B. Haase: "Allerhand Erneuerung"

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Titel
"Allerhand Erneuerung". Eine kirchengeschichtliche Studie zum Übergang deutscher Territorien der Frühneuzeit zur reformierten Lehre aus der Perspektive der Grafschaft Lippe


Autor(en)
Haase, Bartolt
Erschienen
Wuppertal 2005: Foedus-Verlag
Anzahl Seiten
267 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Rohmann, Abteilung für Geschichtswissenschaften, Universität Bielefeld

Die Debatte über Begriff und Konzept der Konfessionalisierung lebt seit ihren Anfängen von zwei Problemen, die dieses seinen sozial- und strukturgeschichtlichen Wurzeln verdankt. Zum einen wurde gerade an den grundlegenden Arbeiten schon früh moniert, dass die Prozesshaftigkeit der Konfessionalisierung in ihnen nicht konsequent zu Ende gedacht sei: Trotz einer Abkehr von der Annahme eines Epochenbruchs mit der Reformation sei vielfach die Vorstellung einer homogenen Kirchlichkeit der Konfessionen schon im 16. Jahrhundert wirksam geblieben. In diesem Sinne wurde auf die komplexen Wechselbeziehungen zwischen den und innerhalb der entstehenden Bekenntnisse hingewiesen. Insbesondere die Benennung des Übergangs zur reformierten Lehre als „Zweite Reformation“ wurde dabei in Frage gestellt. In jüngerer Zeit hat sich die Forschung denn auch verstärkt der Pluralität, Interdependenz und inneren Differenziertheit der Konfessionalisierungsbewegungen zugewandt.

Zum anderen wohnt dem Konzept besonders da, wo es explizit mit der Ausbildung der modernen europäischen Staatlichkeit zusammengedacht wird, eine Tendenz inne, die Ereignisse von Ihren Konsequenzen her zu beurteilen, ja: die historischen Folgen den Protagonisten als Motivation zu unterstellen. So wurde immer wieder eingefordert, die konkreten religionspolitischen Weichenstellungen von den Akteuren, ihrem Wahrnehmungshorizont und ihren Handlungsmöglichkeiten her, zu untersuchen.

Nun würden auch die Gründerväter der Konfessionalisierungsforschung heute umstandslos zugestehen, dass eine fruchtbare Weiterentwicklung gerade an diesen Problemen ansetzen kann. Insofern vermag es zu irritieren, wenn eine einschlägige Fallstudie heute mit einem gewissen Aplomb den Neuigkeitswert dieser Kritik behauptet. Diesen Anspruch freilich muss wohl formulieren, wer die Konfessionalisierung ausgerechnet in der Grafschaft Lippe behandeln möchte – in jenem Territorium also, das Heinz Schilling 1981 für seine grundlegende Arbeit herangezogen hat. Eben dies unternimmt Bartolt Haase mit seiner in Göttingen entstandenen kirchengeschichtlichen Dissertation.

Er stützt sich dabei auf einen Bereich, den Schilling explizit ausgeklammert hatte: auf eine präzise theologiegeschichtliche Analyse der (zum Teil im Anhang edierten)Schlüsseldokumente, also Disputationsthesen, Apologien und Bekenntnisschriften. Und er sichert seine Untersuchung ab durch einen Vergleich mit Territorien, die etwa gleichzeitig ebenfalls zur reformierten Lehre übergingen, mit der Stadt Bremen, der Landgrafschaft Hessen-Kassel und dem Fürstentum Anhalt.

Schilling hatte die „Zweite Reformation“ in Lippe als maßgeblich von politischen Interessen des Herrscherhauses bestimmt dargestellt. Graf Simon VI. habe sich demnach schon 1581 der reformierten Lehre zugewandt und dann über Jahrzehnte eine Politik der sukzessiven Durchsetzung des neuen Bekenntnisses betrieben, bevor er sich schließlich 1605 mit der Einnahme des Abendmahls nach neuem Ritus öffentlich und rechtswirksam bekannt habe. Dies habe in den folgenden Jahren zum Konflikt mit den Untertanen geführt und schließlich 1617 zur Festschreibung der kirchenrechtlichen Sonderstellung der größten Stadt des Territoriums, des strikt lutherischen Lemgo. Diese Chronologie entsprach dem von Schilling favorisierten Phasenmodell, in dem zwischen 1570 und 1620 der Konflikt der drei stabil formierten Konfessionen das Bild bestimmt habe. Alle Bekenntnisse zur Confessio Augustana ohne Anerkennung der Konkordienformel von 1575 ließen sich demnach nur als Rhetorik mit Rücksicht auf das im Augsburger Religionsfrieden festgeschriebene Verbot des „Calvinismus“ lesen. So wurde Lippe zum Idealtypus der „Zweiten Reformation“ in einem mittleren Territorium, bei der die Verdichtung der Territorialstaatlichkeit in Wechselwirkung mit der Ausbildung der Kirchlichkeit stand.

Bartolt Haase nun betont gegen die strukturgeschichtlich geprägte Abstraktion die Pluralität der Handlungsoptionen, Wahrnehmungsmöglichkeiten und Motive der Akteure. Diese seien geprägt gewesen durch das Streben nach einer den jeweiligen Vorstellungen entsprechenden Umsetzung der theologischen Postulate der Reformation. Das Jahrhundert nach der Reformation sieht er durch einen vielschichtigen, aber doch kontinuierlichen Prozess der Durchsetzung ihrer Forderungen geprägt. Die Jahrzehnte von 1570 bis 1620 markieren dabei die Phase der Herausbildung der beiden evangelischen Konfessionen mit je eigener Kirchlichkeit und theologischer Homogenität. Mit der Konkordienformel von 1575 waren es demnach die Lutheraner, die einseitig eine Polarisierung erzwangen: Durch die dogmatische Kanonisierung der Ubiquitätslehre und des aus ihr folgenden Abendmahlsverständnisses hätten sie alle Versuche unmöglich gemacht, auf der Basis der Confessio Augustana einen theologisch pluralistischen Zwischenweg zur Weiterentwicklung der Reformation zu suchen. Damit sei eine Dynamik in Gang gekommen, die innerhalb von etwa 30 Jahren alle Territorien, die sich nicht der Konkordie angeschlossen hätten, zum reformierten Bekenntnis gezwungen habe – ein Homogenisierungsprozess also, an dessen Ende – und nicht an dessen Anfang – die Kirchenspaltung gestanden habe.

Dies wird nun einerseits anhand der jeweiligen Schlüsseltexte für alle vier Untersuchungsräume mit aller gebotenen Präzision eindrücklich belegt. Andererseits führt die Konzentration auf die Theologie jedoch zu einer gewissen Blickverengung gegenüber dem Kontext: Lassen sich an den Disputationen der Gelehrten wirklich die Wahrnehmungshorizonte der Akteure ablesen? Läuft man nicht Gefahr, den Protagonisten religionspolitische Naivität zu unterstellen? Immerhin waren die Ablehnung der Ubiquität und die daraus folgende Sakramentenlehre nicht theologische Quisquilien, sondern allen Beteiligten als zentrale Streitpunkte bekannt. In den nahen Niederlanden, in der Schweiz oder der Pfalz gab es doch durchaus eine reformierte Kirchlichkeit! Der Graf von Lippe und seine Berater mögen sich selbst in der Tradition der Reformation gesehen haben. Dass Ihre Politik angesichts der zunehmenden Polarisierung zum Konflikt führen könnte, wird ihnen aber schwerlich entgangen sein. Das Bekenntnis zur Confessio Augustana war also sicherlich keine vordergründige Heuchelei, wohl aber bei Simon VI. – dem Kreisobersten des westfälisch-niederrheinischen Reichskreises und engen Freund des Kaiserhauses – zumindest auch politischen Notwendigkeiten geschuldet.

Wo die ältere Forschung die Konfessionalisierung also noch zu wenig als Prozess mit offenem Ausgang gesehen hatte, da behauptet Haase jetzt eine Offenheit auch noch für einen Zeitpunkt, zu dem diese für die Zeitgenossen wohl nicht mehr gegeben war. Folglich fällt es Haase schwer, die militärische Konfrontation ab 1610 zu erklären. Man wird die Wechselwirkung zwischen sozialen, politischen und theologischen Einflüssen also präziser fassen müssen. Von einer „Zweiten Reformation“ im Sinne eines bewussten Wechsels zur reformierten Kirche wird man dabei jedoch in der Tat nicht mehr sprechen wollen. Dies gilt übrigens auch über das Jahr 1617 hinaus, mit dem Haase seine Untersuchung enden lässt. Dass die neue reformierte Kirche noch gut 70 Jahre (bis 1684) ohne eigene Kirchenordnung auskam, spricht eher für einen noch längeren Prozess der Konfessionalisierung!

Mit „viel Geduld und Toleranz“ (S. 125) habe man in Lippe die Ideen der Reformation wirksam durchsetzen wollen, so Haase. Damit reduziert er die spezifischen Positionen des sich herausbildenden Luthertums gerade in der Frage der Adiaphora quasi auf krypto-katholische Rudimente: Manche „Mitteldinge“, Bilder im Kirchenraum etwa, wurden doch längst nicht mehr nur bis zu ihrem absehbaren Aussterben geduldet, sondern vielmehr gezielt eingesetzt als Ausdruck einer eigenen konfessionellen Kultur! Haases Arbeit steht so erkennbar in der Tradition der reformierten Kirchengeschichte, die selbstredend die eigene Kirchlichkeit als konsequente Vollendung der von Luther angestoßenen Bewegung sieht. Da solche Voreingenommenheiten gerade die Konfessionalisierungsforschung immer wieder befruchtet haben, ist dies nun alles andere als illegitim, aber auch hilfreich zu wissen.

Simon VI. von Lippe und seinen Beratern also ging es zunächst um eine Fortsetzung der Reformation im Zeichen eines philippistischen Mittelwegs. Erst die Zuspitzung des Konflikts, so Haase überzeugend, habe sie zur Parteinahme für das reformierte Bekenntnis gezwungen. Dass solche Vertreter einer Ausgleichspolitik in der zunehmenden konfessionellen Polarisierung zwischen die Fronten gerieten, entspricht letztlich nur einer konsequenten Lesart der Konfessionalisierung. Bartolt Haases Fallstudie relativiert insofern das die Forschung dominierende Paradigma weniger, als dass sie es in mancher Hinsicht fruchtbar zu Ende denkt. Vor allem seine trennscharfen theologiegeschichtlichen Analysen bereichern das Bild jenes vielschichtigen Differenzierungsprozesses innerhalb der reformatorischen Bewegung, an dessen Ende die konfessionelle Spaltung stand. Dabei freilich wird man die Perspektive wieder erweitern müssen, um nach den sozialgeschichtlichen nun die kirchengeschichtlichen Einseitigkeiten zu vermeiden.

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