M. Gailus u.a. (Hrsg.): Von der babylonischen Gefangenschaft

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Titel
Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Regionalstudien zu Protestantismus, Nationalsozialismus und Nachkriegsgeschichte 1930 bis 2000


Herausgeber
Gailus, Manfred; Krogel, Wolfgang
Erschienen
Berlin 2006: Wichern-Verlag
Anzahl Seiten
550 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Schmidt, Großhansdorf

Die „schwerste Identitätskrise des deutschen Protestantismus seit seinem Bestehen“ nennt Manfred Gailus (S. 17, 23, 515) die Periode von 1933 bis 1945, in der sich die damals bestehenden 28 evangelischen Landeskirchen, ihre Repräsentanten und die von ihnen Repräsentierten auf den Nationalsozialismus eingelassen haben. Der von dem Berliner Historiker zusammen mit dem Leiter des Landeskirchlichen Archivs, Wolfgang Krogel, herausgegebene Sammelband vereinigt neunzehn Regionalstudien einer Arbeitstagung des Landeskirchlichen Archivs Berlin-Brandenburg am 11. und 12. Oktober 2002 in der Evangelischen Akademie Berlin zum Thema „Protestantismus - Nationalsozialismus - Nachkriegsgeschichte“ und die über sie gehaltenen Referate sehr unterschiedlicher Qualität und Dichte. Den thematischen Zugang finden die interessierten Leser/innen am besten über die von Gailus verfasste Einführung (S. 13-26) und vor allem über sein Nachwort (S. 511-538): Das Jahr 1933 brach über den deutschen Protestantismus nicht aus heiterem Himmel herein, seine zustimmende Reaktion auf die „nationale Wiedererweckung“ der Deutschen war vielmehr der Endpunkt auf einer abschüssigen Bahn, die er bereits lange zuvor betreten hatte. Die Aufarbeitung der Geschichte der Kirche muss daher bereits im 19. Jahrhundert, spätestens mit der Reichsgründung 1870/71, ansetzen und darf nicht mit dem Jahr der Kapitulation 1945 aufhören, weil dieses Datum für das Selbstverständnis des deutschen Protestantismus und seine Bereitschaft zur Aufarbeitung der eigenen Verstrickung in den Nationalsozialismus keinen Epocheneinschnitt darstellte.

Die entscheidenden Impulse setzten 1933/34 die Vertreter einer kämpferischen Generation von zumeist jüngeren, von der Hitlerbewegung begeisterten politisierten Pfarrern und Universitätstheologen. Die Referenten haben daher auch die Sozialisationsbedingungen dieser um 1890 geborenen Leitfiguren untersucht, die geprägt worden waren durch das Wilhelminische Reich, die Jugendbewegung, den Nationalkonservativismus und das Weltkriegserlebnis. Der ungeliebte Weimarer Staat war für viele von ihnen eine „Republik der Gottlosen“. Umkehr verhieß ihnen der von Gott gesandte Führer. Dass die von diesen Leitfiguren Repräsentierten, das Kirchenvolk also, in ihrer Mehrheit diesen Kurs für gut befanden, weist auf einen Konsens zwischen „oben“ und „unten“. Nur auf diesem Wege lässt sich begreifen, warum der deutsche Protestantismus sich als so offen und aufnahmebereit für den Nationalsozialismus und somit als eine seiner gesellschaftlichen Haupteinbruchsstellen erwies. So vertritt Gailus im Hinblick auf vergleichende Studien die These, „dass kein anderes der großen Sozialmilieus so offen und aufnahmebereit für nationalsozialistische Politik und Weltanschauung war wie gerade das protestantische.“ (S. 18) An den Kirchenwahlen von 1933, die fast überall eine fünfundsiebzig- bis neunprozentige Mehrheit für die dem Nationalsozialismus zujubelnden Deutschen Christen (DC) brachten, demonstrieren die Verfasser das, was Gailus (S. 518) die „protestantische Selbsttransformation“, eine „fast kampflose protestantische Selbstpreisgabe“ an den Nationalsozialismus nennt.

Erst die Ausbildung einer innerkirchlichen Opposition, durch den Pfarrernotbund, die Bekenntnisbewegung und am markantesten durch die „Bekennende Kirche“ (BK) brachte diese politische Inbesitznahme der Kirche zum Stehen. Es ist aber ein gravierendes Missverständnis, in der 1934 einsetzenden innerkirchlichen Konfrontation eine Opposition gegen den Nationalsozialismus zu sehen. Der von 1945 an verwendete Terminus „Kirchenkampf“ ist daher mehrdeutig und missverständlich, weil er inhaltlich nicht den Kampf der Kirche gegen die Diktatur bezeichnen kann. Außerdem hatte, wie der Bochumer Theologe Peter Noss (indem er Wilhelm Niesel zitiert) in seinem Beitrag über die Kirchenprovinz Westfalen (S. 226) feststellt, der Kirchenkampf längst vor dem Jahr 1933 begonnen, dann nämlich, als der reformierte Theologe Karl Barth 1930 „die Kirche zur Sache rief.“ Unter Barths maßgeblichem Einfluss stand auch die Barmer Bekenntnissynode vom 29. bis 31. Mai 1934. Hier in der Westfälischen Kirche wurden mehrere mutige Bekenner Opfer der Gewalt: Diese Wenigen können das Versagen der Mehrheit nicht kompensieren, sie verdienen aber um der Glaubwürdigkeit ihres Engagements und ihrer Botschaft erinnert zu werden.

Nacheinander werden „der Norden“ (S. 29-159), Preußen (S. 161-328), „die Mitte“ (S. 331-382) und „Süd und Südwest“ (S. 385-508) vorgestellt. Drei Typen der Reaktion protestantischer Regionalkulturen auf den Nationalsozialismus lassen sich unterscheiden: Vollkommenen nazifizierte Regionen wie Thüringen und Mecklenburg, „gespaltene“ Regionen, in denen DC und BK um den entscheidenden Einfluss und die mit ihm verbundenen Machtpositionen rangen, und so genannte „angepasste“ Regionen, die ein wenig euphorisch auch als „intakt“ gebliebene Kirchen bezeichnet werden: In Hannover, Bayern und Württemberg, aber wohl auch in Schleswig-Holstein wurde das kirchliche Leben nicht vorrangig von der Auseinandersetzung zwischen DC und BK bestimmt. Diese Landeskirchen verstanden es, sich der Vereinnahmung durch die „Reichskirche“ und ihres „Reichsbischofs“ Ludwig Müller, einer nationalsozialistischen Kreation zur Eroberung der Kirche, zu entziehen, indem einflussreiche eigene Exponenten als Landesbischöfe den Kurs bestimmten: in Hannover August Marahrens (S. 119), in Bayern Hans Meiser (S. 430) und in Württemberg Theophil Wurm (S. 459), dargestellt durch Gerd Lindemann, Björn Mensing und Jörg Thierfelder.

Jedem dieser drei Kirchenmänner gelang es, gestützt auf die „Basis“ des Kirchenvolks und den kirchlichen Mittelbau eine Gegenbastion, nicht gegen die nationalsozialistische Diktatur, wohl aber gegen die Instrumentalisierung durch eine „Reichskirche“, aufzubauen. – „Krieg“ und „Kampf“ waren dagegen (Thomas A. Seidel) die Zentralmetaphern des in Thüringen obsiegenden Nationalprotestantismus (S. 333), der durch Martin Sass, einen glühenden Antisemiten und Gefolgsmann Hitlers, den Kampf gegen das Judentum und für den „biologischen Neuaufbau“ Deutschlands aufnahm und darüber hinaus die Verbrechen der Reichspogromnacht argumentativ rechtfertigte (S. 337). In seinem Einflussbereich arbeitete das 1939 gegründete Eisenacher „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche Leben“. Diese odiöse Institution stand in enger Verbindung mit einer der kleinsten Landeskirchen, der des damaligen Stadtstaates Lübeck (S. 66-67). Der Lübecker Pfarrer Karl Friedrich Stellbrink wurde, verhaftet wegen seiner mutigen Predigt nach dem Bombenangriff am Palmsonntag 1942, zum einzigen Märtyrer der Nordelbischen Kirche. Mit Landesbischof Franz Tügel hatte auch im Stadtstaat Hamburg ein überzeugter Antisemit und nationalsozialistischer SA-Mann das Sagen. Seine opportunistische Kirchenpolitik charakterisiert der Hamburger Privatdozent Rainer Hering (S. 93) mit einem Ausspruch des regimekritischen Hamburger Pastors Walter Windfuhr vom 1. September 1933: „In dem Augenblick, als die SA durch das Turmportal einzog, floh Gott hinten aus der Sakristeitür. Nun hat er sich in die Synagoge zurückgezogen als in die einzige gottesdienstliche Stätte, wo das Hakenkreuz nicht regiert.“

Der Herausgeber Manfred Gailus stellt in seinem Beitrag zu den „Berliner Kirchenverhältnissen 1930 bis 2000“ (S. 172) geradezu exemplarisch dar, wie in den Landeskirchen nach 1945 der Umgang mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit gehandhabt wurde: „zögerlich, unsystematisch, hinhaltend, widerwillig, diskret abgeschirmt gegenüber der politischen Öffentlichkeit, mit zahlreichen Hintertüren für die zunächst Betroffenen“. Nach einer opportunistischen Pause des Untertauchens und Untergetauchtwerdens waren die Aktiven und Einflussreichen von gestern wieder in Ämtern von morgen. Persönlich keineswegs daran interessiert, das eigene Mittun aufzudecken, haben diese Kirchenmänner entscheidend dazu beigetragen, dass die Kirche ihre Symbiose mit dem Nationalsozialismus über mehr als drei Jahrzehnte nicht aufgearbeitet hat. Von eigenem Verschulden war nicht die Rede, Schulderklärungen wurden umgangen oder waren ausweichend (S. 125, 126, 86, 311, 532), Entnazifizierung fand so gut wie nicht statt, das Verhältnis zum Judentum blieb ein Tabu. (S. 442, 445). Die „nationalistische Gefangenschaft“ (S. 434) der Kirche hat also den Einschnitt von 1945 weit überdauert. Die Rheinische Kirche begann bereits 1965 mit einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden und benannte vier theologische Eckpunkte dieser Erneuerung (S. 324): Die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes, Gemeinsamkeiten von jüdischer und christlicher Religion, das Schuldigwerden der christlichen Kirche und den Verzicht auf die Judenmission.

Interdisziplinäre Forschungsansätze, so Manfred Gailus (S. 21-22) müssen sich aus den überkommenen, zu engen Forschungstraditionen (Theologie, Kirchengeschichte oder Geschichte von Institutionen) lösen mit dem Ziel, eine „Kulturgeschichte des Protestantismus“ zu erarbeiten. Dazu gehören Traditionen, historische Bedingungen, gesellschaftliche Verhältnisse und Mentalitäten. Dabei sind sowohl der Beitrag der Kirche zur Nazifizierung als auch der kirchliche Widerstand gegen den Nationalsozialismus aufzugreifen, besonders aber die Frage, was denn die Kirche selbst nach 1945 getan oder unterlassen hat, ihre Geschichte kritisch und professionell aufzuarbeiten. Auch mit wachsendem Zeitabstand lässt uns also das Thema Nationalsozialismus nicht los. Das Umschlagbild zeigt einen Sozialpfarrer und Sippenforscher nach der Einsegnung von Hitlerjungen 1935, andere Abbildungen illustrieren den Text unter anderem mit den Bildern von Führungspersonen wie Halfmann (S. 28), Tügel (S. 78), Marahrens und Lilje (S. 114), Niemöller (S. 384). Ein Register der Autoren/in – unter ihnen nur eine Frau – (S. 539) und ein ausführliches Personenregister (S. 540-550) runden dieses wichtige Buch ab.

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