G. Wettig: Chruschtschows Berlin-Krise 1958 bis 1963

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Titel
Chruschtschows Berlin-Krise 1958 bis 1963. Drohpolitik und Mauerbau


Autor(en)
Wettig, Gerhard
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 67
Erschienen
München 2006: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 27,85
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Creuzberger, Historisches Institut, Universität Potsdam

Noch vor wenigen Jahren konstatierte der Innsbrucker Zeithistoriker Rolf Steininger im Zusammenhang mit der zweiten Berlin-Krise, dass es „mit Blick auf die Sowjetunion und die DDR nach wie vor mehr Fragen als Antworten“ gebe.1 Inzwischen hat sich in dieser Hinsicht die Forschungssituation deutlich verbessert. Nach der amerikanischen Politologin Hope M. Harrison 2 hat nunmehr mit Gerhard Wettig einer der ausgewiesensten Kenner der sowjetischen Deutschlandpolitik eine einschlägige Monografie vorgelegt, die sich auf eine bemerkenswert breite archivalische Grundlage stützt. Neben den ostdeutschen Beständen im Bundesarchiv und im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes sind es vor allem sowjetische Akten aus dem russischen Außenministerium sowie aus den Russischen Staatsarchiven für Neueste Geschichte und für Wirtschaft, die durch polnische und ungarische Materialen ergänzt werden.

Wettigs Erkenntnisinteresse gilt vorwiegend dem „Geschehensablauf von 1958 bis 1963“. Methodisch einem perzeptions- und interaktionsorientierten Ansatz verpflichtet, geht es ihm speziell darum, die „spezifischen Wahrnehmungen [. . .] der politischen Akteure“ und deren daraus abgeleiteten Verhaltensweisen zu untersuchen.3 Da der Konflikt um Berlin vornehmlich zwischen den Westmächten und der Sowjetunion ausgetragen wurde, verlegt sich die Studie hauptsächlich auf diesen Protagonistenkreis. Bonn und Ost-Berlin waren zwar von deren Entscheidungen nachhaltig betroffen; für beide politischen Führungen galt zudem, dass sie sich bemühten, das Vorgehen ihrer Schutzmacht zu beeinflussen. Doch gelang dies in einem insgesamt nur begrenzten Umfang und allenfalls innerhalb der von der jeweiligen Führungsmacht gewährten Handlungsspielräume.

Nicht zuletzt deshalb setzt Gerhard Wettigs Studie deutlich andere Akzente als Hope Harrisons Untersuchung aus dem Jahre 2003. Während diese mit dem Bonmot „the tail wagged the dog“4 zu dem Ergebnis kam, dass es im Wesentlichen der ostdeutsche Walter Ulbricht war, der im Jahre 1961 gegenüber Nikita Chruschtschow den Bau der Berliner Mauer erzwang, kommt Wettig in dieser Hinsicht zu einem anderen Urteil: Der Kremlchef stellte sich keineswegs als eine politische Persönlichkeit dar, die bereitwillig den Forderungen des SED-Parteiführers entsprach. Vielmehr war es allein Chruschtschow, der spätestens seit 1958 ungeachtet aller theoretischen Ansprüche von kollektiver Führung innerhalb der KPdSU zur Zentralfigur der sowjetischen Außen- und Deutschlandpolitik avancierte.

Als solcher trug er die Hauptverantwortung für den weiteren Verlauf der Ereignisse, die mit dem berühmten Berlin-Ultimatum von November 1958 ihren Auftakt nahmen und die die Welt in eine der gefährlichsten Krisen des Kalten Krieges stürzten. Wie Wettig in diesem Zusammenhang überaus deutlich macht, zeichnete sich das damalige sowjetische Krisenmanagement durch zweierlei Fehlverhalten aus: So waren es vor allem politisch unrealistische Zielvorstellungen und eine aus ideologischer Verblendung nur unzureichende Wahrnehmung der westlichen Gegenseite, die den politischen Kurs Moskaus nachhaltig prägten. Dessen Politik zur Erzwingung eines Friedensvertrages, der Deutschlands Teilung zementieren sollte, und zur Aufhebung der westlichen Besatzungsrechte, mit denen man West-Berlin zu einem vom Osten abhängigen Gebiet machen wollte, verkannte nicht nur den Symbolwert, den die Frontstadt vor allem für das amerikanische Engagement in Westeuropa besaß. Chruschtschow mangelnde Bereitschaft, die ihm vorliegenden Fakten realistisch zu analysieren, ignorierte auch sträflich, dass sich die West-Berliner kaum für seinen Vorschlag erwärmen würden, die bestehende Westbindung gegen den Status einer vermeintlich „Freien Stadt“ einzutauschen.

Ihren dramatischen Höhepunkt erlebte die sich über Jahre hinziehende Krise am 13. August 1961, als in einer konzertierten Aktion die Berliner Sektorengrenzen abgeriegelt wurden und der östliche Teil der Stadt sich einzumauern begann. Die Entscheidung hierzu fiel laut Wettig am 24. Juli 1961 oder allenfalls kurz davor in Moskau. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet er sich nach dem Studium der ihm zugänglichen sowjetischen Akten von den Datierungen Hope Harrisons, für die spätestens Ende Juni, Anfang Juli der eigentliche Zeitpunkt gekommen war, an dem aus dem Kreml grünes Licht für die Abriegelung der Stadt gegeben wurde.5 Der Mauerbau beendete gleichzeitig einen sich parallel zum Hauptkonflikt mit den Westmächten entwickelnden Nebenkonflikt zwischen Moskau und Ost-Berlin. Jetzt sah sich Ulbricht, der bereits seit dem Beginn der Berlin-Krise unter dem Eindruck massiver innerer Probleme nachhaltig für eine harte Gangart gegenüber dem Westen plädierte, zufriedengestellt. Gleichwohl stand die Maßnahme für Chruschtschow, der sich erst nach langem Zögern, dann aus eigenem Antrieb, zur Schließung der Grenzen durchrang, unter einem großen Vorbehalt: Sie sollte „nur solange aufrechterhalten werden [. . .], wie die Massenflucht aus der DDR nicht durch die Kontrolle über die West-Berliner Zugangswege unterbunden wurde“. Dass am Ende dann doch aus dem Provisorium eine nahezu drei Jahrzehnte währende Dauereinrichtung wurde, lag Wettig zufolge allein daran, dass die Bemühung des Kremlchefs um die „Kontrolle der Zugangswege aufgrund des Widerstands der Westmächte, vor allem der USA, nicht zum Erfolg führte.“6

Gerhard Wettig hat eine Analyse vorgelegt, die durch Souveränität, sorgfältig Recherche und durch ihre außerordentlich breite Quellenbasis besticht. Der besondere Wert der Studie besteht zudem darin, dass hier nicht nur die damaligen innersowjetischen Entscheidungsprozesse minutiös rekonstruiert, sondern diese stets in ihrem internationalen Kontext reflektiert und interpretiert werden. Wer sich deshalb künftig mit jenem Abschnitt der sowjetischen Deutschlandpolitik nach 1945 befassen möchte, wird kaum mehr diese grundlegende Arbeit ignorieren können.

Anmerkungen:
1 Steininger, Rolf, Die Berlin-Krise und der 13. August 1961, in: Eppelmann, Rainer u.a. (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn 2003, S. 63.
2 Harrison, Hope M., Driving the Soviets Up the Wall. Soviet-East German Relations 1953–1961, Priceton, NJ/Oxford 2003.
3 Wettig, S. 2.
4 Harrison, S. 139.
5 Harrison, S. 192.
6 Wettig, S. 286f.

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