alexanders Vergöttlichung charakterisiert er ihn als "Etappe dieser Entwicklung", angelehnt an das achaimenidische Königtum (S. 46f.). Es ist bekannt, dass die Griechen und Makedonen mit dem Kniefall göttliche Verehrung verbanden, was auf einem kulturell bedingten Missverständnis beruhte: Der Großkönig wurde nicht als Gott verehrt, sondern war ein Auserwählter Ahuramazdas. Dass Alexander mit der Proskynese mehr als nur die Vereinheitlichung des Hofzeremoniells plante, ist daher eher zu bezweifeln. Die achaimenidische Vorgabe hatte mit Vergöttlichung jedenfalls nichts zu tun. Ebenso sollte davon Abstand genommen werden, die Behistun-Inschrift als Beispiel für eine zentral gelenkte Propaganda der Achaimeniden zu betrachten (S. 235, mit Anm. 1070). Angesichts des Dynastiewechsels, der Dareios zwang, in monumentaler Weise seine Legitimation zu demonstrieren, war die Behistun-Inschrift ein Sonderfall, der mit jener Krise zusammenhing. Im Gegensatz zu Alexanders Darstellung seiner Erfolge, welche die Zwecke verfolgte, in Griechenland und Makedonien die bestehende Ordnung zu stabilisieren und den Wandel seines Königtums mental vorzubereiten, zielte Dareios' Botschaft in Behistun primär auf seine Legitimation.7 Entbehrlich erscheinen die anachronistischen Termini der angeblichen "Verschmelzungspolitik" Alexanders, aktuell von Johannes Engels zurückgewiesen8, und der ägyptischen "nationalistischen" Bestrebungen unter der makedonischen Herrschaft in der Folge von Samuel K. Eddy und Alan B. Lloyd.9 Die modernen Begrifflichkeiten greifen für antike Strukturen in diesem Kontext nicht.

Diese Einwände mindern den überaus positiven Gesamteindruck der Studie, die einen wichtigen Aspekt von Alexanders Nachleben umfassend behandelt, jedoch nicht wesentlich. Sowohl für Studierende als auch für historisch Interessierte und für Fachleute ist das anregende Buch, das überdies mit einem Abbildungsteil und einem ausführlichen Register versehen ist, sehr empfehlenswert.

Anmerkungen:
1 Koulakiotis, E., Devenir adulte, un défi pour Alexandre. Sur quelques témoignages des orateurs attiques, in: MEFRM 112 (2000), S. 13-26; Ders., in: Sparte kai Alexandros, Ariadne 11 (2005), S. 145-164.
2 Zum Wandel in der Politik des Demosthenes gegenüber Makedonien vgl.: Wirth, G., Hypereides, Lykurg und die autonomia der Athener. Ein Versuch zum Verständnis einiger Reden der Alexanderzeit, Wien 1999, S. 99-105, 113-123. Wirth charakterisiert Demosthenes als Opportunisten. Positiver, als eine Maßnahme der Staatsräson, werden die Gründe seines politischen Umschwenkens geschildert bei: Lehmann, G. A., Demosthenes von Athen. Ein Leben für die Freiheit, München 2004, S. 191-219.
3 Vgl. Tarn, W. W., Alexander der Große, Darmstadt 1968, S. 352.
4 Vgl. Mensching, E., Peripatetiker über Alexander, in: Historia 12 (1963), S. 274-282; Fears, J. R., The Stoic View of the Career and the Character of Alexander the Great, in: Philologus 118 (1974), S. 113-130; Badian, E., The Eunuch Bagoas: A Study in Method, in: CQ 8 (1958), S. 144-157.
5 Vgl. Kienast, D., Philipp II. von Makedonien und das Reich der Achaimeniden (Abhandlungen der Marburger Gelehrten Gesellschaft 6), München 1973, bes. S. 244f.
6 Zudem sind die Zuschreibungen der vorgestellten Alexanderporträts (S. 57f.) teilweise etwas problematisch. Ihre Umstrittenheit und die jeweiligen Forschungspositionen finden keine Erwähnung. Die unkommentierte Zuschreibung des Originals des Alexandermosaiks an Philoxenos mit dem Auftraggeber Kassander (S. 96) ist ein Beispiel; vgl. zu einer alternativen Deutung: Pfrommer, M., Untersuchungen zur Chronologie und Komposition des Alexandermosaiks auf antiquarischer Grundlage, Mainz 1998; umfassend auch: Cohen, A., The Alexander Mosaic. Stories of Victory and Defeat, Cambridge 1997. Ob das Heraklesbild der Münzprägungen Alexanders zudem bereits seine Porträtzüge trug, wie Koulakiotis ausführt (S. 46), ist ein ungelöster Streitpunkt und kritisch zu sehen. Vgl. relativierend: Huttner, U., Die politische Rolle der Heraklesgestalt im griechischen Herrschertum, Stuttgart 1997, S. 115-119; Howgego, C. Geld in der antiken Welt. Was Münzen über Geschichte verraten, Darmstadt 2000, S. 74.
7 Vgl. Wiesehöfer, J., Das antike Persien von 550 v.Chr. bis 650 n.Chr., Düsseldorf 1998, S. 33-43, 53-55; Heinrichs, J., "Asiens König". Die Inschriften des Kyrosgrabs und das achaimenidische Reichsverständnis, in: Will, W.; Heinrichs, J. (Hgg.), Zu Alexander d. Gr. FS G. Wirth, Bd. 1, Amsterdam 1987, S. 487-540.
8 Vgl. Engels, J., Philipp II. und Alexander der Große, Darmstadt 2006, S. 65; grundlegend: Bosworth, A. B., Alexander and the Iranians, JHS 100 (1980), S. 1-21.
9 Vgl. Eddy, S. K., The King is Dead. Studies in the Near Eastern Resistance to Hellenism 334-31 B.C., Lincoln 1961; Lloyd, A. B., Nationalist Propaganda in Ptolemaic Egypt, in: Historia 31 (1982), S. 33-55; dagegen vgl. in: Blasius, A.; Schipper, B. U., Apokalyptik und Ägypten? Erkenntnisse und Perspektiven, in: Dies. (Hgg.), Ägyptische Apokalyptik. Eine kritische Analyse der relevanten Texte aus dem griechisch-römischen Ägypten, Leuven 2002, S. 277-302, 294-298; generell vgl.: Lund, A. L., Hellenentum und Hellenizität. Zur Ethnogenese und zur Ethnizität der antiken Hellenen, in: Historia 54 (2005), S. 1-17.

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